Samstag, 18. August 2012

Des Menschen Rechfertigung KD IV,1 §61 - Leseprobe - in KD Studienausgabe "Blauwal" Bd.23, KD "Weißwahl" Bd.9

es handelt sich im Folgenden um eine "Leseprobe", Formatierung und Übersetzung fremdsprachlicher Zitate und Ausdrücke fehlen, was allerdings in der Studienausgabe gegeben ist, falls mensch sich zu einer Anschaffung derselben durchringt .... ansonsten gibt es eine kostenfreie Leselizenz für The Digital Karl Barth Library bei nationallizenzen
es handelt sich im Folgenden um äußerst wichtige Ausführungen zu Gottes Gerechtigkeit in Jesus Christus unserm Herrn und Gott unserm Vater, und um es des Menschen Rechtfertigung vor Gott in Jesus Christus unserm Herrn und Gott unserm Vater: "Christus ist uns gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung", "er, der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt wurde." "Denn alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und Amen in ihm, Gott zu Lobe durch uns."
Wir wissen aber, so unser irdisch Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott erbauet, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel.
Und über demselbigen sehnen wir uns auch nach unserer Behausung, die vom Himmel ist, und uns verlanget, daß wir damit überkleidet werden,
So doch, wo wir bekleidet und nicht bloß erfunden werden.
Denn dieweil wir in der Hütte sind, sehnen wir uns und sind beschweret, sintemal wir wollten lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf daß das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben.
Der uns aber zu demselbigen bereitet, das ist Gott, der uns das Pfand, den Geist gegeben hat.
Wir sind aber getrost allezeit und wissen, daß, dieweil wir im Leibe wohnen, so wallen wir dem Herrn.
Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.
Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, außer dem Leibe zu wallen und daheim zu sein bei dem Herrn.
Darum fleißigen wir uns auch, wir sind daheim oder wallen, daß wir ihm wohlgefallen.
Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nachdem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse.
Dieweil wir denn wissen, daß der Herr zu fürchten ist, fahren wir schön mit den Leuten; aber Gott sind wir offenbar. Ich hoffe aber, daß wir auch in eurem Gewissen offenbar sind.
Daß wir uns nicht abermal loben, sondern euch eine Ursache geben, zu rühmen von uns, auf daß ihr habet zu rühmen wider die, so sich nach dem Ansehen rühmen und nicht nach dem Herzen.
Denn tun wir zu viel, so tun wir's Gott; sind wir mäßig, so sind wir euch mäßig.
Denn die Liebe Christi dringet uns also, sintemal wir halten, daß, so einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben.
Und er ist darum für sie alle gestorben, auf daß die, so da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.
Darum von nun an kennen wir niemand nach dem Fleisch; und ob wir auch Christum gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr.
Darum, ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu worden.
Aber das alles von Gott, der uns mit ihm selber versöhnet hat durch JEsum Christum und das Amt gegeben, das die Versöhnung prediget.
Denn Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
So sind wir nun Botschafter an Christi Statt; denn Gott vermahnet durch uns. So bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott!
Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.

2.Korinther 5


 ein bißchen Zimt zur Speise:


-- 573 --
§ 61
DES MENSCHEN RECHTFERTIGUNG

Das dem menschlichen Unrecht zum Trotz im Tode Jesu Christi aufgerichtete und in seiner Auferstehung proklamierte Recht Gottes ist als solches der Grund eines neuen, ihm entsprechenden Rechtes auch des Menschen. In Jesus Christus dem Menschen zugesprochen, verborgen in Ihm und in Ihm einst zu offenbaren, ist es keinem Ersinnen, Erstreben und Vollbringen irgend eines Menschen zugänglich. Es ruft aber seine Wirklichkeit nach eines jeden Menschen Glauben als der ihm schon jetzt gemäßen Anerkennung, Besitzergreifung und Betätigung.
1. DAS PROBLEM DER RECHTFERTIGUNGSLEHRE
Das Ereignis des Todes Jesu Christi ist der Vollzug des Gerichtes Gottes: des gnädigen Gottes, der in der Dahingabe dieses seines Sohnes an unserer Stelle und – wieder an unserer Stelle – in dessen demütigem Gehorsam die Welt mit sich selber versöhnte, den Menschen als sein Geschöpf seiner gen Himmel schreienden Sünde zum Trotz noch einmal, erst recht und endgültig bejahte, seine Treue gegen ihn bestätigte, seinen Bund mit ihm durchführte. Und es ist das Ereignis der Auferstehung Jesu Christi die Offenbarung des Urteils Gottes, das in diesem Gericht zur Vollstreckung kommt: des freien Beschlusses seiner Liebe und also der Gerechtigkeit dieses Gerichtes – der Gerechtigkeit des Vaters in jener Dahingabe des Sohnes, der Gerechtigkeit des Sohnes in dessen demütigem Gehorsam, der Gerechtigkeit, die in diesem Gericht auch dem Menschen und gerade dem Menschen widerfahren ist.
Und nun hat das im Tode Jesu Christi vollzogene Gericht Gottes einen doppelten Sinn und so auch das in seiner Auferstehung offenbarte Urteil, das in jenem zur Vollstreckung kommt. Sein Sinn ist negativ, sofern es das Gericht und Urteil des dem Menschen gnädigen Gottes ist, das Brennen, die verzehrende Hitze, das blendende Licht seines Zornes über den ihm und damit auch sich selbst untreuen, den verkehrten, den sündigen Menschen. Sein Sinn ist positiv, sofern es das Gericht und Urteil des dem Menschen in Güte, Barmherzigkeit, Gnade zugewendeten Gottes ist: seine Entscheidung und Kundgebung zu seinen Gunsten, für ihn, das Werk seiner Errettung, sein Machtwort: Stehe auf und wandle! Man kann
-- 574 --
auch sagen: es hat einen negativen Sinn, sofern Gott in jenem Gericht und Urteil sich selbst (zu des Menschen Heil!) treu bleibt und als treu bekennt – einen positiven, sofern er sich in demselben Gericht und Urteil (zu seiner eigenen Ehre!) als dem Menschen treu bewährt und kundgibt. Man kann auch sagen: einen negativen Sinn, sofern sich sein Gericht und Urteil auf des Menschen eigenes Sein, Handeln und Verhalten bezieht, sofern er es in ihm ganz und gar mit dem Menschen der Sünde, mit seinem Hochmut und Fall zu tun hat – einen positiven, sofern Gott dabei über alles eigene Sein, Handeln und Verhalten des Menschen hinaus darauf zurückgreift, daß dieser als sein Geschöpf und erwählter Bundesgenosse in Wahrheit von Ewigkeit her und also unveränderlich sein, Gottes, Eigentum ist: zurückgreift auf sein eigenes und also unveränderliches Wollen, Planen und Beschließen und vorausgreift nach dem Ziel, das dem Menschen, seinem Sein, Handeln und Verhalten als Mensch der Sünde zum Trotz, darum unveränderlich gesteckt ist, weil er, Gott, es ihm gesteckt hat. Man kann und muß von dem in Jesu Christi Tod vollzogenen Gericht und in seiner Auferstehung offenbarten Urteil Gottes auch darum jenes Doppelte sagen, weil es sich in diesen beiden Ereignissen um den Vollzug und die Offenbarung der göttlichen Verwerfung des erwählten und um die göttliche Erwählung des verworfenen Menschen handelt. In dem unauflöslichen Zusammenhang und in der unumkehrbaren Folge dieses Geschehens ereignete sich in Jesus Christus die Versöhnung der Welt mit Gott.
Von dem Vollzug des göttlichen Gerichtes in der Erniedrigung und im Gehorsam des Sohnes Gottes bis zum Tode und von der österlichen Offenbarung des in ihm vollstreckten Urteils als solchem haben wir im ersten – im engeren Sinn christologischen – Teil dieser Darstellung (§ 59) geredet.
Und nun kommen wir (§ 60) her von der Entfaltung des negativen Sinnes des im Tode Jesu Christi vollstreckten göttlichen Urteils: Im Spiegel des für uns dahingegebenen und als dieser Dahingegebene gehorsamen Jesus Christus wird offenbar, wer wir sind: wir als die, für die er dahingegeben wurde, sich selbst gehorsam dahingegeben hat. Im Licht der Demut, in deren Bewährung er als wahrer Gott für uns gehandelt, d. h. gelitten hat und gestorben ist, sind wir durchschaut, erkannt und haben wir uns selbst zu erkennen als die Hochmütigen, die sich selbst Gott, Herr, Richter, Helfer sein wollen, die als solche von Gott abgewichen und also Sünder sind: Gottes Feinde, weil ihm feindlich gesinnt, Wähler des Nichtigen und eben damit dem Nichtigen verfallen, Schuldige, die sich selbst nicht entschuldigen können, und also Verworfene und, weil Verworfene, darum Verlorene. Das ist das Urteil, das im Tode Jesu Christi als dem Gerichte Gottes vollstreckt wurde: wir sind diese Hochmütigen, ich bin dieser Mensch der Sünde – und eben dieser Mensch der Sünde und also ich selbst bin (in der Kraft der Dahingabe und des Gehorsams Jesu Christi
-- 575 --
an meiner Stelle) ans Kreuz geschlagen, getötet, und also abgetan und erledigt; ich bin als der dem Nichtigen Zugewendete im Tode Jesu Christi zunichte gemacht. Das ist – genauer gesagt – der negative Sinn des in jenem Gericht vollstreckten Gottesurteils.
Wir werden ihn, auch wenn wir nun seinen positiven Sinn zu entfalten haben, nicht aus den Augen verlieren dürfen. Er ist laut der Auferstehung Jesu Christi von den Toten gültige Offenbarungswahrheit genau so wie sein positiver Sinn. Eben als der für uns Gekreuzigte und Gestorbene ist ja Jesus Christus von den Toten auferstanden, lebt und regiert er in Ewigkeit. Daß ihm an unserer Stelle – und daß in Ihm als unserem Stellvertreter uns selbst – dieses Getötet-, Abgetan- und Erledigtwerden widerfahren ist, das hört, indem es ein für allemal geschehen ist, in keiner Gegenwart auf, in Ihm und so auch für uns wahr zu sein. Nur indem er den Tod – unseren Tod – für uns erlitten hat, hat er für uns auch das getan, was unser Leben aus dem Tod begründet. Und so können wir auch nicht die sein, für die er das getan hat, ohne die zu sein, für die er Jenes erlitten hat. Erwählung des verworfenen Menschen geschah schon in Gottes ewigem Ratschluß nicht ohne Verwerfung des erwählten Menschen: als Jesu Christi Erwählung zu unserem Haupt und Stellvertreter nicht und so auch nicht als unsere, der von Ihm Vertretenen Erwählung. So besteht auch der positive Sinn des in jenem Gericht vollstreckten Urteils nur zusammen mit dessen negativem Sinn, in dessen Folge und auf ihn bezogen. Lebt Jesus Christus der Gekreuzigte und leben in Ihm und mit Ihm auch wir, so gilt das in seiner Auferstehung offenbare Urteil Gottes in Ihm und also für uns auch in jenem negativen Sinn. Und so ist und bleibt die Erkenntnis der Gnade Gottes und des aus ihr fließenden Trostes in diesem Urteil und also die Erkenntnis seines positiven Sinnes gebunden daran, daß wir nicht aufhören, uns auch als die in Ihm Verurteilten zu erkennen.
Indem wir uns jetzt seinem positiven Sinn zuwenden, betreten wir den besonderen Bereich der Lehre von der Rechtfertigung. Was hier zu sagen ist, ist dies: daß es wirklich so ist, daß Gott uns in demselben Gericht, in welchem er uns als Sünder anklagt, verurteilt und in den Tod gibt, freispricht und freistellt zu einem neuen Leben vor ihm und mit ihm. Und was hier zu zeigen ist, ist dies: daß das möglich ist, daß das zusammenbestehen und sich folgen kann: unsere wirkliche Sünde und unsere wirkliche Freiheit von ihr, unser wirklicher Tod und unser wirkliches Leben jenseits dieses Todes, der wirkliche Zorn Gottes gegen uns und seine wirkliche Gnade und Barmherzigkeit, der Vollzug unserer wirklichen Verwerfung und der unserer wirklichen Erwählung. Es geht um die Geschichte, in der der Mensch Beides ist: verworfen und erwählt, unter Gottes Zorn und in Gnaden von ihm angenommen, getötet und lebendig – wie der Mensch nämlich in diesem Übergang existiert: nicht nur hier,
-- 576 --
sondern von hier nach dort, aber auch nicht nur dort, sondern von hier nach dort, Gottes Nein im Rücken, Gottes Ja vor sich, aber Gottes Ja nicht vor sich, ohne Gottes Nein hinter sich zu haben. Diese Geschichte, die Existenz des Menschen in diesem Übergang und also in dieser doppelten Gestalt ist Gottes Gericht in seinem positiven Charakter als des Menschen Rechtfertigung.
Die Rechtfertigungslehre erzählt nicht nur, sondern sie erklärt diese Geschichte. Sie ist der Versuch, das in Gottes Gericht vollstreckte Urteil, das uns in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten offenbar ist, nunmehr in diesem seinem positiven Sinn einzusehen und zu verstehen.
Der Begriff des Rechtes ist das formale Prinzip der hier zu gebenden Erklärung. Er kann nur ihr formales Prinzip sein. Und was «Recht» hier bedeutet, kann sich nur aus der in Frage stehenden Sache, aus der hier zu erklärenden Geschichte ergeben. Gottes Urteil, wie es in Gottes Gericht vollstreckt und von Gott offenbar gemacht ist, ist die in Frage stehende Sache. Aus ihr ist abzulesen, was hier «Recht» ist. Nach dem Begriffe des Rechtes zu greifen, ist uns aber eben damit, daß es sich um Gottes Urteil und Gericht handelt, nahegelegt. Die Bibel selbst gibt ihn uns ja in diesem Zusammenhang an die Hand, und die Kirche hat ihn, wenn es in ihrer Verkündigung und Theologie um diese Sache ging, von jeher aufgenommen: manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Vorsicht gegenüber sachfremden – dieser Sache fremden – Bedeutungen dieses Begriffs, manchmal verschlossener, manchmal aufgeschlossener für die Bedeutung, die er in seiner Anwendung auf diese Sache bekommen und haben muß.
Es geht darum, zu erklären, daß und inwiefern es in jener Geschichte, bzw. in dem dieser Geschichte zugrunde liegenden Urteil Gottes über den Menschen mit rechten Dingen zugeht: um den Aufweis des Rechtes Gottes, der da dem Menschen Recht gibt – und des Rechtes, das da dem Menschen von Gott gegeben wird. Der tief problematische Punkt in dieser Geschichte ist offenbar des Menschen notorisches Unrecht: Er ist ja gerade Gott gegenüber – und um deswillen gerade von Gott angeklagt, verurteilt und gerichtet – im Unrecht. Er ist ja der homo peccator, und er hört auch in jener Geschichte durchaus nicht auf, der homo peccator zu sein. Wie kann er im selben Urteil Gottes und also auch in derselben Geschichte der homo iustus sein, vor Gott – gerade in Gottes Urteil und Gericht ernstlich und ganz unrecht und nun dennoch, vor demselben Gott, im gleichen Urteil und Gericht Gottes, ernstlich und ganz recht bekommen und haben, simul peccator et iustus sein? Und wie soll Gott seinerseits (er der wissende und heilige Richter über Gut und Böse!) dem Menschen Recht geben, da dieser doch vor ihm im Unrecht, durch ihn selbst ins Unrecht gesetzt ist? Inwiefern handelt, redet, bewährt und beweist sich Gott in solcher Rechtfertigung des Menschen – dieses Menschen! – als Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, in welchem kein Widerspruch, keine Willkür, keine Unordnung waltet, keine Paradoxie, keine Finsternis, sondern nur Licht ist? Inwiefern behauptet und wahrt er in solcher wunderlichen Rechtfertigung seine Gerechtigkeit als Schöpfer gegenüber seinem
-- 577 --
Geschöpf und als Herr seines Bundes mit dem Menschen? Inwiefern ist der Gegensatz, in welchen sich der Mensch Gott gegenüber begeben hat, in solcher ihm von Gott zuteil werdenden Rechtfertigung ernst genommen und gerade damit ernstlich überwunden? Inwiefern ist solche Rechtfertigung kein schwaches Übersehen, keine bloße Vernebelung des menschlichen Hochmuts und Falls, kein nominalistisches «Als ob» – das sich mit Gottes Wahrhaftigkeit nicht vertrüge, mit dem aber auch dem Menschen nicht wirklich geholfen sein könnte – sondern Gottes ernstlicher Widerspruch und kräftiger Widerstand gegen des Menschen Hochmut und also des gefallenen Menschen reale Errettung? Wie kann Gott in solcher Rechtfertigung sich selber und nun doch auch dem Menschen – dem Menschen und darum vor allem sich selber! – effektiv treu sein? Wie kann er den Menschen in Wahrheit richten und ihm eben darin gnädig sein, und darin wahrhaft gnädig sein, daß er ihn richtet? – Das ist das Problem der Rechtfertigungslehre, deren Entfaltung wir uns nun zuzuwenden haben.
Schon ein solcher andeutender Umriß der Frage, auf die hier zu antworten ist, dürfte genügen, um auf die besondere Wichtigkeit der Sache aufmerksam zu machen. Es geht um die Echtheit der Voraussetzung, der inneren Möglichkeit der Versöhnung der Welt mit Gott, sofern diese in einer völligen Veränderung der menschlichen Situation, nämlich in einer von Gott gewollten und vollzogenen Umkehrung des sündigen Menschen zu ihm hin besteht. Die christliche Gemeinde als die Gemeinde, durch die diese Veränderung der Welt verkündigt, weil sie in ihr erkannt und geglaubt wird, kommt von dieser Voraussetzung her und so in der Gemeinde der Glaube jedes einzelnen Christen. Die christliche Gemeinde und der christliche Glaube stehen und fallen also damit: Es ist wirklich so, daß der heilige Gott zwischen sich und dem sündigen Menschen in Bestätigung und Wiederherstellung des von diesem gebrochenen Bundes eine neue Gemeinschaft, den neuen, durch keine Übertretung des Menschen wieder zu zerstörenden oder auch nur zu störenden Bund aufgerichtet hat. Die Gemeinde ruht und bewegt sich auf diesem Grund, und der Glaube lebt von dieser Gewißheit, von der Wirklichkeit der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt mit Gott. Grund und Gewißheit für die Gemeinde und den Glauben kann es hier aber nur geben, wenn diese Wirklichkeit in sich wahr ist, und zwar göttlich, in unbedingter Klarheit wahr ist. Was nicht göttlich wahr wäre, das könnte auch nicht wirklich und also auch nicht «gründlich» und gewiß sein. Eben daß es hier um göttlich wahre Wirklichkeit geht, hängt aber daran, daß es bei jener Veränderung der menschlichen Situation in der Versöhnung – gerade indem sie das Werk der Gnade und Barmherzigkeit Gottes ist – mit rechten Dingen zugeht, daß da – wie wunderlich sie uns erscheinen mag – echte Rechtfertigung stattfindet, d. h. daß da sowohl das Recht Gottes, der dem Menschen Recht gibt, als auch das Recht, das da dem
-- 578 --
Menschen von Gott gegeben wird, rechtes, unanfechtbares Recht ist. Wäre dem nicht so, wäre hier nicht das unanfechtbare göttliche Recht und wäre hier nicht doch (bei aller Verschiedenheit) auch unanfechtbares menschliches Recht – auf dem Plan, wie sollte dann die Umkehrung des Menschen zu Gott hin wahr und wie sollte sie dann wirklich sein? Die christliche Gemeinde hätte sich dann auf die Hypothese zu begründen, daß diese Umkehrung und also der Friede zwischen Gott und Mensch wohl wahr und wirklich sein könnte und die Gewißheit des christlichen Glaubens auf die Vermutung, daß diese Hypothese wohl mehr als eine Hypothese sein möchte. Und gäbe es keine Erkenntnis der hier waltenden Gerechtigkeit Gottes, oder Erkenntnis nur in Form von Verkennung, getrübt und entstellt durch teilweise oder gänzliche Mißverständnisse, wie könnte dann die Gemeinde dem Irrtum und Zerfall und der Glaube dem Zweifel, der Auflösung in allerlei Unglauben und Aberglauben entrinnen? Die Aufgabe der Rechtfertigungslehre ist der Aufweis der in der versöhnenden Gnade Gottes waltenden Gerechtigkeit, eben damit aber auch der Aufweis der gerade in Gottes Gerechtigkeit wahr und wirksam waltenden Gnade, und eben so die Auffindung zuverlässiger Antwort auf die Frage: Was ist Gott für den sündigen Menschen? und was der sündige Mensch vor dem Gott, der für ihn ist? Mit der Antwort auf diese Frage steht und fällt der Grund der Gemeinde, die Gewißheit des Glaubens. Die Rechtfertigungslehre unternimmt es, Antwort zu geben auf die Frage nach dieser Voraussetzung. Darin besteht ihre Wichtigkeit, darin ihre besondere theologische Notwendigkeit.
Eben ein noch so kurzer Blick auf ihr Problem zeigt nun freilich auch die besondere Schwierigkeit dieser Lehre. Die süße Frucht befindet sich hier wirklich in einer außergewöhnlich harten und bitteren Schale. Man befindet sich hier als Theologe schon mit dem kleinsten Schritt in irgend einer Richtung in einem außergewöhnlichen Gedränge. Wo kann und soll man hier zu denken anfangen und wo dann auch aufhören? Kann man die beiden Grundbegriffe «Gnade» und «Recht» jeden für sich streng genug nehmen? Und kann man sie wieder streng genug aufeinander beziehen, die Erklärung des einen streng genug in dem anderen suchen? Welche Gesichtspunkte müssen dabei in den Vordergrund, welche anderen ebenso notwendig in den Hintergrund gedrängt werden? Wie kann man es verhindern, daß hier nicht Alles wie ein Haufe von auf ihre Spitze gestellten Kegeln durch- und auseinanderfällt? Aber das sind gewissermaßen technische Fragen, mit denen man allenfalls fertig werden könnte, wären sie nur nicht die Exponenten der noch viel bedrängenderen Frage: Wie kommt man denn selber dazu, in dieser Sache nicht nur irgend etwas, sondern das Richtige, das ihr Entsprechende zu denken und auszusprechen? Kennt man denn jene Voraussetzung und also das, was hier so oder so zu bestimmen und zu formulieren ist? Weiß man denn selber um den
-- 579 --
Grund der Gemeinde, die Gewißheit des Glaubens und also um Gottes Gnade und Gerechtigkeit in ihrer Einheit und also um das, was hier aufzuweisen ist? Kennt man denn Gott in dem einen und doppelten Geheimnis seines Tuns, das hier zu erzählen und zu erklären ist? Woher nimmt man das Licht, das dazu nötig ist? Und kennt man denn sich selbst als den Menschen, der Gott in diesem Geheimnis seines Tuns gegenübersteht? Wieviel schwerste Verantwortlichkeiten hat man hier bei jedem Satz auf sich zu nehmen, wieviel Versuchungen zur Linken und zur Rechten als solche zu erkennen und abzuwehren, wieviel Mißverständlichkeiten zu vermeiden, wieviel Bindung und wieviel Freiheit ist hier unerläßlich: wieviel Aufmerksamkeit auf den verpflichtenden Rat derer, die vor uns über diese Sache nachgedacht haben, und wieviel Aufmerksamkeit auf das noch viel verpflichtendere Wort Gottes im Zeugnis seiner Propheten und Apostel, wieviel Entschlossenheit, sich an das, was uns von des Menschen Rechtfertigung tatsächlich gesagt ist, wirklich zu halten und es allen noch so naheliegenden Zweifeln und Einwänden gegenüber unbekümmert nachzusagen! Wer ist hier Sachkenner? Und was hülfe dem, der das nicht ist, alles noch so getreue Nachsagen kirchlicher und auch biblischer Theologie, alle noch so originelle eigene Theoriebildung? Das Problem der Rechtfertigungslehre ist für jeden, der sich mit ihr beschäftigt, erstlich und letztlich das Problem des Faktums seiner eigenen Rechtfertigung. Wer dürfte, auch wenn er sein Bestes getan hätte, je der Meinung sein, mit dieser Sache auch nur annähernd fertig zu sein, zu ihrer Erklärung auch nur ein vorletztes Wort gesprochen zu haben?
Martin Luther, der an dieser Stelle vielleicht doch mehr gearbeitet, gelitten und vor allem auch gebetet hat als alle, die in der nachapostolischen Zeit vor ihm waren und nach ihm kamen, war jedenfalls nicht dieser Meinung. Paulus selbst war es bestimmt auch nicht. Wir erinnern uns des prägnanten, fast überkühnen Satzes Röm. 11, 32, in welchem er das Geheimnis der Sünde und das Geheimnis der Gnade in ihrem Zusammenhang und in ihrer Folge in dem gerechten Urteil und Gericht Gottes zur Aussprache gebracht hat: «Gott hat Alle verschlossen in den Ungehorsam, um sich Aller zu erbarmen.» In unmittelbarem Anschluß daran folgt v 33 f.: «O, welche Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und wie unausdenkbar seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt und wer ist sein Ratgeber gewesen?» Ein Triumphieren über seine eigene, so weit vorgestoßene Erkenntnis ist das offenbar nicht, sondern das ist Anbetung angesichts der auch seinem Erkennen inkommensurablen Höhe der Sache und also jene Bescheidung auch gegenüber der höchsten eigenen Gnosis, von der er 1. Kor. 13, 9 f. in jenen Worten vom «Stückwerk», vom kindisch redenden, sinnenden, urteilenden Kind, vom Paradox des Spiegels ausdrücklich geredet hat. Aber hören wir Luther! Non est jocandum cum articulo iustificationis! schreibt er warnend: man könne am Beispiel des Petrus in Antiochien sehen, welch ungeheuerliche Zerstörung (ingentes ruinas) in dieser Sache ein einziger Lapsus oder Irrtum nach sich ziehen kann (zu Gal. 2, 12, 1535 WA 40, I, 201, 26). Die causa iustificationis sei nämlich lubrica (d. h. sie habe etwas leicht Entgleitendes und darum Unsicheres und Gefährliches) – nicht in und an sich, per se enim est firmissima et certissima, sed quoad nos: für uns, die wir sie erfassen wollen und von ihr reden sollen. Er, Luther, kenne die Stunden der Finsternis wohl, in denen ihm die Strahlen des Evangeliums und der Gnade in
-- 580 --
dichten Wolken verlorenzugehen drohten, und er kenne auch andere wohlgeübte und tapfere Streiter, denen es ebenso gehe. Sei es an sich ein gutes Zeichen, wenn jemand diese Lehre kenne und vorzutragen wisse, so sei es doch noch etwas Anderes, von ihr Gebrauch zu machen, in praesenti agone nämlich: wenn das Gesetz als Wort des Zornes, der Traurigkeit, des Todes, wenn vielleicht eine einzige mit Verdammung drohende Schriftstelle den Menschen trifft, ihn im Innersten erschüttert, allen Trost ihm wegnimmt, wenn dann auch die Vernunft gegen das Evangelium redet, wenn das Fleisch seine Wahrheit nicht begreifen kann und will. Kampf aus aller Kraft um die rechte Erkenntnis ist dann notwendig et ad hoc utatur humili oratione coram Deo et assiduo studio ac meditatione verbi. Et quanquam vehementissime decertaverimus, adhuc satistamen sudabimus, weil wir es wahrlich nicht mit verächtlichen, sondern mit den allerstärksten und zähesten Feinden zu tun haben, unter denen sich dann u. U. auch die ganze übrige Kirche befinden mag! (zu Gal. 1, 12 l. c. 128 f.). Und darum ein anderes Mal, wieder warnend: Haec dictu sunt facilia, sed beatus, qui ista probe nosset in certamine conscientiae (zu Gal. 2, 19 l. c. 271, 21). Und darum gleich am Anfang der praefatio zum Galaterbrief kommentar: nec tamen comprehendisse me experior de tantae altitudinis, latitudinis, profunditatis sapientia, nisi infirmas et pauperes quasdam primitias et veluti fragmenta (l. c. 33, 11).
Kein Zweifel, daß diese außergewöhnliche Schwierigkeit der Rechtfertigungslehre ihrerseits ein Indizium für ihre ganz besondere Funktion ist. Es geht in ihr um die Wende, die Wandlung, den Übergang der Existenz des gottlosen und also toten, in die Existenz des für Gott, vor ihm, mit und für ihn lebenden Menschen. Eben von diesem Übergang wird im Ganzen der Lehre von der Versöhnung noch mehr als einmal explizit die Rede sein müssen. Um ihn geht es auch in der Lehre von der Heiligung, auch in der Lehre von der Berufung, die wir im zweiten und dritten Hauptteil der Versöhnungslehre zur Sprache zu bringen haben. Und wo in der ganzen Versöhnungslehre und schließlich in der ganzen Dogmatik sollte es nicht indirekt auch um diesen Übergang gehen? Wo sollte sich also die Schwierigkeit, vor der wir hier stehen, nicht in irgend einem Maß auch geltend machen, das, was Luther so eindringlich dazu gesagt hat, nicht auch zu hören sein? Es gibt keinen Teilbereich der Dogmatik, keinen Locus, mit dem zu «spaßen» wäre! Es geht auf der ganzen Linie um das eine hohe Evangelium. Man kann und muß aber sagen, daß wir es in der Lehre von der Rechtfertigung insofern mit der ausgeprägtesten und insofern auch rätselhaftesten Gestalt jenes Übergangs zu tun haben, als es in ihr im Besonderen um die Frage nach seiner letzten Möglichkeit geht. Wir hörten: Wie kann, wie darf das sein, daß es zwischen dem heiligen Gott und dem sündigen Menschen einen – aus Gnaden, aber von Rechtswegen, und das völlig und genugsam – geschlossenen Frieden geben soll? Eben von der Krisis dieses Verhältnisses und von der hier fallenden Entscheidung wird später auch in der Lehre von der Heiligung und in der von der Berufung zu reden sein. Und eben die Krisis dieses Verhältnisses und die hier fallende Entscheidung ist so etwas wie der rote Faden, der sich durch alle Loci der Versöhnungslehre und sogar der ganzen übrigen Dogmatik hindurchzieht, der diese unsere Wissenschaft in irgend einem Maß überall dramatisch, aufregend, gefährlich – der sie zu der Wissenschaft macht, die,
-- 581 --
wie Luther ganz richtig gesehen hat, ohne demütiges Gebet und ohne ständige Aufmerksamkeit auf das Wort Gottes selbst gar nicht entstehen und bestehen kann. Es ist aber schon so, daß wir es in der Rechtfertigungslehre mit dem ursprünglichen Sitz dieser Krisis, insofern mit ihrer schärfsten Form, mit Vorbehalt gesagt: mit der Grundlagenkrisis des Ganzen zu tun haben. Zieht sie sich in den mannigfaltigsten Wiederholungen und Variationen durch das Ganze hindurch, so ist sie in Auseinandersetzung mit der sich hier besonders häufenden Schwierigkeit gewissermaßen thematisch zu visieren und zu behandeln – die Frage: wie kriege ich einen gnädigen Gott? – gerade um dann von da aus, auf der von hier auszuziehenden Linie in ihrer Auswirkung überall in angemessener Weise zur Geltung zu kommen.
Es ist darum an sich wohl verständlich, daß die Rechtfertigungslehre jedenfalls in bestimmten Gestalten der christlichen Theologie geradezu so etwas wie die Funktion eines Fundamental- und Zentraldogmas erhalten hat, im Verhältnis zu dem dann alles Andere nur noch Voraussetzung oder Konsequenz, Vorwort oder Nachwort sein soll: die Bedeutung des Wortes des Evangeliums.
Die Überlegung, die dazu anzustellen ist, geschieht auch in impliziter Auseinandersetzung mit Ernst Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie (Evang. Theol. 194950 S. 298 f.).
Als das Wort des Evangeliums hat bekanntlich vor allem wieder Luther die Rechtfertigungslehre ausgezeichnet und behandelt. Sie war ihm nicht nur das entscheidende Element, gewissermaßen der große Hebelarm der evangelischen Kontroverstheologie den Römischen gegenüber. Das war sie ihm allerdings auch, etwa im Sinn dessen, was in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 (Bek.-Schr. der ev.-luth. Kirche S. 415 f.) – sie heißt dort in diesem besonderen Sinn der primus et principalis articulus – zu lesen steht: «Von diesem Artikel kann man nichts zweifeln oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will . . . Auf diesem Artikel stehet Alles, was wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum müssen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist‚s Alles verloren und behält Bapst und Teufel und alle wider uns Sieg und Recht.» Schon die Zusammenstellung «Papst, Teufel und Welt» zeigt aber, daß es Luther nicht nur um die antirömische Polemik ging. In jener praefatio zum Galaterbrief von 1535 heißt es unmittelbar vor der vorhin angeführten Stelle: In corde meo iste unus regnat articulus, sc. fides Christi, ex quo, per quem et in quem omnes meae diu noctuque fluunt et refluunt theologicae cogitationes. Ea (doctrina) florente florent omnia bona, religio, verus cultus, gloria Dei, certa cognitio omnium statuum et rerum (l. c. 39). Dagegen im argumentum zu demselben Kommentar (l. c. 48, 28): Amisso articulo iustificationis amissa est simul tota doctrina christiana. Und zu Gal. 1, 3 (l. c. 72, 20): Iacente articulo iustificationis iacent omnia. Necesse igitur est, ut quotidie acuamus (quaemadmodum Moses de sua lege dicit) et inculcemus eum. Nam satis vel nimium non potest concipi et teneri. Es hat dieser eine Artikel (und nur er!) nach Luthers Erklärung von Gal. 2, 20 (l. c. 296, 23) die Kraft, alle Sekten, Wiedertäufer, «Sakramentierer» usf. zu widerlegen, indem sie alle sich eben an ihm verfehlen. Mehr noch: es ist die sententia de iustificatione, durch die sich das Christentum von allen anderen Religionen der Erde unterscheidet; soli enim christiani hinc locum credunt et sunt iusti non quia ipsi operantur, sed quia alterius opera apprehendunt, nempe passionem Christi (Schol. zu Jes. 53, 2 f., 1534, WA
-- 582 --
25, 329, 15; 330, 8). Und im selben Zusammenhang (l. c. 332): dieser Locus sei das fundamentum Novi Testamenti, ex quo tanquam ex patenti fonte omnes thesauri divinae sapientiae profluunt. Und so konnte Luther eine 1537 abgehaltene Disputation (WA 39, I, 205, 2) eröffnen mit den Worten: Articulus iustificationis est magister et princeps, dominus, rector et iudex super omnia genera doctrinarum, qui conservat et gubernat omnem doctrinam ecclesiasticam. Ohne diesen Artikel zu kennen und zu bedenken, werde die menschliche Vernunft auch den nichtigsten Irrtümern gegenüber wehrlos sein. Wogegen ein durch ihn gefestigtes Gemüt sämtlichen Anfechtungen widerstehen werde. Diesen prinzipiellen Erklärungen entspricht die beherrschende Rolle, die Luther der Sache in seinen eigenen Predigten und sonstigen Darbietungen zugewiesen hat. Die bekannte Bezeichnung der Rechtfertigungslehre: sie sei der articulus stantis et cadentis ecclesiae, scheint nicht von Luther selbst zu stammen, besagt aber genau das, was tatsächlich seine Meinung war. Er sah in ihr und nur in ihr den Punkt, in welchem es für ihn ums Ganze ging.
Das orthodoxe Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts hat seine Rechtfertigungslehre zwar – wir haben hier nicht zu untersuchen: ob verstanden oder unverstanden – von Geschlecht zu Geschlecht überliefert und respektvoll-getreulich zu reproduzieren versucht. Eine systematische Konsequenz, etwa hinsichtlich der Anordnung der Dogmatik, hat schon Melanchthon, haben auch die Späteren aus dem, was Luther über ihren Primat gesagt hatte, nicht gezogen. Sie haben wohl das schon nicht mehr verstanden, daß sie für Luther mehr war als unentbehrliche Kampf lehre, daß es ihm in dieser Sache nicht nur im Gegensatz zu Rom, sondern grundsätzlich ums Ganze ging. Man wird nicht übersehen dürfen, daß gewisse (freilich gerade nicht konfessionell lutherische) Außenseiter, wie Zinzendorf oder derßerner Samuel Lucius oder John Wesley, in dieser Hinsicht in Luthers Spur gingen: nur daß diese sich eben nicht theologisch-wissenschaftlich (im engeren Sinn des Begriffs) betätigt und geäußert haben. Wogegen es offenbar auf ein befremdliches Nachlassen des Interesses an dieser Sache hinweist und Luthers Mißbilligung sicher auf sich gezogen hätte, wenn die Rechtfertigungslehre in den dogmatischen Werken der lutherischen Spätorthodoxie, etwa in dem viel gelesenen Comp. Theol. pos. von W. Baier (1686, Prol. 1, 33) – aber an den entsprechenden Stellen auch bei Hollaz und Buddeus – unter die articuli fundamentales secundarii gerechnet wurde: mit der Begründung, es könne doch einer an Christus glauben und in diesem Glauben Vergebung seiner Sünden erlangen, auch wenn er nie über die iustificatio per solam fidem et non per opera nachgedacht habe! War es – nachdem sich die Fluten der moralistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts für eine Weile verlaufen hatten, eine Wiederentdeckung der Meinung und Intention Luthers oder eine zweifelhafte Neuentdeckung des modernen Geistes, wenn die Lehre dann in der deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts als das «Materialprinzip des Protestantismus» ausgerufen wurde? Ein weniger auf Theologie als auf Morphologie bedachter romantischer Historismus einerseits und eine unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie jetzt erst erwachte Lust zur spekulativen Systematik andererseits haben dabei sicher mitgewirkt. Eine faktische Parallelität dieser neulutherischen Bevorzugung der Rechtfertigungslehre zu jenen Sätzen Luthers selbst wird man immerhin nicht in Abrede stellen können. Nur daß es auch in dieser Zeit – vielleicht mit gewisser Ausnahme von M. Kähler – kaum jemand gewagt hat, die evangelische Dogmatik nun wirklich vom Zentrum der Rechtfertigungslehre her zu entwerfen und zu organisieren. Daß gerade das sowohl im alten wie im neuen Luthertum nicht geschehen ist, gibt immerhin zu denken.
Von einer Bestreitung der ganz besonderen Funktion der Rechtfertigungslehre kann natürlich keine Rede sein. Und es geht auch das in Ordnung, wenn diese ihre besondere Funktion in der Theologie bestimmter Zeiten – in bestimmter Situation bestimmter Gegnerschaft und
-- 583 --
Verdunkelung gegenüber – in besonderer Weise sichtbar, wenn sie dann tatsächlich als das Wort des Evangeliums geltend gemacht, in Angriff und Verteidigung als die theologische Wahrheit auf den Schild erhoben wurde. Es gab Zeiten, in denen es nicht nur erlaubt, sondern geboten war, das zu tun, sich also auf die Theologie des Galaterbriefs, des Römerbriefs (genauer gesagt der Kap. 1-8 dieses Briefes) zu konzentrieren.
Eine solche Zeit war die des Kampfes, den Augustin aufzunehmen hatte, als die gewisse unschuldige Werkgerechtigkeit der ersten christlichen Jahrhunderte in der Lehre des Pelagius und der Seinen notorisch aufhörte, unschuldig zu sein, als diese Lehre das Evangelium als Botschaft von der freien Gnade Gottes tatsächlich zu verfinstern drohte. Eine solche Zeit war natürlich die Zeit der Reformation, in der eben Luther das sakramentalistische und moralistische Mißverständnis der viel berufenen «Gnade» als den Mißbrauch aller in der mittelalterlichen Kirche eingerissenen Mißbräuche erkannte und zu überwinden sich aufmachte. Eine solche Zeit war auch die der «Erweckung» am Anfang des 19. Jahrhunderts mit ihrer wahrhaftig gebotenen Reaktion gegen die Säkularisierung des Heilsverständnisses in der Aufklärung, der gegenüber sich die nachreformatorische Orthodoxie – selber schon auf diesem Weg begriffen – als machtlos erwiesen hatte. Eine solche Zeit mag weithin auch unsere eigene Zeit sein: eine Zeit, in der wir angesichts des merkwürdigen humanistischen Religionismus, den uns das 19. Jahrhundert hinterlassen hat, und angesichts all des Ekklesiastizismus, Sakramentalismus, Liturgismus – aber doch auch Existentialismus! – unserer eigenen Tage froh genug waren und noch sein müssen, eben in der Rechtfertigungslehre das Kraut gewachsen zu finden, mit dem dem Allem zu begegnen ist.
Man tut aber in der Theologie gut, über die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Tages hinaus immer auch auf weitere Sicht zu denken, sich in allem noch so berechtigten Reagieren Maß zu auferlegen, sich der Grenzen der jeweils herrschenden «Anliegen» (mögen diese noch so echt und begründet sein!) bewußt zu bleiben. Und weil es uns hier um «kirchliche» und also um ökumenisch mindestens aufgeschlossene Dogmatik zu tun ist, werden wir es, nicht in Verleugnung, sondern gerade in Behauptung unserer evangelischen Position, auch in Sachen der Rechtfertigungslehre so halten müssen.
Sie war nun einmal auch in der Kirche Jesu Christi nicht immer und nicht überall das Wort des Evangeliums, und es würde einen Akt allzu krampfhafter und ungerechter Ausschließlichkeit bedeuten, wenn man sie als solches ausgeben und behandeln würde. Indem wir sie in ihrer besonderen Wichtigkeit, Schwierigkeit und Funktion zur Sprache und zu Geltung bringen, haben wir zu bedenken, daß sie sich immerhin nur auf einen besonderen Aspekt der christlichen Botschaft von der Versöhnung bezieht. Man kann und muß diese auch unter anderen Aspekten verstehen. Unter keinem freilich ohne explizite oder doch implizite Berücksichtigung gerade dieses Aspektes. Ohne die Wahrheit der Rechtfertigungslehre gäbe und gibt es gewiß keine wahre christliche Kirche. In dem Sinn ist sie allerdings der articulus stantis et cadentis ecclesiae, daß es ohne die Wahrheit dessen, was Gott laut ihres Zeugnisses für den Menschen getan hat und tut, und
-- 584 --
ohne daß sie in ihrem Leben und in ihrer Lehre irgendwie sichtbar wird, keine christliche Kirche gibt. Die formulierte Erkenntnis und Bezeugung dieser Wahrheit aber kann auch in der wahren Kirche Jesu Christi möglicherweise zurücktreten, ja mehr oder weniger verborgen sein hinter anderen Aspekten der christlichen Botschaft, ohne daß es deshalb richtig und geboten wäre, mit ihrer Abwesenheit zu rechnen, bzw. die Leugnung ihrer Wahrheit für gegeben und also die Einheit der Kirche für gesprengt zu halten. Wir werden, wo wir auf Realisierungen dieser Möglichkeit stoßen sollten, uns selbst und Andere an das, was dabei vielleicht vergessen, übersehen, verkannt ist, zu erinnern haben, werden uns aber auch unsererseits für die anderen uns selbst vielleicht neuen Aspekte der christlichen Botschaft aufgeschlossen halten müssen. Gerade des Menschen Rechtfertigung und gerade das Vertrauen auf die objektive Wahrheit der Rechtfertigungslehre verbietet uns das Postulat, daß ihr theologischer Vollzug in der wahren Kirche semper, ubique et ab omnibus als das unum necessarium, als die ganze Mitte oder als die einzige Spitze der christlichen Botschaft und Lehre angesehen und behandelt werden müsse.
Die Ansicht von A. Schweitzer und W. Wrede, wonach es sich in der Lehre von der δικαιοσύνη θεοῦ bzw. πίστεως bei Paulus nur um einen «Nebenkrater» seiner Verkündigung, d. h. eben nur um seine antijudaistische Kampflehre handle, dürfte zwar eine Übertreibung sein, aber eine solche war doch wohl auch die Luthers und des jüngeren Melanchthon, die in Paulus nichts als eben den großen apostolischen Lehrerder Rechtfertigung sehen wollten. Die Christologie des Paulus ist nicht nur ein Exponent seiner Rechtfertigungslehre. Und seine Anschauung von der korporativen und individuellen Gemeinschaft der Christen mit Christus, seine Röm. 9-11 entfaltete Anschauung des Verhältnisses von Kirche und Israel, seine Ethik haben nebenjener, ohne sich von ihr trennen zu lassen, ihre eigenen Wurzeln und Spitzen. Der Christus Jesus sei uns von Gott zur Weisheit gemacht worden: zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, liest man 1. Kor. 1, 30 und sieht sich offenbar in mindestens drei verschiedene Richtungen gewiesen. Und nun sind ja die Briefe des Paulus nicht das ganze Neue Testament. Hat man mit der bekannten Behauptung, daß es sich im Jakobusbrief geradezu um eine Bestreitung der paulinischen Rechtfertigungslehre handle, mindestens vorsichtig umzugehen, so kann doch kein Zweifel daran sein, daß sich nicht nur seine Botschaft, sondern auch die der synoptischen Evangelien, der johanneischen Schriften und der sonstigen Bestandteile des neutestamentlichen Zeugnisses mit der paulinischen Rechtfertigungslehre, so gewiß sie in ihr nicht ausgeschlossen ist, so gewiß man sie in ihr weithin eingeschlossen finden kann, nicht einfach zur Deckung zu bringen ist.
Die Kirche der ersten Jahrhunderte lebte, wie schon berührt, in einem naiven Pelagianismus (wie sie ja gleichzeitig weithin auch in einem naiven Adoptianismus oder auch Sabellianismus gelebt hat); sie kannte jedenfalls keine explizite Rechtfertigungslehre. Per nefas und zu ihrem Schaden! mag man sagen. Man wird sich aber, wenn man sie deswegen tadeln oder beklagen will, immerhin vor Augen halten müssen, daß es sich um die Kirche und Theologie der Christenheit der Märtyrerjahrhunderte handelte, die offenbar auch ohne Rechtfertigungslehre wußte, was sie an ihrem Glauben hatte, für die die Wahrheit dieser Lehre offenbar auch ohne daß sie sich darüber begrifflich im Klaren war, in Geltung stand. Ähnliches ist auch nachher von der ganzen Kirche griechischer Sprache und Überlieferung und dann von der Kirche und Theologie des Ostens überhaupt zu sagen. Die bei Augustin anhebende Ausbildung der Rechtfertigungslehre war eine
-- 585 --
spezifisch abendländisch-christliche Angelegenheit. Der viel weniger in dem Gegensatz von Sünde und Gnade als in dem von Leben und Tod, bzw. in dem zwischen dem vergänglichen und dem unvergänglichen Leben, denkende und an dem Problem des Rechtes – aber auch sachlich: an der Frage der Möglichkeit und Begründung eines positiven Verhältnisses zwischen Gott und Mensch – viel weniger interessierte Osten hat sich in diesem Bereich (gewiß nicht, ohne daß das für ihn seinerseits eine gewisse Beschränktheit bedeutete) mit dem Nötigsten begnügt.
Zur geradezu brennenden Frage ist die Rechtfertigungslehre doch auch im Westen erst durch die Reformation, und genauer gesagt: in dem bohrenden deutschen Geist eben Luthers geworden. Sie – aber wiederum doch nicht nur sie – hat dann das Gesicht des Protestantismus in seinem Verhältnis zur alten Kirche geprägt. Nicht nur sie: man beachte die Stellung und Funktion der Lehre in Calvins Institutio. Er hat ihre grundsätzliche kritische Bedeutung wohl gesehen, hat sie darum (III, 11-18) breit, sorgfältig und mit allen nötigen Abgrenzungen – nicht nur gegen die Römischen, sondern auch gegen protestantische Irrläufer, wie A. Osiander, entfaltet. Es konnte aber bei der bekannten Streitfrage der modernen Calvinforschung nach seiner theologischen Zentrallehre niemandem einfallen zu behaupten, daß diese in seiner Rechtfertigungslehre zu finden sei. Hat er doch an zahlreichen Stellen seines Hauptwerkes, aber auch seines sonstigen Schrifttums immer wieder geltend gemacht, es seien zwei hauptsächlichste Gaben, die der Christ Christus, bzw. dem Heiligen Geist zu verdanken habe: iustificatio (bzw. remissio peccatorum) auf der einen und, unzertrennlich mit jener verbunden: sanctificatio (bzw. renovatio oder regeneratio) auf der anderen Seite. Und überblickt man Calvins Lehre De modo percipiendae gratiae im dritten Buch der Institutio als Ganzes, so scheint es das Naheliegendste, das sie beherrschende und organisierende Problem in jenem Zweiten, in der Frage nach der Entfaltung und Gestaltung des christlichen Lebens und also nach der Heiligung zu erkennen. So würde es dem schon bei Zwingli bemerkbaren reformatorischen Ansatz und dem aus diesem hervorgehenden Neuaufbau der Kirche in der Schweiz und in den anderen außerdeutschen Bereichen entsprechen. Zur Beantwortung dieser Frage hätte dann die Rechtfertigungslehre bei Calvin die nötige Begründung und kritische Sicherung gewissermaßen nachgeliefert: auch das übrigens nicht, ohne daß sie durch die an noch späterer Stelle (c. 21-24) auftauchende und sachlich nach rückwärts noch weiter ausholende Prädestinationslehre überboten und einigermaßen in den Schatten gestellt wird. Oder denkt Calvin von der gleich am Anfang des dritten Buches (c. 1) beschriebenen, durch den Heiligen Geist zu vollziehenden insitio des Christen in Christus aus? Oder hat man seine Grundanschauung in der c. 2 entwickelten Lehre vom Glauben als solchem zu suchen? Eines ist sicher, daß das Zentrum der Theologie Calvins (wenn sie ein solches überhaupt hat) nicht in der Lehre von der Rechtfertigung zu finden ist. Die ihm folgende Lehre der alten reformierten Kirche hat sich dann in der Regel an das von ihm so oft angegebene Schema «Rechtfertigung und Heiligung» gehalten. Sie war, gerade indem sie diese beiden Gesichtspunkte auseinanderhielt, um ihnen je auf besonderem Wege nachzugehen, freier dazu, die zweite Frage (die nach der Heiligung, nach dem Glaubensgehorsam des Christen, nach den «guten Werken») mit dem auch ihr gebührenden selbständigen Nachdruck ernster zu nehmen als die Lutheraner – und andererseits freier von der die Lutheraner von Anfang an bedrohenden Versuchung, die Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung durch deren Vermischung mit der (unvermeidlicherweise auch zu stellenden!) Frage nach der Heiligung abzuschwächen und zu verdunkeln. Daß dieses Letztere in der neulutherischen Theologie (bis hin zu A. Ritschl und seinen Nachfolgern) geschehen sei, hat ihr denn auch gerade ein Reformierter, der in Wien lehrende Eduard Böhl (Dogmatik 1887, Von der Rechtfertigung durch den Glauben 1890) mit großem Ungestüm und weithin nicht mit Unrecht vorgehalten, nur daß ihm seinerseits das erste, positive Anliegen jener calvinischen Unterscheidung verborgen blieb. Er fand sich – man möchte sagen: wie sein Lehrer und Schwiegervater Hermann Kohlbrügge ein reformierter Hyperlutheraner! – veranlaßt, die
-- 586 --
Rechtfertigungslehre (was von den alten und neuen Lutheranern eben keiner gewagt hatte) geradezu als «das protestantische Cardinaldogma» auszurufen!
Aber nun ist es ja merkwürdig genug, bei Luther selbst eine ganze – unter dem überwältigenden Eindruck seiner Rechtfertigungslehre und dessen, was er über sie gesagt hat, leicht zu übersehende – in Wirklichkeit durchgehende und durchaus nicht schmale Linie festzustellen, auf der auch er nun doch nicht in der nach seinem Reden von dem unicus articulus zu erwartenden Einspurigkeit, sondern offenkundig zweispurig, und zwar ziemlich genau in eben der Zweispurigkeit geredet hat, die nachher für das Denken Calvins bezeichnend geworden ist. Er hat (Enarr. zu Jes. 53, 8, 1544 WA 40 III, 726, 24) von einer von dem erhöhten Christus ausgehenden doppelten sanatio des Menschen reden können: die eine kraft seines stellvertretenden Todes in der Vergebung der Sünden, die andere in der Gnadengabe eines von den Sünden sich reinigenden heiligen Lebens bestehend. Oder (Pred. üb. Act. 2, 1 f. WA 52, 317, 22) von einer doppelten Heiligung: vollkommen die erste, unvollkommen, aber in ihrer Weise nicht weniger real, die zweite. Oder (Pred. üb. 1. Kor. 5, 6 f. WA 21, 16) von einer doppelten Reinigung: die erste einmal in Christus geschehen, die zweite täglich in uns zu vollziehen. Oder (Pred. üb. Luk. 16, 1 f. EA 13, 238) von einer doppelten Rechtfertigung: inwendig, im Geist, vor Gott, allein durch den Glauben die eine – äußerlich, öffentlich, vor den Leuten und im Urteil des Menschen selber, durch Werke die andere. Oder (Pred. üb. Matth. 22, 34 ff., 1537 WA 45, 34) von einer doppelten Hilfe Christi: die erste darin bestehend, daß er uns vor Gott vertritt; wie eine Gluckhenne seine Fittiche über uns ausbreitet wider den Teufel, die zweite darin, daß er uns wie die Henne ihre Küchlein speist und nährt mit dem Heiligen Geist, daß wir anfangen, Gott zu lieben und sein Gebot zu halten. Oder (zu Gal. 3, 13 WA 40 I, 408, 24) von einer doppelten Gesetzeserfüllung: die erste kraft der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die andere kraft der ein neues Leben erzeugenden Gabe des Heiligen Geistes. Es geht sachlich immer um die gleiche Unterscheidung. Luther hat diese beiden Elemente des versöhnenden Handelns Gottes in Christus mit dem Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, mit dem zwischen des Menschen jenseitigem und seinem diesseitigen Leben, mit dem von Himmel und Erde oder (so zu Gal. 2, 12 WA 40, I, 427, 11) mit dem zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur Jesu Christi in Beziehung gesetzt. Man muß dabei auf vielerlei achten: er hat, wie gerade diese Vergleiche zeigen, seiner Grundanschauung entsprechend (1) nie versäumt, die Überordnung des ersten dieser beiden Elemente über das zweite geltend zu machen: es ist jenes (Pred. üb. 1. Petr. 2, 20 f. WA 21, 313, 22), das «Hauptstück», dieses nur «das andere» Stück. Er hat (2) bei jedem sich bietenden Anlaß ihre völlige Verschiedenheit sichtbar gemacht, ein jedes von ihnen (mit besonderem Nachdruck natürlich das erste!) in seiner Eigenart beschrieben; er hat also gerade das unterlassen, was man später mit oder ohne Anrufung seines Namens so oft versucht hat, das erste im zweiten oder auch das zweite im ersten aufgehen zu lassen, die Rechtfertigung als Heiligung oder auch die Heiligung als Rechtfertigung zu interpretieren; auch wenn er von beiden unter Verwendung desselben Begriffs (sei es nun «Rechtfertigung» oder «Heiligung» oder «Reinigung» oder «Heilung») geredet hat, hat er das nicht getan! Er hat aber (3) darauf insistiert, daß diese «zwei Stücke» je als solche «recht getrieben» werden müßten, daß also keines von beiden zugunsten des anderen vergessen oder vernachlässigt werden dürfte, weil das entweder Verderbnis des Glaubens oder aber Verderbnis von dessen Kraft und Frucht bedeuten müßte. Und er hat (4) den Ursprung und die Einheit dieser beiden Elemente, die Quelle und den Gegenstand des notwendig vollkommenen christlichen Glaubens und das Maß des notwendig unvollkommenen christlichen Gehorsams in dem als wahrer Gott und Mensch ebenso für uns wie an uns handelnden Jesus Christus gesehen und kenntlich gemacht. Es ist – und das ist es, was uns hier interessiert – dies klar, daß er neben der Lehre von der Rechtfertigung und von dieser unterschieden, wenn auch ihr direkt gegenübergestellt und auf sie bezogen, aber von ihm selber in gleicher Klarheit erkannt und geltend gemacht, auch diesen «anderen» Artikel – eben den, der dann von Calvin durchgehend als
-- 587 --
der von der sanctificatio vorgetragen wurde – gekannt und gelehrt hat. Diese Feststellungen beziehen sich freilich auf die Theologie des älteren Luther! Die neuere Lutherforschung (zuletzt Axel Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung in der frühen ev. Theologie Luthers, 1952) hat gezeigt, wie Luther in seinen Anfängen die Rechtfertigung und die Heiligung nicht nur unter sich, sondern auch mit der Christologie, das Alles aber auch mit dem Worte Gottes und schließlich das so verstandene Wort Gottes mit des Menschen Glauben an Gottes ihm verheißene Gnade, mit der Gnade selbst und diese wieder mit der demütigen Erkenntnis seiner Sünde dialektisch in Eins gesetzt hat. Der Gleichungen oder Koinzidenzen von Subjekt und Objekt, von Gott und Mensch, Geben und Empfangen, Leiden und Tun ist in diesem ursprünglichen, unheimlich tiefsinnigen Unternehmen Luthers kein Ende. Es war eine theologia crucis, die seltsamerweise alle Merkmale einer theologia gloriae: einer Theologie der Zusammenschau aller Dinge vom Standpunkte Gottes (der zugleich der Standpunkt des glaubenden Menschen sein sollte) an sich trug. Daß Luther von diesem Unternehmen herkam, hat er zeitlebens nicht verleugnet: man stößt bei ihm vielmehr immer wieder auf die Spuren, auf blendende Lichter, aber auch verwirrende Dunkelheiten, die man nur von dorther erklären kann. Zu der Frage, ob man dem jüngeren Luther vor dem älteren den Vorzug geben soll oder umgekehrt, haben wir hier nicht Stellung zu nehmen. Sicher ist, daß er zu einem eindeutigen Reden über das, was er mit jenem Ersten, und über das, was er im Unterschied dazu mitjenem Zweiten meinte, injenem ersten Stadium seines Denkens und Lehrens nicht vorgedrungen ist und infolgedessen weder die christliche Heilsgewißheit, noch eine christliche Ethik theologisch klar zu begründen vermochte: wer sich für die stürmische Dialektik des jüngeren Luther entscheidet, sehe nach diesen beiden Seiten zu, ob es ihm besser als jenem selbst gelinge! Sicher ist aber weiter auch dies, daß Luther selbst – Gyllenkrok zeigt die Anfänge dieser Bewegung – spätestens vom Anfang der zwanziger Jahre an, von jener Theologie der Gleichungen zu einer weniger interessanten, dafür artikulierten Theologie: einer Theologie der relativen Ungleichungen und also Unterscheidungen – sie blieb auch so noch aufregend genug – übergegangen ist. Hatte er in seiner Frühzeit fast bedenklich viel von humilitas geredet, so begann er solche nun zu üben. Seine Theologie wurde – ich würde es wagen, zu sagen: jetzt erst! – zur theologia viatorum. Reformatorisch war sie schon in jenem Ansatz, reformatorisch wirksam, die Kirche aufbauend wurde sie doch erst in dieser neuen Gestalt. Es könnte diese Veränderung auch innerlich verständlich machen, wenn man annehmen dürfte, daß sie mit einer anhebenden Verselbständigung seiner Christologie gegenüber der sein früheres Denken fast restlos in Anspruch nehmenden christlichen Anthropologie zusammenhängen sollte. Man wird jedenfalls sagen müssen, daß das alte und das neue Luthertum schließlich doch Luthers – jedenfalls des späteren Luthers – eigener Weisung folgte, wenn es eine Zentrierung seiner Theologie in dem «einen» Artikel der Rechtfertigung so wenig vollzogen hat, wie das bei Calvin und im Calvinismus geschehen ist.
Wir haben schon im Blick auf den alten Protestantismus – auf Calvin, aber, wie gezeigt, auch auf Luther selbstl – auf die selbständige Wichtigkeit und Funktion des Problems der Heiligung neben dem der Rechtfertigung hingewiesen. Man bedenke, daß es sich in ihm, geschichtlich gesehen, auch um das spezifische Problem des Pietismus und doch auch des Methodismus handelt, dem (bei allen Vorbehalten) gerecht zu werden eine Aufgabe ist, der sich die Dogmatik, soll sie kirchlich sein, nicht wohl entziehen darf.
Wir haben nun aber abschließend daran zu erinnern, daß es auch noch ein drittes Element des versöhnenden Handelns Gottes in Christus gibt, das man wie die Heiligung nicht oder doch nur künstlich und zum Schaden der Sache unter den Begriff der Rechtfertigung subsumieren könnte. Das Amt Jesu Christi ist ja nicht nur das des für uns dahingegebenen Hohepriesters und nicht nur das des uns regierenden Königs, es ist auch das Amt des Propheten; und Gottes versöhnende Gnade hat auch die weder mit der Rechtfertigung, noch mit der Heiligung einfach zusammenfallende Dimension und
-- 588 --
Gestalt der Berufung des Menschen, seiner teleologischen Ausrichtung auf Gottes in Jesus Christus gegenwärtiges und kommendes Reich im Blick auf die Gemeinde: die Gestalt ihrer Sendung, im Blick auf den einzelnen Christen: die Gestalt seiner Hoffnung. Die letzten Jahrhunderte waren, was auch im übrigen gegen ihre Theologie einzuwenden sein mag, insofern bestimmt nicht nur saecula obscura, als sie uns gerade diese Seite der christlichen Botschaft in größerer Deutlichkeit vor Augen gestellt haben, als die, die sie in den Augen auch der großen Christen des 16. Jahrhunderts gehabt hat. Sie waren immerhin die Zeit des jetzt erst begriffenen Auftrags der Weltmission der Kirche, die Zeit einer neuen Schau und Erwartung eben des gekommenen und kommenden Reiches Gottes, die Zeit eines neuen Erwachens der Christenheit hinsichtlich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Gesellschaft, die Zeit eines neuen Bewußtseins ihrer ökumenischen Existenz und Aufgabe. Auch das sind kirchengeschichtliche Realitäten, an denen eine kirchliche Dogmatik nicht vorübergehen kann. Und hier wie in der Lehre von der Heiligung wird es sich ja auch darum handeln, das von unserer ganzen abendländischen Tradition so weit abliegende, aber im Neuen Testament wahrhaftig auch begründete Anliegen der Ostkirche, so gut es geht aufzunehmen: schon darum, weil wir es in ihr mindestens mit einer der Wurzeln des säkularisierten politisch-sozialen Chiliasmus der heutigen Ostwelt zu tun haben, dem das christliche Abendland mit allem seinem Entsetzen und Abscheu vor seiner Verkehrtheit so lange nicht gewachsen sein wird, als es sich seiner noch so verderbten christlichen particula veri gegenüber einfach verschließen wollen sollte. Und nun gibt es ohne Rechtfertigung gewiß auch keine Berufung, keine Sendung, keine Hoffnung, keine Verantwortlichkeit der Welt gegenüber. Nun haben wir also nach wie vor allen Anlaß, auf die große Frage der Reformation und Luthers im besonderen sehr genau einzugehen. Die neuzeitlichen Bewegungen und Unternehmungen, an die hier zu denken ist, dürften das weithin und zu ihrem Schaden unterlassen haben. Es könnte der Ostkirche wirklich nicht schaden, wenn sie die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein im Glauben ernstlich zur Kenntnis nehmen wollte – und der heutigen Ostwelt erst recht nicht! Wiederum werden wir aber, wenn es zu einem angemessenen Bedenken dessen kommen soll, was auf der Linie des prophetischen Amtes Christi zu bedenken ist, einer größeren Freiheit bedürfen als die, die uns erlaubt wäre, wenn wir uns dabei nur im Rahmen der reformatorischen Rechtfertigungslehre bewegen dürften. Die Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? in höchsten Ehren! Sie ist aber dem Protestantismus – jedenfalls dem europäischen und insbesondere dem deutschen Protestantismus – allzu lange Anlaß und Versuchung gewesen, einem gewissen Narzißmus zu huldigen und gerade nach der nun zuletzt angedeuteten Seite auf der Stelle zu treten . . . !
Der articulus stantis et cadentis ecclesiae ist nicht die Rechtfertigungslehre als solche, sondern ihr Grund und ihre Spitze: das Bekenntnis zu Jesus Christus, «in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen liegen» ( Kol. 2, 3): die Erkenntnis seines Seins, seines Tuns für uns, an uns und mit uns. Es würde sich wahrscheinlich zeigen lassen, daß im Grunde das die Meinung auch Luthers gewesen ist. Läßt man Christus hier wie überall die Mitte, den Ausgangs- und Zielpunkt des christlichen Denkens sein, dann wird dafür gesorgt sein, daß es diesem an Einheitlichkeit und Zusammenhang – im besten Sinn des Begriffs: an Systematik – nicht fehlen wird.
Das Problem der Rechtfertigung bedarf keiner künstlichen Verabsolutierung und Monopolstellung. Es hat seine besondere Würde und Notwendigkeit, der man nicht schlechter, sondern besser gerecht wird, wenn
-- 589 --
man es – ohne ihm einen Totalitätsanspruch zuzuschreiben, der ihm nicht angemessen ist, und also ohne alle und jede anderen Fragen auf sie zuzuspitzen oder in ihr aufgehen zu lassen oder unter Berufung auf sie ganz abzuweisen – in seiner Beschränkung dieses Problem sein läßt und als solches zu beantworten sucht. Gerade seine Verwirrung und Vermischung mit dem Problem der Heiligung hat seiner rechten Beantwortung von Anfang an nur Abbruch getan. Auch die allgemeine Bedeutung und Tragweite der Rechtfertigungslehre wird bestimmt besser zur Geltung kommen, wenn man ihr Problem in seiner Beschränkung dieses Problem sein läßt. Und wiederum können dann die anderen Fragen, so gewiß sie alle mit dieser zusammenhängen, so gewiß die Beantwortung dieser Frage als eine Art Sauerteig für sie alle entscheidend bedeutsam ist, den ihr gebührenden Raum neben ihr haben. Die Rechtfertigungslehre fördert dann die freie Entfaltung des Reichtums der christlichen Erkenntnis, statt sie zu behindern. Sie kann und darf dann mit gutem Gewissen dort mahnend in Erinnerung gerufen werden, wo die Wichtigkeit ihrer besonderen Wahrheit verkannt sein, wo man, mit anderen Anliegen einseitig beschäftigt, allzu eilig und unbedacht, an ihr vorbeikommen zu können meinen sollte: mit gutem Gewissen darum, weil ihre Einschärfung dann keine Zwängerei darstellt, kein kaudinisches Joch, keine Disqualifizierung und auch keine künstliche Umdeutung dessen, was Anderen anderwärts und zu anderer Zeit in derselben Erkenntnis des einen Jesus Christus mit Recht wichtig geworden ist, weil man dann auch für die Gesichtspunkte solcher Anderer offen sein kann, weil dann Kommunikation (und nicht nur Toleranz!) in der Kirche legitim möglich ist. An seiner Stelle – in dem besonderen Zusammenhang, in welchem es aufzuwerfen und zu beantworten ist – ist das Problem der Rechtfertigung unerbittlich ernst gestellt und dementsprechend ernst zu nehmen: das Problem der Voraussetzung, der Möglichkeit, der Wahrheit des positiven Verkehrs Gottes mit dem Menschen, des Friedens des Menschen mit Gott.
2. GOTTES GERICHT
Durch die Sünde setzt sich der Mensch vor Gott ins Unrecht, macht er sich selbst als sein Geschöpf und als sein Bundespartner unmöglich, schändet er die ihm verliehene gute Natur und verwirkt er die ihm zugewendete Gnade, kompromittiert er seine Existenz. Denn er hat als Sünder kein Recht. Er ist als Sünder nur im Unrecht.
Die Voraussetzung, die Möglichkeit, die Wahrheit eines positiven Verkehrs zwischen Gott und ihm, seines Friedens mit Gott, besteht (1) darin, daß es ein Recht gibt, das dem Unrecht, dessen er sich schuldig macht und in dem er sich befindet, überlegen, und zwar schlechterdings überlegen
-- 590 --
ist, (2) darin, daß es ein solches Recht nicht nur in irgend einer Höhe oder Tiefe gibt, sondern daß es dem Menschen gegenüber ausgeübt wird, und (3) darin, daß es in der Ausübung dieses höheren Rechtes zu einer Beseitigung des menschlichen Unrechts, aber auch zur Herstellung und Aufrichtung eines neuen menschlichen Rechtes kommt. Dieses höhere Recht ist das Recht Gottes und seine Ausübung, und zwar seine Ausübung in Beseitigung des Unrechts des Menschen, in Herstellung seines Rechtes, ist das Gericht Gottes. In seinem Geschehen kommt es zu des Menschen Rechtfertigung.
Von Gottes höherem, dem Unrecht des Menschen schlechthin überlegenen Recht muß zuerst die Rede sein. Was ist das für ein Recht? Anderswo als im Geschehen des Gerichtes Gottes kann es uns nicht erkennbar sein. Aber eben um dieses und also des Menschen Rechtfertigung zu verstehen, müssen wir vorweg feststellen, daß es Recht, das Recht Gottes ist, das in ihm ausgeübt und vollstreckt wird. Wo wäre die Freiheit Gottes offenbarer als in des sündigen Menschen Rechtfertigung? Aber wiederum ist es nirgends so offenbar wie hier, daß sie wahre Freiheit, nicht die unechte einer launischen Willkür ist. Indem Gott in des Menschen Rechtfertigung so handelt, wie er es tut, ist darüber entschieden, daß er nicht ebenso wohl so als auch anders handeln könnte, daß hier gerade nicht Laune und Willkür, sondern Recht, und zwar höchstes, am Werke ist. Nicht daß Gott durch irgend ein von ihm selbst verschiedenes Gesetz bestimmt, gebunden, eingeschränkt und also zu diesem Handeln genötigt wäre. Gott untersteht keinem ihm fremden Gesetz, keiner allgemeinen, ihn selbst, die Welt und den Menschen gemeinsam umspannenden, bedingenden, begrenzenden Wahrheit, Möglichkeit und Voraussetzung. Ihn zur Beantwortung unserer Frage nach seinem Recht an einer solchen messen zu wollen, wäre also ein vergebliches Unternehmen. Was wir als Gesetz, Wahrheit, Möglichkeit, Voraussetzung kennen oder zu kennen meinen, sind Hypothesen, die wir (bewußt oder unbewußt) daraufhin wagen, daß die Welt, daß der Mensch faktisch von ihm her ist, von ihm regiert wird, von ihm, der nicht nur der höchste, sondern der primäre, der eigentliche Gesetzgeber ist, nicht exlex, aber sich selber lex und so die Quelle und Norm und Grenze aller leges. Es hätte keinen Sinn, irgend einen Inbegriff unserer leges und also unserer Rechtshypothesen mit der Maxime gleichzusetzen, auf Grund deren Gott unser Schöpfer und Herr ist, ihn also an irgend einem solchen Ordnungsprinzip messen, sein Tun an dessen Hand als recht verstehen zu wollen. Gerade daß und inwiefern Gott in des sündigen Menschen Rechtfertigung im Recht ist, würde uns auf diesem Wege hoffnungslos entgehen müssen. Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre hat immer wieder darunter gelitten, daß man Gottes Recht in seinem hier zu erklärenden Tun von einer solchen kühnlich für seine
-- 591 --
eigene Maxime gehaltenen Hypothese, von irgend einem uns angeblich erkennbaren Natur- oder Moralgesetz her bestimmen wollte. Wohl aber ist Gott – er ist kein «Gott der Unordnung, sondern des Friedens» ( 1. Kor. 14, 33) – sich selber (und das in höchster, unverbrüchlicher Strenge!) Gesetz, Maxime, Ordnung: in vollkommener und unerschütterlicher Übereinstimmung mit sich selbst, sich selber schlechterdings treu, im Unterschied zu den Gestirnen des Firmaments und zu den sämtlichen Phänomenen der Natur und Geschichte des geschaffenen Kosmos (des Reichtums seines inneren Seins und seines äußeren Tuns unbeschadet!) «ohne Veränderung noch Schatten in Folge von Wechsel» ( Jak. 1, 17). In dieser Übereinstimmung mit sich selbst handelt er auch – und das in höchster Klarheit – in des sündigen Menschen Rechtfertigung. Diese Übereinstimmung mit sich selbst ist Gottes Recht: der zuverlässige Anker, in welchem die Gemeinde ihren Grund, der Glaube seine Gewißheit hat. Es könnte nicht auch etwas ganz Anderes geschehen als das, was geschieht, indem Gott dem sündigen Menschen Gerechtigkeit – seine Gerechtigkeit widerfahren läßt. Er müßte sich selbst nicht Gesetz, seine Übereinstimmung mit sich selbst müßte Streit, seine Freiheit müßte Laune und Willkür, er müßte exlex, kurz: er müßte nicht Gott sein, wenn hier etwas Anderes geschehen könnte, wenn es also der Voraussetzung, der Möglichkeit, der Wahrheit der Rechtfertigung gegenüber auch nur einen Schatten von begründetem Zweifel gäbe. Umgekehrt gesagt: jeder Zweifel an der Wahrheit der Rechtfertigung ist als solcher der Zweifel an Gott selbst; jedes Rechnen mit einer anderen Möglichkeit als der in ihr verwirklichten ist als solches ein Rechnen mit der Nicht-Existenz Gottes; jede Leugnung ihrer Verwirklichung ist als solche Gottesleugnung. Und wiederum: Gott erkennen heißt: Gottes Recht in dieser Sache erkennen. Und umgekehrt: Gottes Recht in dieser Sache erkennen heißt: Gott erkennen.
Von daher das eigentümliche Brennen gerade des Problems der Rechtfertigungslehre. Indem es wurzelt in der Frage nach Gottes Recht in seiner dem sündigen Menschen – und gerade ihm aufs neue und erst recht – zugewendeten Gnade, geht es in diesem Problem allerdings ums Ganze, nämlich um die Erkenntnis Gottes selber. Es ist also unter allen oberflächlichen Phrasen unserer Zeit eine der oberflächlichsten die Behauptung: es habe zwar der Mensch des 16. Jahrhunderts nach dem ihm gnädigen Gott gefragt, es sei aber der moderne Mensch viel radikaler in der Frage nach Gott überhaupt und als solchem begriffen. Als ob es einen Gott überhaupt und als solchen gäbe, als ob das Fragen nach ihm irgend einen Sinn hätte! Als ob Gnade eine Eigenschaft Gottes wäre, die man allenfalls auch einklammern könnte, um unterdessen gemächlich nach seiner Existenz zu fragen! Als ob die christliche Gemeinde und der christliche Glaube an der Existenz oder Nichtexistenz dieses Gottes überhaupt und als solchen irgend ein Interesse hätte! Als ob der Mensch des 16. Jahrhunderts nicht gerade damit, daß er nach dem ihm gnädigen Gott, nach dem Recht seiner Gnade fragte, in einer Radikalität, neben der das Fragen des modernen Menschen eitel Leichtsinn ist, nach Gott selbst, seiner Existenz gefragt hätte! Als ob das, was dem modernen Menschen – nicht ohne schwerste Schuld aller christlichen Kirchen! – zu fehlen scheint, nicht gerade dies wäre, daß er verlernt hat, eben so, in dieser Sachlichkeit, neben der es keine andere gibt, nach Gott zu fragen!
-- 592 --
Daß er also nach der Existenz Gottes fragt, ohne zu wissen, wonach er fragt, sie vielleicht behauptet, ohne zu wissen, was er damit behauptet; sie vielleicht leugnet, ohne zu wissen, was er leugnet! Daß also sein ganzes Fragen und Antworten in dieser Hinsicht nicht umsonst so leichtsinnig ist: darum nämlich, weil es gegenstandslos ist! Die Diskussion mit ihm kann offenbar überhaupt nicht aufgenommen werden, bevor sie durch die Verkündigung der Kirche auf einen ganz anderen Boden gestellt, d. h. bevor ihm der Gegenstand wieder vor Augen gestellt ist, nach welchem unter dem Namen «Gottes» zu fragen allein sinnvoll ist: der eine einzige, d. h. aber der dem Menschen gnädige Gott der eben in seiner Gnade im Recht ist, sich selber treu ist, mit sich selbst übereinstimmt.
Gerade der Gott, der in des sündigen Menschen Rechtfertigung und also als der gnädige Gott auf dem Plan ist und handelt, hat Recht und ist im Recht. Er ist – keinem fremden Gesetz unterworfen, selber Ursprung, Grund und Offenbarer jedes wahren Gesetzes – in sich selber richtig. Das ist das Rückgrat des Rechtfertigungsgeschehens.
Er ist das Rückgrat schon des alttestamentlichen Gottesverhältnisses. Warum verläßt sich der alttestamentliche Fromme auf die Erwählung seines Volkes, auf den Bund, den Gott mit ihm geschlossen, obwohl und indem doch seine Geschichte eine einzige Folge seiner eigenen Übertretungen und der ihnen folgenden göttlichen Strafgerichte ist? Und warum auf Gottes Treue, Geduld, Barmherzigkeit, Gnade, wo es ihm doch nicht verborgen ist, daß er sich ihrer nicht als würdig erzeigt und wo ihm doch durch den Triumph seiner Feinde ständig vor Augen geführt zu sein scheint, daß er es verwirkt hat, an seine Treue appellieren zu dürfen. Er verläßt sich offenbar darum auf seinen Gott, weil ihm in der Erwählung Israels, in Gottes Bund mit ihm, kein glücklicher Zufall und so in Gottes freier Güte keine zufällige Begünstigung, sondern Gottes höchstes und unbewegliches Recht vor Augen steht: weil ihm sein Gott der in sich selbst Richtige ist und nicht ein Wesen, das jetzt so will und handelt, ein anderes Mal aber auch ganz anders wollen und handeln könnte. Nein, «Deine Rechte ist voller Gerechtigkeit» ( Ps. 48, 11), sie «steht wie die Berge Gottes» ( Ps. 36, 7), sie ist eine «ewige Gerechtigkeit» ( Ps. 119, 142). Daß «Gott gerecht ist und Gerechtigkeit lieb hat» ( Ps. 11, 7), das ist ihm ein ontologischer und also undiskutabler, unveränderlich gültiger Satz. Gott ist in sich richtig. Weil und indem das für den alttestamentlichen Frommen in Geltung steht, meint und vermutet er nicht nur, sondern weiß er, daß Gott seiner Erwählung treu sein, den Bund halten, seine Verheißung erfüllen wird, verläßt er sich also auf seinen Gott, sieht und hat er in ihm seinen Hort, seine Burg, seinen Felsen: allem zuwider, was ihn wohl veranlassen könnte, sich nicht mehr auf ihn verlassen zu wollen. Es ist aber gerade die Erwählung, der Bund und also die Güte Gottes, in welchem ihm diese innere und also gültige und darum zuverlässige Richtigkeit seines Gottes vor Augen steht.
Es verhält sich aber auch im Neuen Testament – und im Neuen Testament erst recht – nicht anders. Wie kann es Paulus wagen, sich selbst und die Christen aus Juden und Heiden von der Beobachtung des alttestamentlichen Gesetzes im Blick auf dessen in Jesus Christus erreichtes Ziel ( Röm. 10, 4) freizusprechen, sie allein und ganz und gar auf das Evangelium von diesem Einen, auf die in Ihm schon geschehene ἀπολύτρωσις ( Röm. 3, 24), auf die durch seinen Heiligen Geist in ihre Herzen ausgegossene Liebe Gottes ( Röm. 5, 5), auf den freien Gehorsam der durch seinen Geist getriebenen Kinder Gottes ( Röm. 8, 14) zu verweisen? Das Alles angesichts dessen, daß doch Fleisch, Sünde und Tod auch für ihn und für sie noch immer gegenwärtige Realitäten sind! Er hat in seiner Antwort auf diese Frage schwerlich bloß disputationis causa gerade nach dem Begriff der δικαιοσύνη gegriffen und hat sie schwerlich zufällig immer wieder in erster Linie die δικαιοσύνη θεοῦ (dann erst und als solche die δικαιοσύνη πιστεως) genannt. Das ist das Rückgrat seines Evangeliums, seines eigenen Glaubens, aber auch des Glaubens, zu dem er als Apostel
-- 593 --
aufruft, das erlaubt und gebietet ihm die unerhörte Kühnheit seiner Botschaft – und praktisch seines Weges aus der Synagoge in die ἐκκλησία und als Beauftragter Jesu Christi hinaus in die Welt der Völker: es handelt sich um Gott, und zwar um die Gerechtigkeit Gottes. Es verdient und fordert die Gnade Jesu Christi darum Glauben, darum Gehorsam, darum alles Vertrauen, darum alle Hingabe, darum rücksichtslose Behauptung nach rechts und nach links, unter Juden und Heiden – ihre Offenbarung und Verkündigung ist darum der Anbruch der Endzeit, und das freie Wort ihrer Verkündigung darf und muß darum das Ende dieser Endzeit schon vorwegnehmen und mitten in der durch Fleisch, Sünde und Tod noch immer charakterisierten Gegenwart darum schon als letztes Wort ausgesprochen werden, weil sie – die Gnade Jesu Christi als solche – die Ausübung und der Vollzug des Rechtes Gottes, sein gerechtes Gericht ist. Warum wird die δικαιοσύνη διὰ νόμου ( Gal. 2, 21) oder ἐκ νόμου ( Gal. 3, 21, Röm. 10, 5), warum alle ἰδία δικαιοσύνη ( Röm. 10, 3, Phil. 3, 9) von Paulus verneint und verworfen? Weil sie als solche nicht ins Werk zu setzen ist? Ja! Weil sie gegen die Gnade Jesu Christi streitet? Jal Aber erstlich und letztlich darum, weil sie gerade als Streit gegen die Gnade gegen die δικαιοσύνη θεοῦ streitet, und darum ihrem ganzen Anspruch und Schein zuwider nicht auf Recht, sondern auf Unrecht beruht, δικαιοσύνη gar nicht ist, sondern vielmehr ἀδικία ! In der im Evangelium verkündigten Offenbarung und Wirksamkeit (ἔνδειξις) der Gnade Jesu Christi aber findet nicht erst die Rechtfertigung des an Jesus glaubenden Menschen statt, sondern zuerst und als deren Begründung das, daß Gott selbst sich in ihr als gerecht erweist: εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον – dann und daraufhin erst καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ ( Röm. 3, 26). Er, Gott, ist in ihr richtig, stimmt in ihr mit sich selbst überein, ist sich selbst in ihr treu: das ist ihr ontologischer Metallgehalt. Und eben der entsprechende Metallgehalt des Wissens um Gottes eigenes Recht in dieser Sache – und so um die Unerschütterlichkeit ihrer Güte und Notwendigkeit – dürfte denn auch das Geheimnis sein, das des Paulus erstaunliches Eintreten für diese Sache von einem ins Blaue führenden und darum zweideutigen Wagnis unterscheidet. Er weiß, wo er in dieser Sache, wo er als Apostel Jesu Christi herkommt. Auch er hat hier Felsen unter den Füßen. Auch ihm ist die Treue Gottes selbst, die πίστις τοῦ θεοῦ, die durch keine Untreue der Menschen aufgehoben werden kann ( Röm. 3, 3) der Urgrund und Prototyp der πίστις, in der er selbst lebt und die er verkündigt, und die Erkenntnis: πιστὸς ὁ θεός (Luther: «Aber, o ein treuer Gott!» 2. Kor. 1, 18, vgl. auch 1. Kor. 1, 9) die Gewähr, die Bürgschaft dafür, daß sein Wort an die Gemeinden und an die Welt kein unzuverlässiges «Ja und Nein» ist. Und woher hat er die Erkenntnis, daß Gott selbst treu ist? Die Fortsetzung ( 2. Kor. 1, 19) sagt es: von daher, daß in dem von ihm verkündigten Jesus Christus, Gottes Sohn, kein solches «Ja und Nein», sondern ein lauteres Ja Gottes wirksam und offenbar ist!
Das also ist das Recht Gottes, das sich in der Rechtfertigung des sündigen Menschen bewährt, das sie als freien Gnadenakt nun dennoch von der Laune und Willkür eines Gunst und Ungunst blind verteilenden Schicksals unterscheidet, das sie mit Hoheit und Würde bekleidet und das der Erkenntnis des Glaubens an sie untrügliche Zuverlässigkeit verleiht: Gott bejaht in dieser Aktion allererst sich selbst; er lebt in ihr sein eigenstes göttliches Leben in seiner Einigkeit als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er behauptet sich in ihr aber auch als Gott des Menschen als der, der sich ihm von Ewigkeit her verbunden, sich selbst für den Menschen und den Menschen für sich erwählt hat; er führt in der Aktion seiner Gnade eben das durch, was er gewollt und beschlossen hat, indem er ihm als diesem Geschöpf Wirklichkeit und diese, die menschliche Natur, gab Er vergibt sich selbst nichts, indem er sie vollzieht. Aber auch in seinem
-- 594 --
Verhältnis zum Menschen übertritt er in ihr nicht, sondern erfüllt er in ihr sein eigenes Gesetz, das kein anderes neben, kein höheres über sich hat: das Gesetz, das er sich selber ist. Es ist die Gnade, die er in der Rechtfertigung übt, auch in dieser Hinsicht kein ihm fremdes, kein solches Tun, in dessen Vollzug er sich erst verändern, sich selbst korrigieren und zurücknehmen, in welchem er sich sich selbst entfremden, kein solches, in welchem er auch nur teilweise aufhören müßte, Gott zu sein, sich selber treu zu sein. Wäre es anders, wie sollte es dann ein der Gottheit Gottes entsprechendes Vertrauen auf seine Gnade geben? Wie sollte ihre Offenbarung dann der feste Grund der Gemeinde, die haltbare Gewißheit des Glaubens sein? Wie sollte sich dann das Bekenntnis zu ihr unterscheiden können von einem bloßen religiösen Werturteil: in seinem Wahrheitsgehalt abhängig von der Kraft der sich in ihm aussprechenden menschlichen Religiosität? Und höher hinauf: Wie hätte dann Gott seinen eigenen Sohn zu ihrem Vollstrecker dahingeben, seinen eigenen Heiligen Geist zu ihrem Offenbarer machen können? Indem er das getan hat und noch tut, erweist er sich als der, der gerade als der gnädige Gott gerecht und gerade als der gerechte Gott gnädig ist. Es geschieht nicht auf Kosten, sondern in Betätigung seiner Gottheit, daß sein Wort allem Fleisch zugute selbst Fleisch wird ( Joh. 1, 14), und wiederum nicht in Verleugnung, sondern in Bestätigung seiner Gottheit, wenn er seinen Heiligen Geist als Zeugen seiner Gnade in solchen wohnen und wirken läßt, die doch selber immer noch die von Sünde, Fleisch und Tod Bedrohten sind.
Als dieser in dem allem sich selbst treue Gott, kraft dieses seines Rechtes tritt er in der Rechtfertigung dem Menschen gegenüber: dem Menschen, der vor ihm im Unrecht ist. Was ist es mit diesem Unrecht des Menschen? Wir kennen es als die Untat seines Hochmuts, in welchem er, dem Wesen und Weg des in seiner Gnade gerechten Gottes diametral zuwider, in eine Höhe strebt, die ihm nicht zukommt. Wir kennen es als die Bewegung, in der der Mensch sich selbst Gott zweifellos entfremdet, sich selbst zu Gottes Feind macht, Gottes Zorn also auf sich zieht – als die Bewegung, in der der Mensch nur verdorren, sich selbst und also das Werk Gottes nur verderben und zerstören kann. Wir kennen es als des Menschen unmögliche, grundlose, sinnlose Verbündung mit der von Gott dem Schöpfer vom Licht geschiedenen und verworfenen Finsternis, als den großen, unbegreiflichen, aber in seiner ganzen Unbegreiflichkeit realen Einbruch des in sich Nichtigen in den Raum dessen, was ist, weil es von Gott gewollt und geschaffen ist. Wir kennen es als das vom Menschen verschuldete, den Menschen befallende, vom Menschen zu erleidende, aber vor allem Gott beleidigende, weil seinem Willen zuwider herrschende Unheil, dessen Größe daran zu ermessen ist, daß Gott selber sich in seinem Sohn aufgemacht hat, um ihm zu begegnen, um es aus der Welt zu schaffen, um im
-- 595 --
Streit mit ihm des Menschen Heiland zu werden und seine eigene verletzte Ehre wieder herzustellen. Wir haben allen Anlaß zu einem grenzenlosen Erschrecken vor seiner Wirklichkeit. Es gehört seinem Wesen, seiner Gestalt, seiner Auswirkung nach einer Größenordnung an, die es uns in keinem Sinn erlaubt, es auch nur theoretisch überblicken und durchschauen, es kategorial verstehen und insofern relativieren und also meistern zu wollen. Es wäre das ein Unternehmen, dem man nur schon in der Einsicht entsagen müßte, daß wir zu seiner entsprechenden praktischen Meisterung – so gewiß wir nicht über unseren eigenen Schatten springen können – ja doch nicht in der Lage sind. Und der entscheidende Grund seiner Unmöglichkeit dürfte darin liegen, daß Gott selbst sich zur Meisterung dieser Sache aufgemacht, sie also unseren Händen ein für allemal entnommen hat.
Wie groß aber des Menschen Unrecht sein mag: das kann nicht in Frage kommen, daß es mit dem Rechte Gottes derselben Größenordnung angehörte, ihm also die Waage halten könnte. Ohne daß das an dem Ernst, mit dem wir es zu bedenken haben, auch nur das Geringste ändern dürfte, haben wir vielmehr zum vornherein in Rechnung zu stellen, daß es dem Rechte Gottes gegenüber schlechterdings unterlegen, in seiner ganzen Größe im Verhältnis zu jenem ein unendlich Kleines ist. Es handelt sich um des Menschen Rebellion gegen Gott und damit um den Einbruch des Chaos in Gottes gute Schöpfung. Gott – und er zuerst – nimmt es ernst: so ernst, daß er ihm mit nicht weniger als seiner eigenen Person begegnet. Es betrübt ihn um unserer, seiner Geschöpfe und Bundespartner willen. Es verletzt eben darum, weil wir uns, indem wir es begehen, gegen ihn wenden und dementsprechend ohne ihn sein müssen, auch seine eigene Ehre. Es kann aber davon, daß es ihm in irgend einem Sinn ebenbürtig wäre, von ferne keine Rede sein. Ist es darin auch vor ihm groß, daß es Unrecht an ihm ist, so ist es eben darin vor ihm auch ganz klein, daß es nur Unrecht ist und also in keinem Sinn ein anderes, mit dem seinen konkurrierendes Recht sein oder setzen kann. Es sagt nur Nein, kein diesem entsprechendes Ja. Es begründet kein neues Sein, keinen neuen Menschen, keine neue Welt. Es möchte das freilich tun. Es hat – das ist ihm nicht abzusprechen – die Realität des Strebens danach – aber auch nur diese! Es zielt nur auf eine Reichsgründung. Es ist von Hause aus das, was nicht gelingen, was sich nicht vollenden kann. Es ist also mit Gott dem Schöpfer – und es ist sein Werk mit dem der Schöpfung Gottes in keiner Weise vergleichbar. An dem Rechte Gottes kann das Unrecht des Menschen nicht das Geringste ändern.
Und nun auch nicht und gerade nicht, sofern dieses als das Recht des Schöpfers und Bundesherrn auch sein Recht über und auf den Menschen ist. Setzt sich der Mensch ins Unrecht, so bedeutet das wohl, daß er des ihm gewährten Rechtes als Gottes Geschöpf und Bundespartner
-- 596 --
unwürdig wird und verlustig geht, daß er seine Existenz verwirkt und preisgibt: ist doch seine Übereinstimmung mit dem Rechte Gottes, zu der er durch seine Erwählung und Erschaffung bestimmt und durch die ihm verliehene gute Natur ausgerüstet ist, die Voraussetzung seiner Existenz; kann er doch im Streit gegen Gott nur vergehen, verderben, verlorengehen, sterben und dahin sein. Das Recht aber, das Gott über und auf ihn hat, kann er dadurch, daß er sich selbst ins Unrecht setzt, weder aufheben, noch auch nur brechen, noch auch nur einschränken. Indem Gott seinem Unrecht gegenüber Gott bleibt, bleibt er ihm selbst gegenüber unverändert in seinem Recht: dem Recht dessen, der sich selbst zu seinem Schöpfer und Bundesherrn erwählt und gemacht hat. Was auch der Mensch in der Tollheit seines Hochmuts anrichte: das kann ihm nicht gelingen, daß er diese Selbstbestimmung Gottes umstoße – und also auch das nicht, daß er sich selbst damit einen Ort und Stand, ein Wesen verschaffe, in welchem er das, worauf er offenbar zielt, eine selbständige Existenz, eine Freiheit Gott gegenüber nun wirklich hätte und (auch nur in irgend einem Höllengrund!) als solche ausleben und genießen könnte. Zu allerhand Besessenheit langt es; es langt aber nicht zur Verteufelung der menschlichen Natur und Existenz. Fallen mag der Mensch wohl – fallen, und zwar ins Bodenlose fallen muß er sogar, indem er sich Gott gegenüber ins Unrecht setzt; er kann aber auch in seinem bodenlosen Fall aus dem Bereich Gottes und also auch des Rechtes, das Gott über und auf ihn hat, nicht herausfallen. Er bleibt auch in seinen schmählichsten Gesinnungen, Worten und Taten, er bleibt auch in der greulichsten Verleugnung und Verkehrung seiner guten Natur, er bleibt auch im völligen Verlust seines Menschenrechtes und seiner Menschenwürde, er bleibt auch im untersten Grund der Hölle – was das auch für ihn bedeuten möge! – der von Gott erwählte und geschaffene Mensch und als solcher in Gottes Hand, Gottes Recht über und an ihm nicht entzogen, sondern unterworfen, und zwar völlig, restlos unterworfen. Er bleibt im Bereich von Gottes Gerichtsbarkeit.
Eben diese Gerichtsbarkeit übt Gott aber auch aus. Davon kann also keine Rede sein, daß Gott es dabei, daß der Mensch sich ins Unrecht setzt, sein Bewenden haben, daß er sich des Menschen Unrecht gefallen ließe. Er wäre wieder nicht Gott, nicht der lebendige Gott nämlich, wenn er das auch nur könnte, geschweige denn wollte und täte: wenn er sich also damit begnügte, angesichts des menschlichen Unrechtes in sich selber im Rechte, sich selber treu zu sein und unangetastet – aber gewissermaßen nur theoretisch – auch sein Recht über und auf den Menschen zu behaupten, ohne es auszuüben, so also, daß seine Hand, in der er den Menschen unweigerlich hält und von der der Mensch unentrinnbar gehalten ist, untätig ruhen würde. Sein Recht ist das Recht des von ihm vollzogenen Gerichtes. Es
-- 597 --
ist nicht nur geltendes, es ist angewandtes Recht. Es ist das Recht, das Gott um seiner selbst willen (weil er kein toter, sondern ein lebendiger Gott ist!) und um des seinem Recht auch als Unrechttäter unterworfenen Geschöpfs und Bundespartners, des Menschen willen – und weil der Mensch in diesem doppelten Sinn sein ist, ihm gehört – noch einmal, auch in diesem Sinn: um seiner selbst willen ins Werk setzt.
Des Menschen Unrecht kann nicht seine Privatsache bleiben. Es geschieht in seinem Verhältnis zu Gott, wie es sich ja auch wesenhaft gegen ihn richtet. Es widerspricht, es widersetzt sich seinem Rechte. Eben damit fordert es das Gericht, die Anwendung seines Rechtes, das Walten seiner Gerechtigkeit heraus. Eben damit ist es ihrem Vollzug verfallen. Des Menschen Unrecht ist, da Gott ihm gegenüber in jenem doppelten Sinn im Recht ist, nicht haltbar, nicht tragbar. Es ist nicht zu dulden, daß der Mensch sich ins Unrecht setzt, des ihm von Gott gewährten Rechtes sich begibt und also im Bereich der Gerichtsbarkeit Gottes jene Bewegung vollzieht, in der er sich so stellt und so tut, als ob er ihr nicht unterworfen wäre oder doch irgendwohin entkommen könnte. Diese Bewegung geschieht in ihrer ganzen Ohnmacht und so wenig sie zum Ziel führen kann – und es steht der Mensch, der diese Bewegung vollzieht – unter dem Unwillen, unter dem überlegenen Widerspruch und Widerstand, unter dem Zorn Gottes. Indem Gott sein Recht anwendet und offenbart, kommt es zwischen ihm und dem Unrecht des Menschen – das muß aber sofort heißen: zwischen ihm und dem sich ins Unrecht setzenden Menschen – zum Konflikt und zur Krisis, in welcher nicht der sich ins Unrecht setzende Mensch Gottes, sondern kraft der unbedingten Überlegenheit seines Rechtes Gott des Menschen Richter ist. Es kann des Menschen Unrecht, d. h. aber der Mensch als Unrechttäter, in Gottes Gericht nicht bestehen. Gerechtigkeit Gottes heißt: Gottes Verneinung, Beseitigung, Hinwegfügung, Vernichtung des Unrechts und des Menschen als dessen Täter.
«Der Gott der Götter, der Herr, redet und ruft der Erde vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Von Zion her, der Krone der Schönheit, strahlt Gott auf. Unser Gott kommt und kann nicht schweigen; verzehrendes Feuer geht vor ihm her, und rings um ihn ist ein mächtiges Wetter. Er ruft dem Himmel droben zu und der Erde, um sein Volk zu richten. Versammelt ihm seine Frommen, die mit ihm beim Opfer einen Bund geschlossen! Und die Himmel sollen seine Gerechtigkeit verkünden; denn Gott selbst will Richter sein» ( Ps. 50, 1-6). «Du bist nicht ein Gott, dem gottloses Wesen gefällt; wer böse ist, darf nicht bei dir weilen» ( Ps. 5, 5). «Darum werden die Gottlosen nicht bestehen im Gericht, noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten; aber der Gottlosen Weg führt ins Verderben» ( Ps. 1, 5 f.). «Das Antlitz des Herrn steht wider die Übeltäter, daß er ihr Gedächtnis vertilge von der Erde» ( Ps. 34, 17). «Die Feinde des Herrn sind wie die Pracht der Auen; sie schwinden hin, wie Rauch schwinden sie hin» ( Ps. 37, 20). «Deine Pfeile haben mich getroffen und deine Hand ist auf mich herabgefahren. Nichts Gesundes ist an meinem Fleische ob deines Grolls, nichts Heiles ist an meinen Gebeinen ob meiner Sünde. Denn meine Missetaten gehen über mein Haupt, wie eine schwere Last erdrücken sie mich» ( Ps. 38, 3 f.) «Wir
-- 598 --
vergehen durch deinen Zorn, fahren plötzlich dahin durch deinen Grimm. Du hast unsere Sünden vor dich gestellt, unser Geheimstes in das Licht deines Angesichts. Ja, alle unsere Tage schwinden durch deinen Zorn, unsere Jahre gehen dahin wie ein Seufzer» ( Ps. 90, 7 f.). Aber das sind ja nur ein paar herausgegriffene Stimmen aus dem großen alttestamentlichen Chor der Zeugen jener Krisis, in der Gott des sündigen Menschen Richter wird. Und das Neue Testament bestätigt dieses Zeugnis – auf Grund einer noch ganz anderen Anschauung als die, die die Menschen Israels in der Folge der über ihr Volk gehenden Heimsuchungen haben konnten: «Welche Verbindung könnte bestehen zwischen Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit und welche Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis?» ( 2. Kor. 6, 14). Und an entscheidender Stelle: «Gottes Zorn ist offenbart vom Himmel her gegen alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit darniederhalten» ( Röm. 1, 18).
Man bemerke, daß das immerhin auch und zuerst bedeutet: Es ist Gott nicht zu gering, sein Recht, seine Herrschaft, seinen Anspruch als Schöpfer und Bundesherr gegen des Menschen Unrecht und gegen den Menschen als dessen Täter zu verteidigen und durchzusetzen, es auf jene Krisis ankommen zu lassen. So sehr ist er am Menschen beteiligt, so sehr liegt ihm sein Recht über ihn und auf ihn am Herzen und in solcher Konsequenz betätigt er es! So wenig duldet er des Menschen Abweichung aus der Übereinstimmung mit seinem göttlichen Rechte! Und so wenig auch des Menschen Preisgabe seines eigenen Rechtes. So ein lebendiger Gott ist Gott und so notwendig und vollständig das Walten seiner Gerechtigkeit!
Haben wir nicht schon damit indirekt und implizit etwas ganz Anderes, ein den Begriffen Unwillen, Widerspruch, Widerstand, Zorn Gottes scheinbar gerade Entgegengesetztes gesagt? Haben wir nicht schon damit gesagt: so notwendig und vollständig ist das Walten seiner Gnade, so ein gnädiger Gott ist Gott!? Jawohl, sicher haben wir damit indirekt bereits dieses ganz Andere gesagt! Was ist denn das für ein Wille Gottes, in welchem er von Ewigkeit her gerade dem Menschen koexistieren wollte? Indem er frei und indem es ihm nicht zu gering war, gerade das, sich selbst in seinem ewigen Sohn und Wort gerade in solcher Koexistenz zu wollen; offenbar sein freier Gnadenwille! Was ist denn das für ein ewiger Beschluß Gottes, in welchem er umgekehrt – und wieder in seinem ewigen Sohn und Wort – gerade den Menschen zu solcher Koexistenz mit sich selber erwählte? Indem er solches dem Menschen nicht schuldig war und indem ihm der Mensch nun doch nicht zu gering war, solches über ihn zu beschließen: offenbar der Beschluß seiner ewigen freien Gnadenwahl! Was für eine Tat Gottes die Erschaffung des Menschen, seine Begabung und Ausstattung mit dieser seiner menschlichen Natur in ihrer Bestimmung und Ausrichtung zu seinem Dienst, die Begründung seiner Existenz mit ihrer von seiner eigenen verschiedenen und nun doch schlechterdings auf seine eigene Existenz bezogenen Wirklichkeit? Indem des Menschen Planen, Wollen und Vermögen darin nichts, die Weisheit der Entscheidung und Tat Gottes Alles ist: offenbar Gottes unbegreifliches Gnadenwerk! Was kann also sein Recht über und auf den
-- 599 --
Menschen, indem es, in dem inneren Recht seiner Gottheit begründet, höchstes und strengstes Recht ist, Anderes sein als das Recht seiner Gnade – und was dessen Ausübung und Anwendung in seiner Gerechtigkeit Anderes als in seinem Kern und Wesen der Vollzug seiner Gnade? Oder ist das nicht als Werk der Gerechtigkeit Gottes – was immer in ihm geschehe, was immer dabei zu bedenken und dazu zu sagen sei – zugleich das Werk seiner Gnade: daß ihm auch das nicht zu gering ist, gerade gegen das Unrecht des Menschen und damit gegen den das Unrecht tuenden Menschen in jenen Streit einzutreten? Wird man also nicht sagen müssen, daß schon in dem in diesem Streit ausbrechenden Unwillen, ja Zorn Gottes, in dem grimmigen «Hinweg mit dir!», das da dem Unrecht des Menschen, aber damit auch dem Menschen als seinem Täter widerfährt, letztlich und eigentlich Gnade waltet: das göttliche Ja tief unter dem Nein, sofern doch auch in diesem Nein die freie Zuwendung Gottes zum Menschen wirksam ist? Gott hat sein Angesicht jedenfalls nicht von ihm abgewendet. Er hat seine Hand jedenfalls nicht von ihm zurückgezogen. Er hört jedenfalls nicht auf, sondern fährt fort – sei es denn also in dieser Weise – mit ihm zu reden und an ihm zu handeln. Er sieht ihn jedenfalls nach wie vor als seinen Erwählten. Er begegnet ihm jedenfalls auch so – und das, sei es denn in schmerzlicher, aber jedenfalls in höchst intensiver Weise – als sein Gott, und behandelt ihn jedenfalls auch so als seinen Menschen. Er hält auch in der Verborgenheit dieser Krisis Gemeinschaft mit ihm, und weil diese Gemeinschaft in allen ihren Formen und so auch in dieser auf seinem göttlichen Recht beruht, ein Werk seiner Gerechtigkeit ist, weil sie aber eben als seine frei eingegangene Gemeinschaft mit dem Menschen nicht anders denn als Gnade verstanden werden kann, wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß Gott dem Menschen auch in Form dieses von ihm her über ihn und sein Unrecht hereinbrechenden Gerichtes gnädig ist.
Die über den Menschen in seiner Begegnung mit Gottes Gerechtigkeit hereinbrechende Krisis, in der verborgen doch seine Gnade gegenwärtig und am Werke ist, wird in der Bibel oft unter dem Begriff der Züchtigung beschrieben. «Wohl dem Manne, den Gott zurecht weist! So verwirf nicht die Zucht des Allmächtigen!» ( Hiob 5, 17). Denn: «Ich strafe und züchtige alle, die ich lieb habe» (Apok. 3, 19). Gerade daß bei Gott Gnade ist, wird Ps. 62, 13 in nur scheinbarem Paradox damit begründet und darin erkannt, daß er «einem Jeden vergilt nach seinem Tun». Die große hier maßgebende Anschauung ist die des Vaters, der seinem Sohn gerade damit väterliche Liebe erweist, daß er ihm in Ausübung seines väterlichen Rechtes hart begegnet. So Spr. 3, 11 f.: «Mein Sohn, verwirf nicht die Züchtigung des Herrn und sei nicht unmutig ob seiner Strafe; denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er wie ein Vater, der seinem Sohn wohl will.» Und so Hebr. 12, 7 f.: «Wenn ihr Züchtigung erduldet, begegnet euch Gott als Söhnen; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigte? Seid ihr aber ohne Züchtigung . . . so seid ihr ja unechte Kinder und nicht Söhne.» Die Urform dieser Anschauung, in der auch ihr heilsgeschichtlicher Charakter sichtbar wird, dürfte in der dem David im Blick auf seinen Sohn gegebenen Verheißung 2. Sam. 7, 14 f zu finden sein: «Ich will ihm Vater sein und er soll mir Sohn sein. Wenn er sich vergeht, will ich ihn . . . züchtigen, aber meine Gnade
-- 600 --
will ich ihm nicht entziehen.» Auch der Zorn Gottes ist absichtsvoll, nicht absichtslos, nicht sinnlos, darum auch nicht grenzenlos: so wenig, daß seine Dauer im Verhältnis zu der lebenslänglichen, ja ewigen Güte Gottes ( Ps. 30, 6, Jes. 54, 8) kühn genug als die eines Augenblickes bezeichnet werden kann. Sodaß man die biblischen Menschen, gewiß ohne Verkennung seines Ernstes, aber gewiß wieder sehr kühn mit seiner Begrenztheit förmlich rechnen sieht: «Du wirst dich erheben, dich Zions erbarmen; es ist Zeit, Gnade zu üben, die Stunde ist da» ( Ps. 102, 14) – und auf sein Walten auch immer wieder zurückblicken sieht: «Gezüchtigt hat mich der Herr, aber dem Tode nicht übergeben» ( Ps. 118, 18) – dies die Stelle, die wohl Paulus 2. Kor. 6, 9 vor Augen stand: «. . . als Sterbende und, siehe, wir leben – als Gezüchtigte, aber doch nicht getötet». «Denn du hast uns geprüft, o Gott, hast uns geläutert, wie man Silber läutert, du hast uns ins Netz geraten lassen, hast drückende Last auf unsere Hüfte gelegt, hast Menschen über unser Haupt dahinfahren lassen. Wir sind durch Feuer und Wasser gegangen, aber du hast uns herausgeführt ins Weite» ( Ps. 66, 10 f.). «Jede Züchtigung scheint zwar für die Gegenwart nicht der Freude zu dienen, sondern der Traurigkeit; nachher aber bringt sie den durch sie Ertüchtigten (τοῖς δἰ αὐτῆς γεγυμνασμένοις ) friedvolle Frucht der Gerechtigkeit» ( Hebr. 12, 11). Wo diese Frucht aufgeht, da ist offenbar der entsprechende Same gesät worden!
Wir mußten diese Feststellung über Gottes Gnade im Walten seiner Gerechtigkeit allem Weiteren vorausschicken. Ihre Begründung wird sichtbar im Ziel dieses Geschehens, wo Gottes Gnade offenbar ist in der Vernichtung des Unrechts, in der neuen Aufrichtung des verspielten und verlorenen Rechts des Menschen. Es hängt aber die Erkenntnis alles Weiteren an der Erkenntnis, daß eben dieses Ziel des Waltens der göttlichen Gerechtigkeit seinem Anfang entspricht und nicht widerspricht, daß es von Anfang an diesem Ziel entgegenstrebt. Was Gott im Gnadenakt der Rechtfertigung des Gottlosen tut, ist kein Seitensprung, kein Taschenspielerkunststück, er selber in diesem Tun kein wunderlicher Deus ex machina, kein ungerechter, sondern der gerechte Richter. Es ist sein Tun gerade in seiner Gerechtigkeit von Haus aus das Walten seiner Gnade – das Tun seiner Gnade von Haus aus das Walten seiner Gerechtigkeit. Wie sollte es sonst verläßlich und also glaubwürdig und also des sündigen Menschen wirkliche Errettung, seine Erkenntnis des sündigen Menschen echter, haltbarer, aller Anfechtung und allem Zweifel siegreich trotzender Trost sein? Wie sollte es sonst erlaubt und möglich sein, zu bekennen: «Gerechtfertigt aus Glauben haben wir Frieden mit Gott» ( Röm. 5, 1)? Die alles bloße Meinen und Vermuten übersteigende subjektive Erkenntnis, die in diesem christlichen Bekenntnis laut wird, ruht in der objektiven Erkenntnis, daß die gnädige Rechtfertigung des Menschen das Werk von Gottes ewiger Gerechtigkeit ist.
Diese Vorwegnahme darf uns nun aber wieder nicht hindern, dem ganzen Ernst der über den Menschen in seiner Begegnung mit Gottes Gerechtigkeit hereinbrechenden Krisis vorbehaltlos ins Gesicht zu sehen. Wir sprachen von der in Gottes Gerechtigkeit tief verborgenen Gnade, die sich uns Menschen, den Unrechttätern, nur von Gott her erschließen kann, nicht aber einfach erschlossen ist oder von uns her sich erschließen läßt: als brauchten wir seine Gerechtigkeit gewissermaßen nur
-- 601 --
umzukehren, um zu entdecken, daß ihre andere Seite seine Gnade ist, oder als könnten wir seine Gerechtigkeit durchschauen, wie man durch einen Schleier hindurchsieht, um so im voraus getrost festzustellen, daß das eigentliche, was in Gottes Gericht gemeint und beabsichtigt ist, seine Gnade ist. Woher wollen wir denn das wissen? Die Gnade seiner Gerechtigkeit ist in sich selbst – und es ist ihre Erkenntnis (sie ist also ontisch und noetisch) seine freie, uns weder praktisch verfügbare, noch theoretisch begreifliche Gnade. Wohl ist er sich selbst darin treu, wohl ist es in seinem göttlichen Recht begründet, daß er uns im Walten seiner Gerechtigkeit gnädig ist. Das bedeutet aber nicht, daß wir von uns aus in der Lage wären, mit seiner Gnade zu rechnen, auf ihr zu bestehen, auf sie zu pochen, sie für uns selbst geltend zu machen und zu beanspruchen. Dazu muß und soll es allerdings kommen. Das tut ja der Glaube, wie es in den Psalmen oft und erstaunlich genug sichtbar wird. Das tut aber gerade der Glaube in keiner vorwitzigen Disposition, in keiner Eigenmächtigkeit, sondern in einer Freiheit, die dem Menschen nur geschenkt sein kann, die mit seinem Vermögen nichts zu tun hat, die allein darauf beruht, daß Gott selbst ihn durch die Offenbarung seiner Gnade, durch das Wort seiner Verheißung in die Lage versetzt hat, solches zu tun: Gnade zu heischen. Gerade der glaubende Mensch weiß wohl, daß er von sich aus durchaus nicht in der Lage ist, sich auch nicht in die Lage versetzen kann, solches zu tun. Gerade er erkennt sich ja als den Menschen, der vor Gott im Unrecht ist und also zu solchem Tun kein Anrecht hat. Es hat der Mensch, der vor Gott im Unrecht ist, keine Einsicht in Gottes in seiner Gerechtigkeit verborgene Gnade, geschweige denn, daß er einen Anspruch, geschweige denn, daß er einen Griff auf sie hätte. Obwohl und indem sie dort auch für ihn verborgen gegenwärtig und am Werk ist, geht sie ihn doch gar nichts an. In der Tat seines Unrechts protestiert er ja selbst gegen sie, existiert er ja (in höchstem Widerspruch gegen sein Sein als Gottes Geschöpf und Bundespartner) als ein solcher, den sie nichts angeht, der nicht von ihr leben, ihr nicht gehorsam sein will, der sie vielmehr flieht und haßt. Das ist ja des Menschen Hochmut, der seine Sünde ist: daß er von Gottes Gnade nichts wissen will. Und das ist sein Fall: daß er nun wirklich nichts von ihr weiß und, von ihr abgewendet, auch keine Zuflucht zu ihr haben, auf sie nicht rekurrieren kann. Wie und woher sollte er nun auf einmal doch einen gnädigen Gott haben?
Nein, er hat keinen gnädigen, er hat einen zornigen Gott. Er will ihn so haben und eben so hat er ihn nun. Die Krisis, die damit über ihn hereinbricht, daß Gott sich sein Unrecht nicht gefallen läßt, sondern sein Recht über und auf ihn ins Werk setzt und also in seiner Gerechtigkeit gegen ihn einschreitet, ist total und unvermeidlich. Er, der sich vor Gott ins Unrecht setzt, kann und wird vor ihm nicht bestehen. Er ist als dieser Mensch vor Gott vollständig und rettungslos unmöglich. Denn das
-- 602 --
Unrecht ist Graus und Greuel vor Gott. Es muß schlicht und unbedingt weg. So majestätisch ist Gottes Recht ihm gegenüber. Die Existenz des Unrechts vor ihm ist unhaltbar. Es wird von Gottes Leben erfaßt, verzehrt, vertilgt wie trockenes Holz vom Feuer. Das ist das Geschehen seiner Gerechtigkeit. Was in ihr geschieht, ist also das Hereinbrechen einer Katastrophe. Und nun existiert das Unrecht eben nicht in abstracto, sondern in der Tat und also im Herzen des Menschen. Nun gibt der Mensch ihm Wesen und Gestalt, die es, da es ja kein Geschöpf Gottes ist, an sich gar nicht haben könnte, gibt ihm Raum und Wirklichkeit in der geschaffenen Welt, zu der es doch gar nicht gehört, in der es eine Kategorie seiner Möglichkeit gar nicht gibt. Nun ist der Mensch der finstere Ort, wo das Unrecht sich in seiner Nichtigkeit festsetzen, breit machen, ausleben darf, als ob es ein Recht dazu hätte. Nun ist es also der Mensch, der den Zorn Gottes herausfordert, der mit der Gerechtigkeit Gottes in Konflikt kommt, über den sie als Krisis, als Katastrophe, als Krankheit zum Tode hereinbricht. Nun ist er der vor Gott Unmögliche und Unerträgliche, der vor ihm nicht bleiben, nur verschwinden kann. Nun ist also seine Existenz unhaltbar. Nun ist er mit dem majestätischen Rechte Gottes konfrontiert. Nun muß also er weg. «Kein Heil für den Gottlosen! spricht der Herr» ( Jes. 48, 22; 57, 21). Das gilt ihm! Eben aus diesem Gericht Gottes, vor diesem Urteil und dessen Vollzug gibt es für ihn kein Entrinnen – und zuallerletzt mittels der theologisch so richtigen Überlegung, daß Gottes Gerechtigkeit doch im Tiefsten die des gnädigen Gottes ist. Eben das geht nämlich – indem es wohl wahr ist – den Menschen als Unrechttäter gar nichts an, ist für ihn völlig bedeutungslos. Diesem Menschen muß vergolten werden. und wird vergolten nach seinem Tun. Dieser Mensch muß sterben, und es ist – wohlverstanden! – gerade die ihm verborgene Gnade der Gerechtigkeit Gottes, die diese Vergeltung verlangt, kraft derer er nicht leben darf, sondern sterben muß. Gott wäre ihm nicht gnädig und es wäre ihm auch nicht gut – was hätte er schon davon? – wenn er nicht sterben müßte, sondern leben dürfte, wenn ihm Gottes Gericht nicht – und nicht in seiner ganzen unentrinnbaren Strenge und Vollständigkeit – widerfahren würde.
Wir sprechen von diesem Menschen: dem Menschen als Unrechttäter, dem Menschen, der sich selbst mit dem Unrecht identifiziert hat und eben damit der göttlichen Verneinung, Beseitigung, Hinwegfegung, Vernichtung verfallen ist. Gibt es noch einen anderen Menschen? Sollte der Mensch, indem er dieser ist, auch noch ein ganz anderer sein? Das ist sicher, daß er auch als dieser Mensch nicht aufgehört hat, Gottes Erwählter und gutes Geschöpf zu sein. Aus der Hand Gottes herauszufallen, sich gewissermaßen herauszustürzen, ist das, was ihm auch als Unrechttäter nicht gelingen kann. Und das bedeutet: es kann ihm, auch indem er sich selbst mit dem Unrecht identifiziert, nicht gelingen, sich selbst als Mensch, der Gottes Werk und Eigentum ist, aufzuheben. Wie Gott bleibt, der er ist,
-- 603 --
so bleibt auch der Mensch, der er ist: auch im Hereinbrechen jener Katastrophe, auch im verzehrenden Feuer des göttlichen Zornes, auch in der Krankheit zum Tode, auch indem er weg muß, auch in seinem Vergehen und Sterben. Muß er das ohnmächtig erleiden, so heißt das nicht, daß er mächtig wäre, sich selbst in seiner Existenz als Gottes Erwählter und gutes Geschöpf ein Ende zu setzen, was ja nun doch bedeuten würde: daß er mächtig wäre, dem Bereiche Gottes zu entfliehen, dem Willen Gottes wirksam zuwider zu sein.
Eben das hat bekanntlich Jona versucht: «Er machte sich auf, aus dem Angesichte des Herrn hinweg, nach Tharsis zu fliehen und ging nach Joppe hinab. Da fand er ein Schiff, das nach Tharsis fuhr, bezahlte den Fahrpreis und stieg ein, um mit nach Tharsis zu fahren, hinweg aus den Augen des Herrn» ( Jona 1, 3). Aber eben das ist ihm bekanntlich nicht gelungen. Wie Gott selbst ihm gegenüber der blieb, der er war, so blieb auch er, der er vor Gott war; er blieb sogar sein beauftragter Prophet. Er blieb es, als der gewaltige Sturm ausbrach und als er diesen, wie der Mensch es im hereinbrechenden Gericht Gottes gerne zu tun pflegt, im untersten Schiffsraum in festem Schlaf zu überdauern gedachte. Er blieb es, als er dann selbst ins Meer geworfen sein wollte und als ihm dies denn auch wirklich geschah. Er blieb es auch im Bauch des großen Fisches und also in der letzten Tiefe des über ihn ergehenden göttlichen Gerichtes. Und so war dann auch seine Rettung eigentlich keine Neuigkeit, sondern die Ausführung des unabänderlichen göttlichen Ratschlusses, gegen den er sich vergeblich gesträubt hatte.
Ist es nun so, daß der Mensch als Unrechttäter Gottes strengem, radikalem und definitivem Gericht verfallen ist und nun doch fortfährt, als Gottes Erwählter und gutes Geschöpf ihm zu gehören, dann heißt das: die Gerechtigkeit Gottes kommt auch in dem Sinn als Krisis über ihn, daß ihm in ihrem Vollzug eine seine Existenz in ihrer Wurzel treffende und durchschneidende, ihn selbst zur Linken und zur Rechten sondernde Scheidung widerfährt. Wer und Was ist er nun eigentlich? Zur Linken bestimmt er selbst als Täter des Unrechts, mit dem er sich identifiziert hat und bei dem er in Gottes Gericht behaftet wird – zur Rechten ebenso bestimmt er selbst, der doch auch als Täter des Unrechts und in Gottes ihm als solchem widerfahrenden Gericht nicht aufhört, Mensch, Gottes Eigentum, in seinem Bereich, Gegenstand seines positiven Wollens und Beschließens, unterwegs nach dem ihm von Gott gesteckten Ziel zu sein. Und also: zur Linken er selbst als der Mensch, der weg muß, der, von Gottes Zorn ereilt, nur sterben und vergehen kann, ja schon getötet und erledigt ist – zur Rechten wieder er selbst, der auch in diesem Sterben und Vergehen, ja Vergangensein Gottes Gegenüber, Gegenstand seiner Absichten, von seinem Leben umfangen und gehalten bleibt. Anders ausgedrückt: zur Linken der Mensch als um seines Unrechts willen Verdammter, Verworfener und Verlassener – zur Rechten derselbe Mensch als der von Gott in seiner Verdammnis, Verworfenheit und Verlassenheit Verschonte, Bewahrte, zur Ausführung seines Willens und Planes Erhaltene. Halten wir sofort fest: Gerecht, weil in Konsequenz seines eigenen
-- 604 --
Rechtes, seiner Treue gegen sich selbst, und in Ausübung seines Rechtes über und auf den Menschen handelt Gott nach beiden Seiten: gerecht in seinem den Sünder mit seiner Sünde verzehrenden Zorn zur Linken, aber gerecht auch zur Rechten in der Begrenzung, genauer gesagt: in der Sinngebung seines Zornes, in seinem Festhalten am Menschen selbst, der auch als Sünder, dem er nur zürnen kann, sein Mensch ist. Und Gott ist gerecht auch in dieser Scheidung als solcher: Denn wie wäre seinem Recht genug getan, wenn er allein zur Linken zürnen oder allein zur Rechten verschonen würde? wenn er die Identifizierung des Menschen mit dem Unrecht anerkennen, sich also damit begnügen würde, das Unrecht mit dem Unrechttäter aus der Welt zu schaffen? Oder wenn er den Menschen ohne Rücksicht auf das von ihm begangene Unrecht, auf seine Identifizierung mit diesem, leben und gelten ließe um den Preis, daß dann auch das Unrecht, dessen Täter der Mensch ist, nicht vertilgt, das Daseinsrecht des Unrechts de facto anerkannt würde? Gottes Gerechtigkeit wäre nicht Gottes, nicht rechte Gerechtigkeit, wenn sie nicht nach beiden Seiten ihren Lauf nähme, d. h. aber, wenn es in ihrem Vollzug nicht zu jener mitten durch des Menschen Existenz hindurchgehenden Scheidung käme.
Wir nehmen früher Gesagtes auf, wenn wir zunächst dazwischenschieben: Gottes Gerechtigkeit wäre auch dann nicht Gottes Gerechtigkeit, wenn diese Scheidung nicht als solche – und wenn nicht das, was dem Menschen zur Linken wie zur Rechten widerfährt – das Werk seiner Gnade wäre. Wir sahen, daß auch das, was Gott zur Linken tut, Gnade ist: indem es Gott nicht zu gering ist, seine Gemeinschaft mit dem Menschen wenigstens in Gestalt seines ihn um seines Unrechts willen verzehrenden Zornes faktisch fortzusetzen. Und wir sahen doch auch sachlich: daß es dem Menschen nicht gut wäre, als Täter des Unrechts bestehen und leben zu dürfen, daß es also Gnade ist, wenn er als solcher vergehen und sterben muß. Um wieviel mehr Gottes Werk zur Rechten, in welchem er den Menschen auch in dessen bodenlosem Fall nicht preisgibt, nicht aus seiner Hand entläßt, sein Sein als sein Geschöpf und Bundespartner nicht annulliert und auslöscht, ihm auch in der fernsten Fremde, in die er sich verirrt hat, Heimat bleibt, ihn auch im Tode mit seinem Leben umgibt und hält. Und gilt das nach beiden Seiten: daß das letzte Geheimnis der Gerechtigkeit Gottes seine Gnade ist, dann muß es doch wohl so sein, daß dem Menschen Beides und also ganze Gnade widerfährt: Zorn, Verderben und Tod dem Menschen der Sünde, Verschonung und Erhaltung dem Menschen, der auch als Sünder Gottes Erwählter und Geschöpf ist; dann muß also in Ausübung des Rechtes Gottes jene Scheidung vollzogen werden.
Aber nun müssen wir – auf die Gefahr hin, daß das Rätsel noch schwieriger erscheinen mag, – fortfahren: Gottes Gerechtigkeit (und also Gottes
-- 605 --
Gnade!) wäre auch dann nicht Gottes Gerechtigkeit (und also nicht Gottes Gnade!), wenn ihr Werk nicht nach beiden Seiten durchgreifen, als Gottes Werk ein echtes und vollkommenes Werk sein würde. Es ist also zur Linken nicht so, daß Gott den Menschen nur nominell verurteilen oder ihn mitsamt seinem Unrecht nur scheinbar vertilgen würde. Und es ist also auch nicht so, daß er ihn nur beinahe, nur halb vergehen und sterben ließe. Es ist aber wiederum auch zur Rechten nicht so, daß er ihn nur eben verschonen und erhalten, ihm also als seinem Erwählten und Geschöpf doch nur ein teilweises Recht – so ein kleines kümmerliches Daseinsrecht – lassen oder neu zusprechen und verleihen würde. Es ist vielmehr zur Linken so, daß Gott mit dem Menschen und seinem Unrecht aufs ernstlichste ins Gericht geht und also echt, wirklich und ganz aufräumt, daß dieser Mensch tatsächlich sterben muß, das Unrecht, mit dem er sich identifiziert hat, mit ihm tatsächlich ausgefegt und vernichtet wird: ein Ganzopfer, in dessen Lohe er und seine Sünde miteinander verzehrt werden, in Rauch und Gestank aufgehen und nachher nicht mehr da sind. Und es ist zur Rechten so, daß Gott sich seines Erwählten und Geschöpfs wiederum echt, wirklich und ganz annimmt, daß die Treue, die er ihm beweist, nicht nur wie ein müdes Lämpchen über ihm flimmert, sondern leuchtet wie die Sonne. Es sind die Worte «Verschonen», «Bewahren», «Erhalten», die wir bis jetzt für das Tun Gottes nach dieser Seite gebraucht haben, viel zu schwach, weil es sich hier, auf dieser positiven Seite des göttlichen Werks, um den positiven Ersatz des beseitigten Unrechts, um seine Verdrängung durch ein neues Recht des Menschen, weil es sich hier darum handelt, daß Gott an Stelle des toten, ungerechten, in Besiegelung von dessen Vergangensein den lebendigen, gerechten Menschen auf den Plan führt. Also: Gott tut dort wie hier, in seinem Nein wie in seinem Ja zum Menschen ehrliche und ganze Arbeit. Er schafft weder dort noch hier ein bloßes quid pro quo, ein bloßes «Als ob», sondern dort wie hier Realitäten. Er vollbringt dort nicht nur ein bißchen Abbau und hier nicht nur ein bißchen Aufbau, sondern dort wie hier, im Abbau wie im Aufbau, ein Vollkommenes. Und dementsprechend ist die dem Menschen in seinem Gericht widerfahrende Scheidung eine reale und totale. Wie sollte es anders sein, wenn Gottes Gerechtigkeit (und also Gottes Gnade!) in diesem Gericht am Werk ist?
Und nun muß hier noch eine letzte Bestimmung ans Licht gestellt sein. Wird sie das Rätsel lösen oder wird uns seine Unlösbarkeit – und die Aussicht auf seine göttliche Lösung! – erst in ihrem Lichte ganz deutlich werden? Wir müssen jedenfalls noch einmal fortfahren: Gottes Gerechtigkeit (und also Gottes Gnade!) wäre nicht Gottes Gerechtigkeit (und also nicht Gottes Gnade), wenn die durch sie vollzogene Scheidung des Menschen zur Linken und zur Rechten – des Menschen unter Gottes Nein dort und des Menschen unter Gottes Ja hier – den Sinn eines zuständlichen
-- 606 --
Dualismus hätte, will sagen: wenn ihr Ergebnis betrachtbar wäre als das statische Nebeneinander zweier Menschen, in deren je gesondertes Sein der eine Mensch gewissermaßen auseinandergerissen und geteilt wäre und in denen er sich nun gleichzeitig oder abwechselnd wiederzuerkennen, in deren Bild und Anblick er sich selbst zu verstehen hätte: jetzt ganz oder teilweise diesem Aspekt, jetzt ganz oder teilweise jenem verfallen, vielleicht auch in relativer oder auch absoluter Freiheit jetzt diesen, jetzt jenen Aspekt wählend. Was hatte jene Scheidung mit Gerechtigkeit und was hatte sie mit Gnade zu tun, wenn ihr Ergebnis diese Doppelexistenz des Menschen wäre? Wenn sie dieses schicksalhafte oder auch spielerische Hin und Her zwischen zwei – zwischen diesen beiden sich gegenseitig ausschließenden – Gestalten seines Daseins nach sich ziehen müßte: dieses Ab und Auf zwischen der äußersten Helle und der äußersten Finsternis? Wie würde dann Beides: daß Gott gegen und daß Gott für den Menschen ist, des Menschen Sein zur Linken und das zur Rechten, sein Tod und sein Leben, wie könnte dann die Vertilgung seines Unrechts und die Erhaltung und Aufrichtung seines Rechts real sein? Und was für ein Bild Gottes selbst müßte sich von da aus ergeben, was müßte Gott dann in Wirklichkeit sein! Was für ein Zwitterwesen der Allmächtige, der dem Menschen – offenbar in Entsprechung zu seinem eigenen inneren Widerspruch – nichts Besseres als diese Doppelexistenz zu bieten hätte! Und was für ein Selbstverständnis, und welches in diesem begründete menschliche Leben, das nur in jener Schaukel- oder Kreisbewegung bestehen könnte? Kann nun dieser zuständliche Dualismus, dieses statische Auseinander und Nebeneinander von zwei verschiedenen Menschen nur ein Produkt des Mißverständnisses und der Karikatur dessen sein, was hier zu sehen ist, so bleibt nur übrig, daß wir das Werk jener Scheidung des Menschen zur Linken und zur Rechten als die Ingangsetzung einer Geschichte zu verstehen haben, in welcher der Mensch zur Linken das Woher, der Mensch zur Rechten das Wohin des einen Menschen ist, jener er selbst als der, der er war und nur insofern immer noch ist – dieser wieder er selbst als der, der er sein wird, eben insofern doch schon ist. Kein in sich zweigeteiltes Sein dort und hier ist die Wahrheit des menschlichen Lebens unter dem Walten von Gottes Gerechtigkeit und also dem Walten seiner Gnade, sondern – unmöglich zu betrachten, nur eben als leidender und handelnder Beteiligter zu leben – das Drama des einen menschlichen Daseins selbst in seinem dynamischen Nacheinander und Ineinander. Jener war ich und bin ich noch: der Mensch als Unrechttäter, dessen Unrecht und dessen Dasein in seiner Identifikation mit seinem Unrecht vor Gottes Gerechtigkeit, vor dem Leben dessen, der ihm gegenüber in majestätischer Unbedingtheit im Rechte ist, nur vergehen kann und tatsächlich schon vergangen ist, dem Tode verfallen und unter Gottes Zorn tatsächlich gestorben, erledigt, vertilgt und vernichtet ist. Und dieser
-- 607 --
bin ich schon und werde ich sein: der Mensch, den Gott für sich erwählt und geschaffen hat, dessen Recht, von ihm selbst verspielt und verwirkt, von Gott aber geschützt, erhalten und neu aufgerichtet ist: seinem Unrecht zum Trotz und zum Trotz auch der Katastrophe, die über ihn als dessen Täter hereinbrechen mußte – vor Gott kein ungerechter, sondern sein gerechter Mensch: gerecht, weil in bewährter und erneuerter Übereinstimmung mit Gottes eigenem Recht. So behält Gott recht gegen den Menschen und für ihn, so betätigt und lebt er in seiner Begegnung mit ihm seine Gerechtigkeit. Und so lebt der Mensch vor ihm sein echtes, wirkliches Menschenleben: Einer und Derselbe, indem ihm diese Scheidung zur Linken und zur Rechten widerfährt, indem sein Leben in dieser Scheidung eine Folge, ein Sein in dieser Folge wird: sein Sein in der Gegenwart dieses Gestern und Heute, in dem Zugleich dieser Vergangenheit und dieser Zukunft. So, in dieser Geschichte erfüllt sich die Koexistenz dieser Beiden: Gottes und des Menschen. «Dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist wiedergefunden worden» ( Luk. 15, 32). Das ist der Mensch. Nein, das ist das Geheimnis des Handelns Gottes mit dem Menschen, das Geheimnis seines Waltens über der menschlichen Existenz. Denn wo waltete da nicht Gottes strenge Gerechtigkeit – und wo nicht, gerade in ihr, seine freie Gnade? Das, diese Geschichte ist Gottes Rechtfertigung des gottlosen Menschen, die iustificatio impii.
Aber nun sind wir doch wohl, erst indem wir sie so verstehen, auf ihr echtes und eigentliches Rätsel gestoßen.
Daß ich mich selbst in jenem Dualismus, in jenem statischen Nebeneinander zweier konträr entgegengesetzter Bilder meiner selbst sehe und verstehe, das möchte bei aller Schwierigkeit jene Konstruktion nachzuvollziehen, vorstellbar – oder doch zur Not vorstellbar zu machen – und also kein eigentliches Rätsel sein. Hier ich selbst in meiner empirischen Wirklichkeit: ein unbewußt Irrender und bewußt Fehlender, ich selbst in meiner nicht zu behebenden äußersten Fragwürdigkeit, ich selbst in meinem Vergehen, ja meinem schon vorauszusehenden und insofern schon gegenwärtigen Vergangen- und Erledigtsein. Und hier wieder ich selbst in meiner idealen Wahrheit: mein von dem Allem unberührtes menschliches Wesen, meine Eigentlichkeit, in der ich mich selbst und Allem, was gegen mich spricht, und so auch meinem nicht zu leugnenden Verfall gegenüber im Rechte und also letztlich geborgen weiß. Warum nicht? Als jener empirische und als dieser ideale Mensch dürfte ich mir irgendwo, wenn nicht auf der Oberfläche, so doch in der Tiefe meines Seins vorfindlich sein; mit dem Gegensatz von Empirie und Idealität umzugehen, läßt sich bekanntlich lernen; jener Dualismus läßt sich also vorstellbar machen. Ihn stellt man sich denn auch tatsächlich vor, und in dem Wechsel, in dem unruhigen und doch im Grunde ruhigen, aufregenden und doch letztlich auch zufriedenstellenden Auf und Ab, Hin und Her jener beiden
-- 608 --
Bilder mag es zu einer Selbstbetrachtung kommen, in der der Mensch tatsächlich lebt oder doch leben zu können meint. Wir reden von dem Grundschema aller natürlichen Erlösungsreligion und Lebensphilosophie. Ist dieses Schema nicht allen Menschen ohne weiteres bekannt, so kann man es doch kennen und dann auch gebrauchen lernen. Und bedeutet auch das Selbstverständnis in jenem Schema ein gewisses Rätsel, so darf seine Lösung doch als theoretisch erreichbar und auch als praktisch bis zu einem gewissen Grade vollziehbar bezeichnet werden. Nur eben: mit Gottes Gerechtigkeit und Gnade, mit dem, was der Mensch zur Linken und zur Rechten vor ihm ist, mit seiner Rechtfertigung durch ihn hat dieses Schema, hat jene Bilderschau, hat auch deren Rätsel und haben auch dessen approximative Lösungen nichts zu tun. Wie denn umgekehrt auch des Menschen göttliche Rechtfertigung mit der Unterscheidung und Beziehung zwischen einem empirischen und einem idealen Menschenbild gar nichts zu tun hat.
Des Menschen Rechtfertigung durch Gott gehört ja weder der empirischen noch einer idealen Welt an: so gewiß Gott, der in ihr handelt, Einer ist und als Schöpfer aller von ihm selbst verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit jenseits dieses Gegensatzes.
Wie denn auch gar nicht abzusehen ist, wieso der Mensch zur Linken gerade der empirische – und der ideale Mensch durchaus der Mensch zur Rechten sein sollte! Das entspricht zwar der bekannten platonisierenden Unterscheidung; eben diese deckt sich aber keineswegs mit der dem Menschen im Gerichte Gottes widerfahrenden Scheidung. Im Gegenteil: sollte nicht der sog. ideale Mensch das Spiegelbild des Hochmuts des von Gott zur Linken gestellten Menschen sein, der arme sog. empirische Mensch aber eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Menschen haben, zu dem Gott nur eben deshalb Ja sagt, weil er, so wie er ist, nicht aufgehört hat, sein Erwählter und sein Geschöpf zu sein?
Und des Menschen Rechtfertigung durch Gott ist ja ein Ereignis zwischen Gott und ihm, keine ruhende Beziehung zwischen ihrem Sein also, sondern Gottes und des Menschen Sein in einer bestimmten Bewegung, die als solche in zwei nebeneinandergestellten und betrachtbaren Bildern gar nicht wiederzugeben ist. Sie geschieht ja als Geschichte Gottes mit dem Menschen, und was in ihr zweierlei, aber auch eins ist, ist die Gerechtigkeit und Gnade des einen verurteilenden und freisprechenden, tötenden und lebendig machenden Gottes oben – und das diesem göttlichen Tun entsprechende dunkle Woher und helle Wohin des einen, sein Gericht erfahrenden Menschen unten: sein Übergang und Schreiten aus jenem Gestern in dieses Morgen, sein Kommen von seinem erledigten und vertilgten Unrecht und also von seinem eigenen Tod her, in welchem Kommen er auch – und das ist seine Gegenwart – geht, nämlich hinübergeht zu seinem neuen Recht und damit zu seinem neuen Leben.
Eben als diese Geschichte ist des Menschen Rechtfertigung ein echtes, eigentliches Rätsel, was der in jener Bilderschau aufzufangende
-- 609 --
Dualismus nun gerade nicht ist. Sie läßt sich eben in keiner Bilderschau – und wenn diese eine Schau bewegter Bilder wäre – auffangen. Das geht darum nicht, weil der in dieser Geschichte Gottes mit ihm lebende Mensch sich selbst in keinem Sinn vorfindlich ist. Wir nannten diese Geschichte ein von keinem Zuschauer betrachtbares, sondern nur von den an ihm Beteiligten zu lebendes Drama. Es gibt aber offenbar – man sollte in dieser Sache den Mund ja nicht zu voll nehmen – kein menschliches Selbsterlebnis dieses Dramas. Daß da unsere Geschichte im Gang ist, daß wir also an diesem Drama allerdings gar sehr beteiligt sind, das muß ganz anders wahr und wirklich sein als in irgend einer Tiefe unseres Selbst und als Wahrheit ganz anders zu erkennen als in der Anschauung irgend eines der uns in diesen Tiefen begegnenden Phänomene. Wo und wann fänden wir denn uns selbst in jener Gegenwart vor: im Übergang und Schreiten aus jenem Gestern in jenes Morgen? In welcher Vergangenheit unserer Zeit sähen wir denn unser Unrecht tatsächlich erledigt, vertilgt, vernichtet und mit ihm uns selbst tatsächlich getötet, begraben und abgetan hinter uns? Und in welcher Zukunft unserer Zeit unser Recht aufgerichtet, uns selbst als Gerechte und also freigesprochen zum Leben vor uns? Wann und wo entdeckten wir uns selbst in der Verschiedenheit und Einheit dieses Gewesenseins und dieses Seinwerdens? Wann und wo könnten wir uns also als die von Gott Gerechtfertigten vorstellbar werden?
Wir müßten uns, sollte die Rechtfertigung ein in uns selbst erlebbares Geschehen, sollten wir uns in ihr vorfindlich und also kein Rätsel, sondern vorstellbar sein, an einer wichtigsten Stelle unserer bisherigen Erwägungen getäuscht haben und also rückwärts lesen müssen: es müßte dann nämlich das Gericht Gottes zur Linken und zur Rechten doch so durchgreifend, so total nicht sein, wie wir es angenommen haben. Supponieren wir einen Augenblick: Wie, wenn des Menschen Unrecht so groß, wenn es das radikal Böse, als das wir es in Rechnung gesetzt, gar nicht wäre, der Konflikt zwischen Gottes Gerechtigkeit und ihm darum gar nicht so herb, der Zorn Gottes gar nicht so verzehrend, die über den Menschen hereinbrechende Katastrophe gar nicht so schlimm: kein reales, sondern nur ein teilweises, wohl gar nur figürliches Vergehen und Sterben? Und wie, wenn auf der anderen Seite auch Gottes Ja zum Menschen doch nicht so mächtig und eindeutig, des Menschen neues Recht nicht so fest und also die Verdrängung seines Unrechts nicht so klar, definitiv und gewiß, das Tun Gottes also auch zur Rechten kein vollkommenes wäre? Wie, wenn zur Linken wie zur Rechten alles nur relativ, nicht absolut, der Gegensatz bloß ein quantitativer und nicht ein qualitativer wäre: relativ und quantitativ also auch der Übergang von dort nach hier, vom Gestern ins Heute? Es ist wahr: in solchem Übergang, Kommen und Gehen würden wir uns, wie gewaltig der Schritt auch sein möchte, grundsätzlich erlebbar und also auch vorfindlich und dann wohl auch vorstellbar sein. Solches Gericht in solchen nach rückwärts und vorwärts vielleicht sehr ernsten, sehr bedeutungsvollen, aber doch nicht ganz ernsten und gerade nicht entscheidenden Geschichten kennen wir! Solche Geschichten, solche Peripetien und Revolutionen gibt es! Und in ihnen uns selbst zu erleben und also auch in gewissen Grenzen zu sehen und zu verstehen, ist nicht einfach unmöglich. Aber eben: um die Gerechtigkeit und um die Gnade Gottes, der nach links wie nach rechts ehrliche und ganze Arbeit tut, ginge es ja dann gar nicht: nicht um die Revolution Gottes. Eben nach ihr fragen wir aber und können eben darum nicht zurücklesen, die Sache uns nicht leichter machen, als sie nun einmal ist.

-- 610 --
Stehen wir in seinem Gericht, in der von ihm in Gang gesetzten Geschichte, dann heißt das: daß der Gegensatz zwischen unserem Gestern und unserem Morgen ein absoluter und qualitativer ist, daß es da von links wie von rechts her keine Halbheiten und also keine Abschwächungsmöglichkeiten gibt, daß unsere Situation nach rückwärts wie nach vorwärts ganz ernst, die Situation schlechthiniger Entscheidung ist. Und eben in dieser ganz ernsten, in dieser entscheidenden Situation – «als die Sterbenden, und siehe, wir leben» – kennen wir uns nicht, haben wir uns nie gekannt, werden wir uns nie kennen. Daß diese Geschichte meine Geschichte ist, ich der von Gottes Gerechtigkeit und Gnade so gewaltig Geschiedene, daß ich in diesem Übergang begriffen, ich der an jenem Drama beteiligte Mensch bin – das, was vom verlorenen Sohn berichtet ist, Bericht über mich selbst ist, das sehe ich nicht, das verstehe ich also auch nicht. Daß er sich selbst als den verlorenen Sohn erlebe und also verstehe, das sollte darum niemand von sich behaupten wollen, weil es von jenem heißt, daß er tot war und lebendig geworden, verloren und wieder gefunden worden sei. Eben das sollte niemand als Ausdruck seines Selbstverständnisses behaupten wollen! Eben daß der Mensch dieser verlorene Sohn tatsächlich ist, das ist vielmehr das echte und eigentliche Rätsel, vor dem wir hier stehen.
Nun, dieses Rätsel ist nicht sinnlos. Es ist ein echtes, eigentliches Rätsel, sofern es für uns unlösbar ist: nicht lösbar auf Grund irgend eines Selbsterlebnisses und also nicht lösbar in der Entfaltung irgend eines Selbstverständnisses. Es ist aber ein ganz anders – und nun faktisch doch auch des Menschen Erkenntnis (seiner Erkenntnis der Offenbarung Gottes nämlich!) nicht verborgen – gelöstes Rätsel. Es ist nämlich Alles genau so, wie wir es jetzt als in uns selbst nicht vorfindlich, für uns also nicht vorstellbar und also als schlechthin rätselhaft bezeichnet haben. Das Scheiden der Gerechtigkeit und Gnade Gottes, wie wir es beschrieben haben, ist Ereignis: ein zur Linken wie zur Rechten – in jenem Scheiden des Schöpfergottes zwischen Licht und Finsternis, den Wassern droben und drunten, der Erde und dem Meer gewaltig präfiguriert – durchgreifendes, totales, definitives Scheiden. Und die in diesem Ereignis geschaffene, schlechterdings ernste Situation ist tatsächlich unsere Situation. Da ist unser Unrecht und unser Tod tatsächlich hinter, unser Recht und unser Leben tatsächlich vor uns. Und das ist wirklich unsere Gegenwart: unser Übergang aus jener Vergangenheit in diese Zukunft. In jenem großen Drama sind wir also wirklich Beteiligte. Jene Geschichte ist wahrhaftig unsere eigene Geschichte. Wir müssen sogar sagen: sie ist unsere eigenste Geschichte – in unverhältnismäßig viel direkterer, intimerer Weise unsere Geschichte als alles, was uns in unserem Selbsterlebnis als unsere Geschichte vor Augen stehen mag, was wir in Explikation unseres Selbstverständnisses als unsere Geschichte darstellen wollen
-- 611 --
könnten. Ja, sie ist rätselhaft. Aber ihrer großen Rätselhaftigkeit zum Trotz: Nicht sie ist ein Märchen oder ein Mythus, sondern verglichen mit ihr, gemessen an ihrer Realität ist alles das Märchen und Mythus, was wir – in Enträtselung von Rätseln, die eben keine echten und eigentlichen Rätsel sind – von uns selbst zu wissen meinen: unsere Lebensgeschichten, aber sogar die Summe aller unserer Lebensgeschichten, das, was man die Weltgeschichte zu nennen pflegt – so nämlich, wie sich das Alles uns darstellt, wie wir uns unsere Existenz, wir Menschen die Existenz der Menschheit, uns zurechtzulegen, zu konstruieren pflegen, so, wie wir uns in den bekannten relativen, quantitativen Scheidungen und Übergängen unseres Daseins erleben, vorfinden und dann auch vorstellen! Um von jener Bilderschau, in der wir uns jetzt in einer empirischen, jetzt in irgend einer idealen Gestalt zu besitzen und zu kennen meinen, gar nicht zu reden! Hier – gerade im Bereich unserer vermeintlichen oder auch wirklichen Zuständigkeit – sinnieren, postulieren, spekulieren wir nämlich, hier flunkern, hier spinnen, schweifen und träumen wir auch weithin. Hier phantasiert nämlich unsere Vernunft und vernünftelt unsere bescheidene Dichterkraft Hier produzieren wir Bilder von Ereignissen und Gestalten, denen gegenüber die Frage: ob und inwiefern sie uns etwas angehen möchten? was wir denn mit ihnen zu schaffen haben sollen? am Platz sein dürfte. Hier sind wir in Wahrheit keineswegs bei uns selbst, sondern «existieren» wir enthusiastisch in irgend einer höheren oder auch niederen «Transzendenz». Hier ist Vorsicht, Zurückhaltung, ja Skepsis geboten. Die Geschichte, in der wir ohne allen Zweifel, in der wir schlechterdings und unmittelbar – eben als in unserer eigensten Geschichte bei uns selbst sind – ist gerade die Geschichte von des Menschen Rechtfertigung durch Gott in der unabgeschwächten Gegensätzlichkeit jenes Übergangs aus unserem unter Gottes Nein stehenden Gestern in unser unter Gottes Ja stehendes Morgen. In seiner ganzen Rätselhaftigkeit ist gerade sie unser wahres und wirkliches, von jedem Märchen und jedem Mythus verschiedenes Heute.
Was macht sie uns so rätselhaft? Sie muß uns schon rätselhaft sein. Es hat schon seinen Grund, daß wir uns selbst gerade in diesem unserem realen Heute nicht erlebbar, nicht auffindbar und also auch nicht vorstellbar sind. Unser reales Heute – das Heute unseres wahren und wirklichen Übergangs vom Unrecht zum Recht, vom Tode zum Leben und also das Heute des uns durch Gottes Gerechtigkeit und Gnade widerfahrenden Gerichtes ist uns allerdings ein fremdes Heute. Wir müssen ihm jetzt seinen Namen geben und das entscheidende Wort aussprechen, das wir bis jetzt zurückgehalten haben: es ist das Heute Jesu Christi. Der Tag des uns widerfahrenden Gerichtes, des Zusammenstoßes der Gerechtigkeit Gottes mit unserem Unrecht und so mit uns selber – der Tag, an dem uns unser Unrecht und unser Tod zur Vergangenheit, unser Recht und unser Leben zur Zukunft wird, ist sein Tag. Er ist eben als sein Tag
-- 612 --
unser Tag. Seine Geschichte ist als solche unsere Geschichte und nun eben (unverhältnismäßig viel direkter und intimer als alles, was wir als unsere eigene Geschichte zu kennen meinen) unsere eigenste Geschichte. Er, Jesus Christus, geht uns an. In Ihm sind wir bei uns selbst: allen Märchen- und Mythenwelten ursprünglich und endgültig entrissen und fern, und erst recht jenseits aller unserer empirischen oder idealen Selbstbildnisse echt und eigentlich bei uns selbst und also wirklich und wahrhaft die Menschen, die in jenem Gericht, jenem Übergang stehen. Wir haben bei unseren ganzen bisherigen Überlegungen stillschweigend auf Ihn geblickt: nicht in der Meinung, damit an uns anderen Menschen vorbeizublicken, sondern in der Meinung, gerade im Blick auf ihn, diesen Menschen, in erster und letzter Wahrheit und Wirklichkeit auch auf uns andere Menschen zu blicken – in der Meinung, gerade in Ihm uns selbst zu finden, in Ihm Gottes mächtige, gerechte und gnädige Auseinandersetzung mit unserem Unrecht und uns selbst, in Ihm also unsere Rechtfertigung. Anders als im Blick auf Ihn hätten wir unsere bisherigen Überlegungen überhaupt nicht anstellen können. Woher hätten wir auch alle unsere Feststellungen nehmen sollen? Woher wüßten wir denn schon um jenes hohe, unserem Unrecht schlechthin überlegene, in sich selbst begründete und seinerseits alles Recht begründende Recht Gottes? Woher von der Art und dem Ausmaß, dem Fluch des menschlichen Unrechts? Woher von dem Zusammenstoß beider: von dem den Menschen als Täter des Unrechts mit diesem selbst verzehrenden Zorn Gottes? Und woher von der durchhaltenden Treue Gottes gegenüber dem Menschen als seinem Erwählten und Geschöpf, die der letzte bewegende Grund von dessen Rechtfertigung ist? Woher von jener Scheidung des Menschen zur Linken und zur Rechten, von jenem Verdammen und Freisprechen, in welchem Gott doch nach beiden Seiten gerecht und gnädig ist? Woher darum, daß Gottes Werk nach beiden Seiten ein ganzes, ein vollkommenes Werk ist? Woher, daß Beides den einen Menschen angeht und daß es keinen Dualismus begründet, sondern des einen Menschen Übergang von seinem dunklen Gestern in sein helles Morgen, des Menschen Geschichte: seine Heilsgeschichte? Wir haben das Alles nicht ersonnen, sondern wir haben es dort abgelesen, wo es Wahrheit und Wirklichkeit, und zwar die uns angehende, die uns umfassende, unsere eigene Wahrheit und Wirklichkeit ist – dort, wo wir selbst sind und nicht nur scheinen, dort, wo wir uns selbst nicht nur in Meinungen suchen, sondern in Erkenntnis finden – dort, wo wir nicht irgendwelche schweifenden und flatternden, sondern feste und bestimmte Sätze über uns selbst zu denken und auszusprechen aufgefordert sind. Wir reden von der Verkündigung von Jesus Christus, von dem Geschehen seines Kreuzestodes, von dessen Offenbarung in seiner Auferweckung von den Toten, genauer und besser gesagt: von Ihm selbst, der gar nicht nur in der Verkündigung von Ihm, sondern laut der
-- 613 --
Verkündigung von ihm als der Gekreuzigte und Auferstandene lebt, gegenwärtig ist und handelt, sich selbst zu erkennen gibt. Eben weil Alles in Ihm und so in uns wahr und wirklich ist, kann Alles nicht zuerst in uns, muß Alles zuerst in Ihm und kann Alles erst von ihm aus als auch für uns gültig und wirksam erkannt werden. Wir sind ja, indem wir in Ihm, von Ihm umfaßt sind, nicht selber Er. Zuerst also in diesem Anderen, nicht in uns, ist Alles wahr und wirklich. Eben darum ist unsere Rechtfertigung nicht Sache unseres Selbsterlebnisses und Selbstverständnisses, darum nicht in uns vorfindlich, darum uns unvorstellbar, darum eben: uns rätselhaft.
Sie ist Sache der Erkenntnis dieses Anderen, seines Übergangs vom Fluchtod zur Lebensherrlichkeit, seines Heute, das uns, auch indem es unser eigentliches Heute ist, immer ein fremdes Heute sein wird. Sie ist Sache der Erkenntnis seiner Geschichte, die uns, indem sie die unsrige ist, immer eine fremde Geschichte sein wird. Sie ist Sache der Erkenntnis dieses Anderen selbst, der uns, indem er uns umfaßt, indem wir in Ihm sind, immer auch ein Fremder bleibt. Sie ist Sache der Erkenntnis des Waltens der Gerechtigkeit Gottes in Ihm, die, indem sie über uns waltet, an uns geschieht, immer auch eine uns fremde Gerechtigkeit ist: iustitia aliena, weil zuerst und wesentlich die iustitia Christi und nur als solche nostra, mea iustitia.
__________
Wir werden im letzten Abschnitt unseres Paragraphen darauf zurückkommen und zu erklären haben, daß und inwiefern sie gerade als die Gerechtigkeit Jesu Christi und also als fremde Gerechtigkeit die unsrige, die meine ist. Wir entfalten hier, was von Anfang an stillschweigend unsere Voraussetzung war: Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts gerade in ihrem ursprünglichen, eigentlichen, exemplarischen Charakter als Gerechtigkeit Jesu Christi und also als uns fremde Gerechtigkeit.
Wir haben unter der Gerechtigkeit Gottes verstanden die Vollstreckung seines Rechts in seinem Verhältnis zum Unrecht des Menschen, zum Menschen als dessen Täter. Sie ist also identisch mit Gottes Gericht und im Blick auf den von seinem Gericht betroffenen Menschen: identisch mit dessen Rechtfertigung. Wir haben diese verstanden als die göttliche Inaugurierung der Geschichte, in der derselbe Mensch im Unrecht war, als dessen Täter, von Gott. verneint, sterben mußte und gestorben ist, um, von Gott in solchem Tod bejaht erhalten und durch ihn hindurch getragen, der Mensch zu werden, der vor ihm im Recht ist, und um als solcher leben zu dürfen. Diese Gerechtigkeit, dieses Gericht Gottes und diese dem Menschen widerfahrende Rechtfertigung durch Gott ist aber konkret in Jesus Christus geschehen. Sie sollte in ihm geschehen, weil
-- 614 --
er in einer Person als Sohn des Vaters der wahre, den Menschen erwählende und erschaffende Gott selber und wiederum selber der wahre, von Gott erwählte Mensch und als solcher von Ewigkeit her zur Erfüllung aller Gerechtigkeit Gottes bestimmt war. Sie konnte in ihm geschehen, weil er als wahrer Gott und wahrer Mensch kompetent und qualifiziert war, die Auseinandersetzung zwischen Gott und Mensch in seiner einen Person zu vollziehen und zu erleiden, in ihrem Konflikt zugleich Richter und Gerichteter zu sein. Sie konnte nur in ihm geschehen, weil nur er als diese eine Person Subjekt und Objekt in jener Geschichte sein, ihren Gegensatz in sich vereinigen konnte: selbst der da zu vollziehende völlige Abschluß und so auch selbst der da zu setzende völlige Neuanfang – und Beides an aller anderen Menschen Stelle und also in ihrem Namen, für sie, ihnen zugute. Sie ist in ihm geschehen, indem er als wahrer Sohn Gottes wahrer Mensch wurde und in dieser Einheit seiner Person aller anderen Menschen Richter wurde: ihr Richter als der an ihrer aller Stelle Gerichtete – hingerichtet in seinem Tod, aufgerichtet in seiner Auferweckung von den Toten. Das ist, in Jesus Christus geschehen, des sündigen Menschen Rechtfertigung. – Wir suchen das im Einzelnen zu verstehen.
Was ist in Jesus Christus geschehen? Wir antworten zunächst allgemein: es geschah in ihm der mächtige Selbsteinsatz Gottes für uns Menschen. Gottes Auseinandersetzung mit dem Menschen der Sünde, dieses Menschen mit Gott, ist unvermeidlich. Sein Recht gilt und muß in Gerechtigkeit vollstreckt werden. Sein Gericht ist unvermeidlich. Das gilt auch im Blick auf den Menschen: gibt es für ihn ein Heil, dann auf alle Fälle nur, indem dieses Gericht über ihn ergeht. Dieses Gericht schließt aber in sich die Vernichtung des Unrechts und des das Unrecht vollbringenden Menschen. Es schließt aber auch in sich die Verteidigung, die Wiederherstellung, die volle Inkraftsetzung des Rechtes des von ihm erwählten und geschaffenen Menschen, das Leben des Menschen in diesem seinem Recht vor ihm. Eben dieser Auseinandersetzung in ihrer beiderseitigen Auswirkung ist der Mensch nicht gewachsen, weder aktiv noch passiv, weder als Subjekt noch als Objekt: der Mensch als bloßes Geschöpf nicht und erst recht nicht der sündige Mensch, der Mensch, der sich vor Gott und gegen ihn ins Unrecht gesetzt hat. Er taugt nicht zur Teilnahme an diesem Geschehen. Woher nähme er als Geschöpf das Vermögen und woher nähme er als der Sünder, der er ist, auch nur den Willen, in dieser Auseinandersetzung (vielleicht mit Hilfe der Gnade Gottes) aktiv mitzutun – oder eben: auch nur zu erleiden, zu erfahren, zu empfangen, was ihm in dieser Auseinandersetzung widerfahren muß? Es liegt in der Natur dieser Sache – es geht ja um die Beseitigung seines absoluten Unrechts durch sein absolutes Recht, es geht ja um seinen Tod und um sein Leben aus diesem Tode – daß er, der Mensch, als Partner Gottes in diesem
-- 615 --
Geschehen nicht in Frage kommt, sondern ausfällt. Aber eben um ihn soll es ja gehen: um die ihn ereilende Gerechtigkeit Gottes, um das Gericht über ihn, um seine Rechtfertigung. Zu ihrem Geschehen gehören offenbar zwei: Gott und der Mensch. Wie soll sie, wenn gerade der Mensch hier ausfällt, nicht dabei sein kann, keinen Ort hat, inauguriert werden, geschehen und zu ihrem Ziele kommen? Sie geschieht aber und kommt darin zu ihrem Ziel, daß Gott selbst ihm seine Sache aus den Händen nimmt, um sie als seine eigene zu führen – wohlverstanden: seine, des sündigen Menschen Sache – daß Gott also nicht nur ihm gegenüber Gott, Herr und Richter ist, sondern gerade als solcher auch mächtig an seine, des sündigen Menschen, Seite tritt, mehr noch: seine Stelle einnimmt, für ihn – sich selber gegenüber für ihn! – eintritt. Sein ewiges Wort wird Fleisch: er selbst in diesem seinem Wort wird ein Mensch. Wozu? Um, ebenso wie er seine eigene Sache gegen alle Menschen führt, auch aller Menschen Sache, die sie selbst in der Auseinandersetzung mit ihm nicht führen können, sich zu eigen zu machen und für sie zu führen: um also für sie alle das zu sein, was sie selbst nicht sein können – aktives Subjekt und passives Objekt in jenem Konflikt, um für sie alle das Erleiden und Tun zu übernehmen, dem sie nicht gewachsen sind, das ihr Vermögen und ihren Willen gänzlich übersteigt, um also ihre Rechtfertigung, dieja, sollten sie ausfallen, nicht geschehen und zu ihrem Ziele kommen könnte, auch als ihr Stellvertreter zu ihrem Ziele zu führen. Nicht nur von seiner Seite also, nicht nur als Gott, Herr und Richter, sondern auch von ihrer Seite: als der Gott, Herr und Richter nämlich, der als solcher auch Mensch, Knecht und Gerichteter ist. Das ist's, allgemein gesagt, was in Jesus Christus geschehen ist: dieses Teilnehmen Gottes an der Situation des seinem Recht konfrontierten, seiner Gerechtigkeit begegnenden, seiner Rechtfertigung bedürftigen Menschen, dieses Einspringen Gottes für ihn, kraft dessen der Mensch das Alles tun und erleiden, kraft dessen der Mensch seinerseits der Partner sein kann und wird, auf das Gottes Gerechtigkeit und Gericht zielt – nun also nicht umsonst, nicht ins Leere zielt! Indem Gott sich – so unmittelbar und vollständig ist dieses sein Teilnehmen und Eintreten für ihn – mit dem Menschen identifiziert, ein Mensch und als dieser eine Mensch aller Menschen Stellvertreter wird, aller Menschen Sache zu seiner eigenen macht, kann die Rechtfertigung Ereignis werden und wird sie es. Damit das geschehe, ist Gott Mensch geworden. Eben das ist also der Sinn der Existenz Jesu Christi. Gibt es eine Rechtfertigung des sündigen, des gottlosen, des hochmütigen und eben in seinem Hochmut ins Bodenlose gefallenen Menschen, von dem doch Gott seine Hand nicht zurückgezogen hat, der also aus Gottes Hand auch nicht herausfallen kann, dann haben wir sie in Jesus Christus zu suchen. In ihm ist sie wahr und wirklich geworden, indem nämlich in ihm das Teilnehmen Gottes am Menschen, seine Identifizierung mit ihm, sein
-- 616 --
Eintreten für alle Menschen Ereignis wurde. Wir postulieren dieses Ereignis nicht. Wir erschließen seine Bedeutung, seine Notwendigkeit, seine Tragweite schlicht daraus, daß es faktisch Ereignis ist. Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, lebt. Wer ihn als solchen erblickt und erkennt, findet eben in ihm auch die in ihm geschehene Rechtfertigung des Menschen und weiß, daß er sie nicht anderwärts zu suchen braucht, daß er sie anderwärts vergeblich suchen würde. – Wir wenden uns zu zwei Einzelerklärungen.
Des Menschen Rechtfertigung in Jesus Christus ist einerseits: die Vernichtung seines Unrechts und seine eigene Beseitigung als dessen Täter. Der Mensch der Sünde, der hochmütige und gerade in seinem Hochmut gefallene Mensch wird in ihr erledigt, er wird zum «Mann von gestern». Das ist das Erste, das wir in keinem Ereignis unseres eigenen Lebens vorfinden, das wir uns also auch nicht als Bestimmung unserer Existenz vorstellen können. Aus gutem Grund nicht: weil das in unserer Existenz als solcher auch tatsächlich nicht geschehen ist. Auf uns selbst blickend, können wir nur feststellen, daß eben dieser fatale Mann von gestern durchaus auch der Mann von heute ist, und haben wir keine andere Aussicht als die darauf, daß er auch der Mann von morgen sein wird. In Jesus Christus, dem wahren Menschen, in welchem der wahre Gott für uns eingetreten ist und an unserer Stelle gehandelt hat, ist das anders, ist jener Mann erledigt, vergangen, ist er gerade nur noch, sofern er war: indem der Mensch ja derselbe ist, der als jener Mann gestorben ist.
Es geht nach dieser Seite um ein bestimmtes Handeln des Sohnes Gottes. Es ist von ihm in seiner Einheit mit dem Menschen Jesus von Nazareth, in unserer Mitte, von ihm als Einem der Unsrigen, es ist aber in der Macht Gottes und also wirksam vollzogen, und (weil in derselben Macht Gottes über alle Menschen) in Gültigkeit und Wirksamkeit für uns alle. Dieses Handeln des Gottessohnes und Menschen Jesus Christus ist der Akt des Gehorsams, in welchem er, gerade darin wahrer Gott, daß er zu solchem Gehorsam willig und fähig war – das Demütige wählte, wollte und tat: sich dem in seinem Hochmut so tief, so bodenlos gefallenen Menschen gleich zu machen, sich vorbehaltlos an seine Seite zu stellen, ja an seine Stelle zu begeben. Wozu? Dazu, um seine Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, um an seiner Stelle den Weg anzutreten und zu Ende zu gehen, der als sein, dieses sündigen Menschen, Weg in Vollstreckung des Rechtes Gottes nur sein Weg in den Tod sein konnte. Er hat sich diesem Einsatz für den Menschen und dieser seiner Konsequenz nicht entzogen. Er hat es als aller Menschen Bruder und Stellvertreter auf sich genommen, sich eben dazu hergegeben, in seiner eigenen Person, in seinem Tod, als wahrer Gott und wahrer Mensch mit dem vor Gott Unmöglichen, Unerträglichen, nicht zu Duldenden, mit des Menschen Unrecht und mit
-- 617 --
dem unrechten Menschen aufzuräumen, Schluß zu machen, das Ärgerliche und den Ärgerlichen aus der Welt zu schaffen.
Er hat also für alle anderen Menschen erlitten, was sie erleiden mußten: ihr Ende als Übertreter, ihre Beseitigung als Feinde Gottes, ihre Auslöschung kraft der Überlegenheit des göttlichen Rechtes ihrem Unrecht gegenüber. Sie mußten – sie konnten aber das nicht erleiden, keiner von ihnen!
Denn selbst wenn einem von ihnen das auferlegt gewesen wäre oder noch auferlegt würde: in seinem Leiden und Tod das göttliche Gericht über ihn und sein Unrecht nun wirklich zu schmecken und durchzumachen – wie konnte oder könnte er Solches für Andere oder gar für alle Anderen durchmachen? Und selbst wenn es allen Menschen auferlegt wäre, Gottes Gericht wirklich zu schmecken und durchzumachen, selbst wenn sie dazu alle willig und bereit wären, wie könnten sie, erleidend, was sie verdient haben, das Ärgerliche – sie, die Ärgerlichen! – durch ihren Tod, und wäre es ihr ewiger Tod, aus der Welt schaffen? Gewesen wäre es dann freilich, aber damit nicht ungeschehen, nicht gutgemacht: es bliebe auch als das Gewesene der unvertilgte Fleck mitten in Gottes Geschöpfwelt, ein Element ihrer Geschichte. Und selbst wenn sie mit ihrem Erdulden des göttlichen Gerichtes den Flecken zu vertilgen in der Lage wären, selbst wenn ihr Leiden und Tod dazu köstlich genug wären – würde dann nicht durch ihren Untergang der Wille Gottes mit dem von ihm erwählten und geschaffenen Menschen Lügen gestraft? Sie müßten ja dann, um seiner Gerechtigkeit Genüge zu tun, wirklich und endgültig verlorengehen, seiner Hand also entfallen. Er wäre dann doch wohl nicht der Gott, der ihnen Treue geschworen hat, oder er würde dann seinen Schwur, seinen Bund mit ihnen, seinerseits nicht gehalten haben.
Was wir Menschen erleiden müssen, kann – soll es der Gerechtigkeit Gottes gemäß erlitten sein – nur von Gott selbst als Mensch für uns erlitten werden: soll es nämlich gültig und wirksam für uns Alle geschehen, soll es Vertilgung des Unrechts und aller Ungerechten auf einmal und ein für allemal, Vertilgung des Fleckens in Gottes Geschöpfwelt und zugleich Bewährung seiner Treue, Durchführung seines Bundes mit dem Menschen sein – nicht zu dessen Verderben also, sondern zu dessen Errettung, zu seiner, des Ungerechten Rechtfertigung. Und eben so – der vollen Gerechtigkeit Gottes gemäß – zu leiden, zu vergehen, zu sterben, hat Jesus Christus auf sich genommen, eben dazu hat er sich hergegeben. So hat Gott die Welt in ihm gerichtet – und also recht gerichtet – daß er selbst sich in ihm dahingab, um gerichtet zu werden. Um sein eigenes Gericht an unserer Stelle gültig und wirksam für uns zu erleiden, hat er sich zu uns herabgelassen, sich selbst so tief erniedrigt, ist er selbst zu solcher Demut willig gewesen, hat der ewige Sohn in unserem Fleische, hat also der Mensch Jesus von Nazareth dem ewigen Vater den Gehorsam solcher Demut geleistet und so der Gerechtigkeit Gottes nach dieser, nach ihrer negativen, nach ihrer Zornesseite volle Genüge getan. Damit, daß Gott sich in Jesus Christus mit dem Menschen identifizierte, in der Person dieses einen Menschen das Ende, den Abschluß setzte und selber der Abschluß war, der uns Allen widerfahren mußte – damit ist unser Unrecht wirklich
-- 618 --
und endgültig gestrig geworden, nicht mehr da, weil ausgelöscht: gegenwärtig gerade nur noch als dieses ewig Gestrige, Abgetane, Vertilgte. Und damit sind wir Menschen als seine Täter, als die, die sich mit ihm identifizieren wollten und identifiziert haben, getötet, begraben und also wirklich und endgültig gestrig geworden: gegenwärtig gerade nur noch, sofern unsere Existenz als solche diese Vergangenheit hat. In ihm ist unsere Sünde dahin und in ihm sind wir selbst als Sünder dahin. In ihm kommen wir alle von jenem gültig ausgesprochenen und kräftig vollzogenen göttlichen Nein her: von der Befreiung, die in diesem Nein, weil es in Jesus Christus gesprochen und vollzogen ist, vollendete Tatsache ist. Diese Befreiung, in ihm geschehen, ist die Voraussetzung unserer Zukunft. Und die uns durch dieses Nein geschenkte Freiheit ist unsere Gegenwart. In ihm haben wir also das Unrecht und uns selbst als dessen Täter hinter uns. Er hat es von uns, und er hat uns von ihm weggenommen, unsere Existenz als seine Täter aufgehoben und durchgestrichen.
Es ist dabei entscheidend wichtig, einzusehen: daß es die Tat seines demütigen Gehorsams ist, in der er das getan hat. Er hat ja, indem er gelitten hat, diese Tat getan. Er war ja Subjekt dieses Geschehens. Er hat ja, eben indem er, an unsere Stelle getreten, für uns litt, das nicht getan, was wir Unrechttäter beständig tun, und getan, was wir nicht tun. Er war ja demütig, wo wir hochmütig sind. Er stieg ja herab zu uns, wo wir uns eigenmächtig erheben wollen. Er, der Herr, wurde ja Knecht, er, der Richter, der Gerichtete. Er nahm ja an, was ihm von seinem Vater befohlen war, er ließ ja dessen Willen seinen eigenen sein, er trank ja den bitteren Kelch, statt ihn von sich zu stoßen, er erduldete ja die Schande des Kreuzes: alles in Freiheit, nämlich in freiem Gehorsam, und eben: im Gehorsam der Demut. Er hat gerade in ihr seine Gottheit betätigt und offenbart und hat eben in ihr in der Macht seiner Gottheit mit der Sünde und mit dem alten Menschen der Sünde in seiner Person Schluß gemacht, jenes befreiende Nein gesprochen. Wir haben also kein Vakuum hinter uns, indem wir von diesem Nein herkommen, indem wir die Sünde und den Sünder hinter uns haben. Daß wir sie hinter uns haben, daß es mit der Sünde und dem Sünder aus ist, das gründet darin, daß jenes befreiende Nein so gesprochen ist: in Jesu Christi demütigem Gehorsam. In ihm ist die Beseitigung unseres hochmütigen Ungehorsams ein für allemal vollzogen. Er hat nicht nur für uns gelitten, sondern er hat, indem er für uns litt, für uns das Rechte getan und eben deshalb wirksam, heilsam für uns gelitten. Wir können, in ihm gerichtet, die Hochmütigen morgen nicht mehr sein, die wir gestern waren: die nicht mehr sein, als die wir gestern in das Gericht Gottes hineinliefen. Wir haben als die in ihm von unserer Vergangenheit Befreiten gerade dazu keine Freiheit mehr (die unechte, die falsche Freiheit nicht mehr!), unseren alten Hochmut aufs neue ins Werk zu setzen. Zwischen uns und unserer Vergangenheit steht positiv
-- 619 --
und damit gründlich scheidend die Rechtstat seines Todes. Das ist das Letzte und wohl das Entscheidende, das hier zu sehen ist, um einzusehen, daß unser Unrecht und wir selbst als dessen Täter wahrhaft und wirklich abgetan sind. – Das also ist die Gerechtigkeit Gottes in ihrer konkreten Gestalt als die Gerechtigkeit Jesu Christi, als unsere in ihm vollendete Rechtfertigung: nach dieser ersten, negativen Seite, das gnädige und heilsame Werk Gottes zur Linken.
Und nun ist des Menschen Rechtfertigung in Jesus Christus andererseits: die Aufrichtung seines Rechtes und damit die Heraufführung des Lebens eines neuen, des vor Gott gerechten Menschen. Dieser Mensch, sein Leben, ist in Jesus Christus – in demselben, in welchem jener erste getötet und also Vergangenheit ist – des Menschen Zukunft. Der Mensch wird als dieser gerechte Mensch leben, nachdem er als jener Ungerechte gestorben ist und also nur noch war. Auch dieses Zweite werden wir in keinem Ereignis unseres Lebens vorfinden. Auch daß wir als Gerechte leben werden, ist keine immanente Bestimmung unserer Existenz, kann uns also nicht vorstellbar werden. Es ist denn auch nicht unsere Existenz, in der das geschah, daß der Mensch diese Zukunft bekommen hat. Auf uns selbst blickend, müßten wir unsere Zukunft als die dieses Mannes von morgen für ebenso unwirklich, ja unmöglich halten wie das, daß jener Mann von gestern für uns Vergangenheit sein solle. In Jesus Christus, dem wahren Menschen, der als solcher der ewige Sohn des ewigen Vaters ist, lebt in unanfechtbarer Wirklichkeit dieser künftige, der neue, der gerechte Mensch. In Ihm bin ich schon der, der dieser gerechte Mensch sein, der als solcher leben wird: ebenso, wie ich in Ihm der ungerechte Mensch nur noch bin, sofern ich dieser einmal gewesen bin. Jesus Christus lebt auch in diesem positiven Sinn an unserer Stelle, für uns, in unserem Namen. Und so haben wir in seinem Namen, in Ihm, wie unser Unrecht und unseren Tod als unsere Vergangenheit, so auch unsere Gerechtigkeit und unser Leben als unsere Zukunft.
Es geht nach dieser zweiten, positiven Seite unserer in Jesus Christus geschehenen Rechtfertigung um etwas Bestimmtes, das ihm, dem Sohn Gottes, in seiner Einheit mit unserem Mitmenschen Jesus von Nazareth widerfahren ist. Er ist als wahrer Gottes- und als wahrer Menschensohn, als unser Herr und als unser Bruder, nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt der Gerechtigkeit, in welcher Gott sein Recht unter uns geltend macht und aufrichtet. Er empfing etwas, was er sich in dem, was er tat – es war ja das Tun seines demütigen Gehorsams und es führte ihn ja in den Tod – weder nehmen wollte, noch nehmen konnte. Er bekam nämlich auf das, was er tat, die Antwort der freien, allmächtigen Gnade Gottes seines Vaters. Der verborgene gute Wille Gottes, dem er sich anspruchslos unterworfen und dem er bis in den Tod gehorsam gewesen, wurde an ihm
-- 620 --
kundgegeben. Gott bekannte sich zu dem Recht dessen, der sich dazu hergab, die Welt damit zu richten, daß er sich selbst an ihrer Stelle richten ließ. Gott bestätigte die Unschuld dessen, der sich für die Schuldigen anklagen, verurteilen, töten ließ. Gott enthüllte den Sinn und das Ziel seines Zornes – seine brennende Liebe nämlich! – an ihm, der sich ihm gestellt, der ihn bis aufs Letzte getragen hatte. Gottes Gerechtigkeit geschah nicht nur durch ihn, im Gehorsam seines in seinem Leiden für uns handelnden Sohnes, sondern, nachdem sie durch ihn in der Tat seines Todes geschehen war, offenbarte sie sich auch in ihm: als die Gerechtigkeit der ewigen Treue und Gnade Gottes, als die Gerechtigkeit seines in seinem Unwillen nur latenten, aber von Anfang an präsenten positiven Willens, den neuen gerechten Menschen auf den Plan zu führen: seines Willens, daß dieser Mensch leben solle. Das ist es, was Jesus Christus nicht getan hat, was ihm als Antwort auf sein Tun widerfahren ist: ebenso real, ebenso konkret, ebenso sichtbar, hörbar, betastbar, ebenso geschichtlich wie der Tod, den er auf sich genommen, in welchem er als Leidender gehandelt hat. Wir reden von seiner Auferweckung von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters ( Röm. 6, 4).
Sie ist ihm – wie er um unserer Übertretungen willen dahingegeben wurde, sich selbst dahingegeben hat – um unseretwillen «um unserer Rechtfertigung willen» widerfahren ( Röm. 4, 25). Er hat für uns empfangen, was er in ihr empfangen hat. Wie er, was er getan hat, an unserer Stelle, für uns, getan hat, so geht die Antwort, die Gott der Vater ihm auf seine Gehorsamstat gegeben hat, uns an. Der in seinem Sterben an unserer Stelle verborgene gute Wille Gottes, der in seiner Auferstehung an ihm offenbar wurde, war und ist Gottes guter Wille mit uns. Sein Recht, zu dem Gott sich in seiner Auferstehung bekannte – das Recht des uns zugute gerichteten Richters – war und ist unser Recht. Es war und ist seine Unschuld – die Unschuld, in der er unsere Schuld trug und hinwegtrug – in seiner Auferstehung ans Licht gekommen, unsere Unschuld. Es war und ist die brennende Liebe, die sich in seiner Auferstehung als Sinn und Ziel des von ihm für uns ertragenen göttlichen Zornes enthüllte, die Liebe, in der Gott uns suchen und finden, tragen und umfassen wollte. Es war und ist also die an. ihm, dem Vertreter aller Ungerechten, als Gerechtigkeit der Treue und Gnade Gottes offenbarte Gerechtigkeit die Offenbarung der uns gegebenen Verheißung: daß wir als die vor ihm Gerechten leben sollen. Wie er in der Tat seiner Demut für alle anderen Menschen den Abschluß vollzogen hat, dem wir verfallen waren, so hat er wieder für alle anderen Menschen das Tor der Gerechtigkeit und des Lebens tatsächlich aufgestoßen. Seine Auferstehung ist der Anfang, von dem her wir alle, von jener in ihm abgeschlossenen Vergangenheit herkommen, und so auch alle jener in ihm schon gegenwärtigen Zukunft entgegengehen.

-- 621 --
Wir könnten dieses Tor nicht aufstoßen, diesen Anfang nicht setzen, diese Zukunft nicht zu unserer Zukunft machen. Wir könnten das auch dann nicht, wenn wir in der Lage wären (in der wir nicht sind!), unser Unrecht ungeschehen zu machen, uns selbst als die Feinde Gottes, die wir sind, auszulöschen und also für uns selbst zu erleiden, was Jesus Christus für uns erlitten hat: mit unserem Tode der Gerechtigkeit Gottes nach ihrer negativen Seite Genüge zu tun. Woher nähmen wir, auch wenn wir die Macht dazu hätten, die andere Macht, uns selbst aus unserem Unrecht vor Gott ins Recht zu setzen, aus dem Tode, dem wir verfallen sind, ins Leben hinüberzugehen? Kann jene Tötung nicht unser Werk sein, so noch viel weniger diese unsere Auferweckung. Und eben: Jesus Christus selber hat sich ja seine Auferweckung von den Toten nicht genommen, war ja nach dieser Seite selber ganz und gar nur Empfänger, gekrönt und nicht sich selber krönend. Wie sollten wir da Täter sein können? Es ist aber auch nicht an dem, daß wir das, was Jesus Christus von Gott empfangen hat, selber, von uns aus, anders als in ihm, auch nur empfangen könnten. Was er empfing, das warja eben Gottes Antwort auf die Tat seines demütigen Gehorsams, die Bestätigung seiner Unschuld, der Lohn und die Offenbarung seiner im Tragen unseres Unrechts bewährten Gerechtigkeit. Daß er diese Antwort, diese Bestätigung, diesen Lohn für uns empfangen hat, ändert nichts daran, sondern zeigt geradezu, daß das, was wir selbst, ohne ihn, zu empfangen hätten und allein empfangen könnten, wahrlich etwas ganz Anderes sein müßte als die Zukunft und Hoffnung unseres Rechtes und unseres Lebens. Was wir, auf uns selbst gestellt, jenseits unserer Beseitigung als Übeltäter zu erwarten hätten, könnte nur völlige Zukunftslosigkeit sein.
Es geht in des sündigen Menschen Rechtfertigung vor Gott wie negativ um seine grundlegende Abkehr von seinem Unrecht und von sich selbst als dessen Täter, so positiv: um seine grundlegende Umkehrung zu Gott hin. Sie kann weder als das Eine noch als das Andere unsere eigene Sache sein: weder als unser Werk noch als unser Widerfahrnis. Sie ist wohl unsere Sache, aber wie nach jener negativen so erst recht nach dieser positiven Seite: unsere von dem einen Jesus Christus – in seinem Werk und in dem, was ihm widerfahren ist – geführte und vollendete Sache. Kraft seiner Auferstehung von den Toten, kraft der in seinem Leben offenbarten Gerechtigkeit, in Ihm und von Ihm her haben wir Zukunft und Hoffnung, ist jenes Tor aufgestoßen, überschreiten wir die Schwelle vom Unrecht zum Recht und damit vom Tode zum Leben. Mit ihm auferstanden von den Toten, tun wir das, vielmehr geschieht uns das, ist, was Gott ihm zugewendet hat, auch uns zugewendet, sind wir schon die Gerechten und Lebendigen, die wir sein werden. In Ihm ist unsere Rechtfertigung die ganze, nun auch zur Rechten erfüllte Rechtfertigung.
Wir bemerken: sie geschieht gerade in Jesus Christus, zuerst in Ihm in dieser klaren, unaufhebbaren Differenzierung und Einheit. Im Blick auf ihn, auf seinen Tod und seine Auferstehung, haben wir von jenem doppelten Charakter des göttlichen Gerichtes sprechen müssen. Halten wir nun aber wieder im Blick auf ihn ebenso fest: das göttliche Gericht ist ein einziger und also nicht zu teilender, nicht zu trennender Akt, eine streng in sich zusammenhängende Geschichte. In ihm geschieht ja eben jener Übergang des Menschen von seinem Unrecht zu seinem Recht, vom Tode zum Leben. Er wäre nicht der Akt des Gerichtes
-- 622 --
des einen Gottes, wenn er nicht dieser eine ganze Akt wäre: hier anhebend und dort sich vollendend, anhebend im Tode, sich vollendend in der Auferstehung Jesu Christi, anhebend mit der Vernichtung des menschlichen Unrechts, sich vollendend in der Aufrichtung des menschlichen Rechtes, anhebend mit des ungerechten Menschen Abgetanwerden, sich vollendend im Leben des Gerechten – aber in dieser Differenzierung ein einziger Akt. Und in dem einen Jesus Christus ist an Stelle aller Menschen auch für sie Beides geschehen: in diesem unlösbaren Zusammenhang, in dieser unumkehrbaren Folge.
Man muß auf den unlösbaren Zusammenhang achten: Das Leben des neuen, gerechten Menschen bekommt nur Raum durch das Verschwinden, den Tod des alten Menschen der Ungerechtigkeit. Er muß weg, damit es anheben kann. Es könnte neben diesem keinen Raum haben. Es kann ihn nur verdrängen und ersetzen. Es kann ihn nur hinter sich haben. Es kann sein Tag nur anbrechen, indem der Tag dieses Anderen vergangen ist. Das ist‚s, was im Tode Jesu Christi geschehen ist. So lebt Jesus Christus als der, in dem das geschehen ist: als der Gekreuzigte, als der um unserer Übertretungen willen Dahingegebene, der eben dem Menschen der Ungerechtigkeit seinen Raum genommen, der eben ihn getötet und beseitigt hat. Er lebt als der, in dessen Selbsthingabe des Menschen Rechtfertigung anhebt. Eben dies, daß der alte Mensch keinen Raum mehr hat, daß er getötet und verschwunden ist, erweist sich aber darin als wahr und wirklich, daß er durch den neuen ersetzt, daß dessen Tag angebrochen, daß Jesus Christus in seiner Auferweckung von den Toten zum Sieger gemacht ist. So lebt Jesus Christus als der Auferstandene, als Träger des dem Menschen von Gott verliehenen Rechtes, als der Empfänger seiner Gnade, indem sich in seinem Empfangen des Menschen Rechtfertigung vollendet.
Eine theologia gloriae, das Lob dessen, was Jesus Christus in seiner Auferweckung für uns empfangen hat und als der Auferstandene für uns ist, hätte keinen Sinn, wenn sie nicht die theologia crucis immer auch in sich schlösse: das Lob dessen, was er in seinem Tode für uns getan hat und als der Gekreuzigte für uns ist. Es hätte aber auch eine abstrakte theologia crucis keinen Sinn. Man kann Jesu Christi Passion und Tod nicht recht loben, wenn dieses Lob die theologia gloriae nicht schon in sich schließt: das Lob dessen, der in seiner Auferstehung der Empfänger unseres Rechtes und unseres Lebens ist, der für uns von den Toten Auferstandene. Das Lob dieses in Jesus Christus Ereignis gewordenen Übergangs in seinem Zusammenhang ist das rechte Bekenntnis unserer Rechtfertigung. Es kann nur in dieser Ganzheit, indem es dem in ihm geschehenen Übergang dieser zusammenhängenden Geschichte gilt, ihr rechtes Bekenntnis sein.
Man muß aber auch auf die unumkehrbare Folge in diesem Zusammenhang achten. Wie wäre er der Zusammenhang dieser Geschichte, dieses Übergangs, wenn er umkehrbar, wenn er etwa als Kreislauf zu verstehen wäre? Jesus Christus hat sich ( Joh. 14, 6) nicht umsonst «der Weg» genannt. Ein Gartenweg mag im Kreis laufen. Ein Gartenweg ist
-- 623 --
aber auch kein richtiger Weg. Ein richtiger Weg hat einen Anfang und ein von diesem verschiedenes, anderswo liegendes Ziel. So auch eine richtige Geschichte! So auch ein richtiger Übergang! Was in Jesus Christus gewesen ist, das ist freilich in ihm eben als Gewesenes noch gegenwärtig: das Unrecht vertilgt und der Unrechttäter mit ihm. Eben das kann und muß aber nicht wieder geschehen, nicht wieder Zukunft werden. Es wird vielmehr alle Zukunft nur immer wieder die Vergangenheit des menschlichen Unrechts und des menschlichen Unrechttäters sein, es wird auf diese in aller Zukunft immer nur zurückgeblickt werden können. Israel kann nicht wieder zurückkehren in die Tiefe des Schilfmeers, in der es durch Gottes gewaltige Hand bewahrt, sein Feind aber vernichtet worden war. Was Jesus Christus getan hat, um unsere Sünde und unseren Tod hinter sich und damit auch hinter uns zu bringen, das hat er ein für allemal getan, das kann und muß er also nicht wieder tun, das kann also auch für uns nicht aufs neue Problem unserer Zukunft werden, als wäre es noch nicht getan. Und was er als Gerechtigkeit und Leben empfangen hat, das hat er wieder an unserer Stelle und für uns ein für allemal empfangen, das ist in ihm unsere Zukunft, die nicht wieder Vergangenheit werden, unsere Hoffnung, die nicht wieder in Sorge, Ungewißheit, Zweifel und Trauer umschlagen kann. Er hat, was er als der ewige Sohn Gottes für uns getan hat, recht getan, und was er von seinem ewigen Vater für uns empfangen hat, recht empfangen. In Ihm ist uns also ein terminus a quo und ein terminus ad quem gesetzt, zwischen denen wir nun unterwegs sind, die aber eben deshalb nicht miteinander verwechselt und vertauscht werden können. Wir blickten immer schon wieder an ihm vorbei, hielten uns immer wieder schon an uns selbst, statt an ihn, wenn wir sie verwechseln und vertauschen, den Weg, auf den wir durch ihn gesetzt sind, also zurückgehen wollten. Unsere in ihm geschehene Rechtfertigung hat als Gottes Geschichte mit uns – ihres Zusammenhangs und ihrer Ganzheit unbeschadet – eine ganz bestimmte Richtung. Wir können, auf ihn blickend, nur in diese Richtung blicken und gehen, gewiß von hier nach dort, aber nicht in umgekehrter Richtung.
Es ist eine gute und notwendige Sache um unseren abendländischen Ernst, in welchem wir auf dem Anheben der Rechtfertigung, nämlich darauf insistieren, daß wir im Blick auf Jesus Christus nur von hier nach dort, nur von seinem Kreuzestod auf seine Auferstehung und also nur von dem Gestern unseres von ihm für uns erlittenen Todes in den Morgen unseres von ihm für uns empfangenen Lebens blicken können. Man sehe nur zu, daß er nicht – es fehlt im römischen wie im protestantischen Bereich nicht an Beispielen dafür – an einem bestimmten, freilich schwer zu bezeichnenden, Punkt vor lauter Christlichkeit ein allzu heidnischer Ernst werde, d. h. plötzlich, in nordische Schwermut umschlagend, die Richtung verliere, in der allein er christlich sinnvoll sein kann, plötzlich nach rückwärts statt nach vorwärts blicke und sich damit doch in die Tragik einer abstrakten theologia crucis verwandle, die mit christlicher Erkenntnis Jesu Christi wenig und schließlich gar nichts mehr zu tun haben könnte. Kann uns die Hingabe Jesu Christi in den Tod und kann uns der Tod, dem in dem seinigen wir selbst überliefert sind, gewiß nicht
-- 624 --
genug beschäftigen, so müßte uns doch gerade das, was er in ihm für uns getan, entgehen, wenn wir es abstrahiert von dem, was er in seiner Auferstehung für uns empfangen hat, verstehen, wenn wir es nicht in seiner Richtung auf das, was er da für uns empfangen hat, betrachten wollten. Wir gehen dem jetzt nicht nach, ob es nicht auch eine entgegengesetzte Gefahr geben möchte: eine Verdunkelung eben der Richtung der in Jesus Christus geschehenen Rechtfertigung durch ein allzu heiteres Vergessen ihres terminus a quo: des demütigen Gehorsams, in welchem Jesus Christus es auf sich genommen hat, an seinem Kreuz an unserer Stelle dem Zorne Gottes standzuhalten. Unsere abendländische Gefahr liegt im Ganzen sicher nicht in dieser Richtung. Sondern es gehört zu dem, was wir von der Ostkirche lernen dürften, das unverdrossene Vorwärtsblicken vom terminus a quo her, – aber dem terminus ad quem unserer Rechtfertigung entgegen: die im Blick auf Jesus Christus, der «der Weg» ist, gebotene Freude – eine unbedingte Freude an dem, was er zu unseren Handen empfangen hat, was in ihm auch wir empfangen haben. Anders als in dieser nach dort blickenden Freude – der Osterfreude – kann die Erkenntnis unserer in ihm geschehenen Rechtfertigung unmöglich wirklich ernsthaft sein.
__________
Wir kehren zum Schluß zu unserem Ausgangspunkt zurück mit der Frage: Was bedeutet Gottes Gericht und also des Menschen (in Jesus Christus geschehene) Rechtfertigung für Gott selber? Die Frage ist nicht müßig. Wie wäre es, wenn diese für ihn ein bloß äußerliches, d. h. bloß in seiner Beziehung zum Menschen sich vollziehendes Tun wäre, ihn selbst aber nicht berühren, für ihn selbst nichts bedeuten würde? Es gibt genug Gottesbegriffe, von denen her diese Möglichkeit als durchaus erwägenswert erscheinen könnte. Des Menschen Rechtfertigung könnte ja vielleicht in einem der vielen innerweltlichen Räume – vielleicht in einem der wichtigsten von diesen, vielleicht im zentralsten von allen – aber nun doch als ein dem Gesetz einer innerweltlichen Dialektik folgender innerweltlicher Vorgang sich abspielen und sich dem Menschen darstellen. So also, daß Gott nicht mehr mit ihr zu tun hätte als dies: daß er das letzte Geheimnis wäre, das wie Alles, was in der Welt geschieht, auch sie umgeben mag. Es ist klar, daß von einer letzten eigentlichen Gewißheit um ihr Geschehen dann nicht die Rede sein könnte. Sie geschähe dann in der großen Vieldeutigkeit alles Weltgeschehens, über dessen Sinn im Einzelnen wie im Ganzen der Mensch seine begründeten Vermutungen haben mag, dem gegenüber er aber auch immer – auch von seinen denkwürdigsten Hypothesen her – mit einem übrigbleibenden Zweifel: ob nicht Alles auch ganz anders sein könnte? sich bescheiden müssen wird. Und auch eine letzte eigentliche Wichtigkeit und Dringlichkeit könnte die Rechtfertigung des Menschen dann nicht haben. Es mag ja viele wichtige Relationen zwischen Gott und der Welt und auch zwischen Gott und dem Menschen geben, und es möchte ja dann diese so ungefähr nach Angabe der christlichen Rechtfertigungslehre geordnet sein. Warum aber sollte gerade diese den Menschen – es hat ja nicht jeder Mensch gerade religiöse und auch noch gerade christliche Interessen! – in vordringlicher Weise angehen: wenn für Gott doch auch diese Beziehung nur äußerlich ist,
-- 625 --
wenn sie für ihn selbst nichts oder nicht mehr als alle anderen bedeutet? Muß ich denn, wenn es so steht, auf die Frage: wie kriege ich einen gnädigen Gott? durchaus eine Antwort, und zwar eine schlechterdings zuverlässige Antwort haben? Die Dringlichkeit dieser Frage, und zwar als Frage nach einer schlechthin zuverlässigen Antwort, steht und fällt offenbar damit, daß die Rechtfertigung des Menschen auch für Gott selbst Bedeutung, und zwar mindestens ebenso viel Bedeutung hat wie für uns. Dann und nur dann rückt uns jene Frage auf den Leib, besteht Aussicht auf eine nicht nur fromme, sondern wahre, nicht nur denkwürdige, sondern gewisse Beantwortung dieser Frage. Nur wenn Gott selbst in dieser Sache dabei ist, können auch wir ernstlich und ganz dabei sein und damit rechnen, nicht umsonst dabei zu sein. Eben darum ist diese unsere Schlußfrage keine müßige Frage.
Nun, die Möglichkeit, daß Gott selbst hier nicht dabei sein, daß des Menschen Rechtfertigung vor ihm für ihn selbst nichts oder nicht mehr als irgend ein anderes Weltgeschehen bedeuten könnte, haben wir hier längst hinter uns gelassen. Daß sie für Gott selbst höchste Bedeutung hat, darüber ist ja damit entschieden, daß er sich ihren Vollzug nicht weniger als den Einsatz seiner selbst, die Fleischwerdung seines ewigen Wortes kosten ließ. Der sich selbst in Jesus Christus zum Unsrigen machte, damit wir, in diesem Einen gerechtfertigt, die Seinigen würden, der ist in dieser Sache offenbar nicht nur äußerlich und mittelbar, sondern in nicht zu überbietender Unmittelbarkeit dabei: den geht sie offenbar auch und (wie sollte es anders sein?) zuerst und vor allem um seiner selbst willen an. Ob sie für Gott Bedeutung hat? kann also unsere Frage nicht sein, wohl aber – damit das «Daß», über das entschieden ist, nicht ungeklärt hinter uns bleibe, damit wir auch in dieser Hinsicht in bereinigter Erkenntnis weitergehen können, – die Frage: welches ihre Bedeutung für Gott selber ist?
Gehen wir noch einmal davon aus: es ist Gottes eigenes Recht, das als solches das höchste und eigentliche Recht ist, das in seiner Gerechtigkeit und also in seinem Gericht und also in des ungerechten Merischen Rechtfertigung, in der dem Menschen in Jesus Christus geschehenen mortificatio und vivificatio zur Vollstreckung kommt. Gottes Recht, das Gesetz, das er sich selber ist, waltet, leuchtet, verherrlicht sich in diesem seinem Werk. Es ist, wie wir sahen, im Ganzen dieses Werkes, in seinen beiden großen Dimensionen, das Werk der Gnade, in der er sich dem Menschen von Ewigkeit her zugewendet, der Treue, die er ihm von Ewigkeit her geschworen hat. Es ist aber, von seinem ewigen Grund her vollstreckt, gerade in diesem seinem Charakter als Werk seiner freien Barmherzigkeit, durchaus und ungebrochen die Anwendung seines, des höchsten und eigentlichen Rechtes. Anders gesagt: es ist die Betätigung und so die Selbstbestätigung dessen, der das Wesen, der Grund,
-- 626 --
die Quelle, der Garant, die Norm alles Rechtes ist. Daß dem so ist, haben wir bereits das Rückgrat der ganzen Rechtfertigungslehre genannt. Was die so begründete Rechtfertigung für den ungerechten Menschen bedeutet, haben wir im Umriß gesehen und werden wir im Einzelnen weiter zu sehen bekommen. Daß sie auch für Gott selbst nicht nur etwas, sondern Höchstes bedeutet, ergibt sich eben daraus, daß ihm zu seinem Vollzug sein eigener Sohn und daß er in dessen Person sich selber nicht zu teuer ist. Was aber bedeutet dieses Werk für ihn? Wir haben auf diese Frage bereits mit Röm. 3, 26 geantwortet: es bedeutet für ihn, «daß er selber (in diesem Werk) gerecht sei», daß er in ihm eben sein Recht und so sich selber bestätigt. Es ist nicht verwegen, wenn man das umschreibt: in diesem Werk der Rechtfertigung des ungerechten Menschen rechtfertigt Gott auch und zuerst sich selber. Wenn das, zunächst allgemein und umfassend gesagt, wahr ist, dann erblicken wir darin gewissermaßen den Nagel, der die Rechtfertigung als Rechtfertigung auch des Menschen trägt, besser: die ewige Quelle, aus der sie als seine Rechtfertigung fließt, die ursprüngliche Bewegung, in der Gott dieses Werk als Werk für den Menschen und an ihm in Gang setzt. Seine grundlegende Notwendigkeit ist dann deutlich und eben damit die grundlegende Notwendigkeit seiner Erkenntnis für uns und wiederum der höchste Gewißheitsgrad seiner rechten Erkenntnis. Wir haben es ja dann, wenn es so ist, daß Gott in unserer Rechtfertigung zuerst und vor allem sich selbst rechtfertigt, in ihrer Erkenntnis mit der Erkenntnis Gottes selbst zu tun, der sich eben darin, daß er sein eigenes Recht bestätigt, auch als der erweist, der nicht trügen kann noch will. Inwiefern ist es aber wahr, daß Gott in unserer Rechtfertigung zuerst und vor allem sich selbst rechtfertigt?
Eins ist sicher, daß dies nur wahr sein kann unter der Voraussetzung, daß Gott als Gott in sich selbst lebendig, daß also sein ewiges Sein aus und durch sich selber nicht etwa vor lauter Göttlichkeit als ein untätiges, sondern als das in ewig neuer Setzung seiner selbst tätigste Sein zu verstehen ist – seine Unveränderlichkeit nicht als eine heilige Unbeweglichkeit und Starre, nicht als ein göttlicher Tod, sondern als die Beständigkeit seiner in Freiheit immer neu sich bestätigenden Treue zu sich selber – und so seine Einheit und Einzigkeit nicht als die Armut einer erhabenen göttlichen Einsamkeit, sondern als der Reichtum des einen ewigen Ursprungs, Grundes und Inbegriffs aller Gemeinschaft. Indem Gott laut seiner Offenbarung der dreieinige Gott ist, ist darüber entschieden, daß er dieser in sich selbst lebendige Gott ist. «Anthropomorph» wäre im Lichte von Gottes Offenbarung das Bild eines vor lauter Gottheit toten Gottes. Wogegen der Satz, daß Gott in und mit der Rechtfertigung des Menschen zuerst und vor allem sich selbst rechtfertigt, jedenfalls gerade keinen Anthropomorphismus enthält, und also gerade kein verwegener, kein solcher Satz ist, mit dem wir Gottes Ehre zu nahe treten würden. Ganz im Gegenteil!
-- 627 --
Er besagt ja in besonderer Anwendung gerade dies: daß Gott selber lebendig ist. Er sagt es im Blick auf das ewige Recht, in welchem Gott sich selber Gesetz, in welchem er in seiner ganzen souveränen Freiheit sich selber treu ist, mit sich selber übereinstimmt. Gottes Handeln in seiner Gerechtigkeit, in seinem Gericht, in des ungerechten Menschen Rechtfertigung ist das Handeln dessen, der in diesem ewigen Recht Gott ist: seine Anwendung und Auswirkung. Eben in diesem Handeln bestätigt er sich selbst in diesem seinem Rechte. Das ist die Bedeutung der Rechtfertigung für ihn selber. In diesem Sinn ist es wahr, daß Gott in ihr zuerst und vor allem sich selbst rechtfertigt.
Wir sagen: «zuerst und vor allem» zur Bezeichnung des Vorrangs – es ist ein unbedingter Vorrang! – der Würde und Wichtigkeit dieser Richtung und Tragweite des göttlichen Handelns. Es verläuft eben nicht nur im Rahmen einer äußerlichen Relation Gottes zum Menschen. Es ist kein zufälliges Tun, das allenfalls auch unterbleiben oder einen ganz anderen Gegenstand und Inhalt haben könnte. Es hat seinen Grund im Leben Gottes selber. Es geht in ihm um Gottes lebendiges Gottsein. Keine Rede davon, daß es dadurch als sein Tun in seinem Verhältnis zum Menschen entwertet würde, im Gegenteil: eben von dorther hat es sein Gefälle auch in diesem Verhältnis, ist es das Tun seiner realen, konkreten Teilnahme am Menschen. Und eben daß Gott in des Menschen Rechtfertigung zuerst und vor allem sich selbst rechtfertigt, gibt seiner Rechtfertigung des Menschen, dem tötenden und lebendig machenden Gericht, in dem sich dieses vollzieht, seine Heiligkeit, seinen eigentlichen, den spezifisch göttlichen Ernst, in welchem es sich von allen innerweltlichen Gerichten, Krisen, Katastrophen, Revolutionen, von ihrem nur relativen, nur begrenzten und darum auch nur relativ und begrenzt gewissen Töten und Lebendigmachen unterscheidet als sein Gericht, als die Revolution Gottes. – Aber was heißt das, inwiefern geschieht das, daß Gott in diesem Geschehen zuerst und vor allem sich selber rechtfertigt?
Wir greifen nach dem Zunächstliegenden, wenn wir feststellen: Es geht in des Menschen Rechtfertigung um die Betätigung des Rechtes Gottes des Schöpfers: seines Rechtes auf den Menschen als seine Kreatur, die nicht sich selber, die auch keinem Anderen, die ihm gehört, die als sein alleiniges Werk auch sein alleiniges Eigentum ist. Des Menschen Sünde, die Existenz des Menschen als Mensch der Sünde, das Faktum seines Hochmuts und Falls, ist die Problematisierung dieses Rechtes Gottes. Wir nannten dieses Faktum den Einbruch des Chaos in den von Gott geschaffenen Kosmos, den Flecken in seiner Schöpfung. Ist Gott angesichts dieses Fleckens des Kosmos und des Menschen Schöpfer und Herr, oder ist er es nicht? Ist er es, wenn dieser Einbruch möglich, tragbar, tolerabel, wenn der Wirklichkeitsanspruch des Bösen haltbar und durchführbar ist? Des Menschen Rechtfertigung ist offenbar Gottes Entscheidung des Inhalts:
-- 628 --
daß jener Anspruch nichtig, daß jener Einbruch und Flecken unmöglich, untragbar, nicht zu dulden ist. Sie ist Gottes Widerspruch gegen diesen ihm entgegengesetzten Widerspruch. Eben darum ist sie ein Gerichtsakt, und zwar ein Gerichtsakt zur Beseitigung des menschlichen Unrechts mit dem Ziel der positiven Wiederherstellung des Rechtes Gottes. Indem sie jene Geschichte, jener Übergang, jene mortificatio und vivificatio ist, erweist es sich in ihr, daß Gott die Sünde als Problematisierung seines Rechtes als Schöpfer ganz ernst nimmt und daß er dieses sein Recht ihr gegenüber keinen Fingerbreit preiszugeben willens ist. Er sprach: «Es werde Licht!» und nicht: «Es werde Finsternis!» Darum schreitet er ein gegen die Finsternis, darum scheidet er das Licht von ihr und sie vom Lichte. Er schlägt die Anfechtung seines Rechtes auf den Menschen, das Attentat auf sein Recht, auf seine Schöpfung zurück und nieder: in jener Radikalität und Totalität, in der das eben in des Menschen Rechtfertigung geschieht. Eben damit rechtfertigt er zuerst und vor allem sich selbst als des Menschen Schöpfer: als der Schöpfer des Himmels und der Erde.
Aber sein Recht greift ja weiter. Es ist ja über das Recht des Schöpfers hinaus das Recht seiner dem Menschen zugewendeten Gnade. Es ist ja der Mensch nicht nur sein Werk und also sein Eigentum, sondern darüber hinaus – von ihm dazu berufen – sein Bundesgenosse, dem als solchem er nicht nur seine Existenz gegeben, sondern den er zum Heil bestimmt, dessen Existenz er im ewigen Leben, d. h. in der Gemeinschaft mit ihm in Gestalt des Dienstes unter ihm ihr Ziel gegeben hat. Es ist ja der Mensch Gottes eben dazu erwähltes Geschöpf, es ist Gottes Recht auf ihn also das Recht dieser seiner gnädigen Erwählung. Des Menschen Übertretung ist die Problematisierung dieses Rechtes: des Menschen Versuch, aus seiner Erwählung, aus dem Bunde mit ihm herauszutreten. Sollte Gott seine Hand umsonst gerade nach ihm ausgestreckt haben? Sollte er sich den Ausfall seines Bundespartners gefallen lassen? Sollte er darauf verzichten müssen, mit ihm an das ihm gesteckte Ziel zu kommen? Sollte das dem Menschen verheißene Heil, indem dieser es verwirkt, in Gottes vergeblich ausgestreckter Hand oder irgendwo in der Luft bleiben und also gerade das Heil dessen, dem es von ihm zugedacht, der zu seiner Erlangung erwählt ist, nicht werden? Sollte Gott sich vom Menschen so zum Narren halten lassen? Des ungerechten Menschen Rechtfertigung zeigt, daß er sich diese Zurückweisung und Verhöhnung seiner Gnade nicht bieten läßt. Sie ist Gottes richterliches Einschreiten dagegen und also für das Recht seiner Gnade. Der Mensch, der sich gegen sie ins Unrecht setzt, muß als dessen Täter sterben, aber auch neu werden als Empfänger eben des ihm zugedachten Rechtes des Erwählten, des Bundespartners Gottes. Jener Mensch muß weg, dieser Mensch muß her! Das Recht Gottes, mit dem des Menschen Unrecht nicht konkurrieren kann, verlangt
-- 629 --
es so. Und eben das geschieht in des Menschen Rechtfertigung: zur Errettung und zum Heil des Menschen, aber offenbar zuerst und vor allem zur Ehre, zur Rechtfertigung des gnädigen Gottes selber – zum Erweis, daß er seiner gerade als der gnädige Gott nicht spotten läßt. Daher sein brennender Zorn, dessen Brennen doch das seiner Liebe ist, die sich mit jener Zurückweisung keineswegs abfinden will. Daher die unbegreifliche Krönung des ungerechten Menschen mit Gnade und Barmherzigkeit! Es kommt Alles darauf an, daß wir die Vorstellung von einem zurückweichenden Übersehen und Verzeihen des menschlichen Unrechts aus dem Verständnis dieses Geschehens ganz fern halten. Sie hat mit der Wahrheit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes nichts zu tun! Was hier zu sehen ist, ist vielmehr dies: daß Gott gerade nicht zurückweicht – nicht von der Gnade der Erwählung und des Bundes, nicht in seinem Heilswillen, nicht von dem Recht, in welchem er in diesem Willen dem Menschen gegenüber ist und bleibt. Eben dieser sein Wille muß geschehen und geschieht in des sündigen Menschen Rechtfertigung. Eben damit rechtfertigt Gott in ihr zuerst und vor allem sich selber.
Und nun müssen wir noch höher blicken: auf den Vollzug der Rechtfertigung in Jesus Christus. Eben indem sie als unsere, des Menschen, Rechtfertigung, in ihm geschehen ist, ist sie ja Gottes Werk: jenes göttliche Tun im Tode Jesu Christi, jenes göttliche Empfangen in seiner Auferstehung von den Toten. Sie ist Gottes Werk in seiner Einheit mit dem, was der Mensch Jesus von Nazareth, unser Mitmensch und Bruder getan und empfangen hat. Sie ist aber in der Einheit mit seinem menschlichen Tun und Empfangen Gottes Werk! Und eben als Gottes Werk in Jesus Christus ist sie als unsere, des Menschen Rechtfertigung zugleich und hier gewissermaßen in ihrer innersten Mitte – die Rechtfertigung, in der Gott sich selber rechtfertigt.
Hier, in Jesus Christus, hebt sie ja an in jenem Tun des Sohnes Gottes, in dem demütigen Gehorsam, in welchem er sich erniedrigt, sich dazu hergibt, es auf sich nimmt, ein Mensch zu werden, um in seiner heiligen Person an die Stelle aller Menschen zu treten, mit ihrem Unrecht und mit ihnen als den ungerechten Menschen in seinem eigenen Tode Schluß zu machen, sie in seiner heiligen Person hinauszuwerfen in die äußerste Finsternis. Eben indem er an unserer Stelle und für uns dieses Nein gesprochen, diese Befreiung vollzogen hat, hat er aber auch – und das zuerst und vor allem – sich selbst als Gottes Sohn, wahrer Gott von Ewigkeit, erwiesen. Er hat gerade in dieser völlig freien, völlig anspruchslosen, völlig demütigen, nur eben gehorsamen Tat sein göttliches Recht, das Recht des Sohnes Gottes in Anspruch genommen, ausgeübt, ins Werk gesetzt und offenbart. Es ist ja die Pflicht dieses Sohnes, des Sohnes Gottes, keine ihm ursprünglich fremde, von außen auferlegte, von ihm als solche bloß übernommene Verbindlichkeit. Es ist vielmehr seine göttliche Ehre, sein
-- 630 --
göttliches Recht, in dieser Verpflichtung zu handeln, seinem Vater in Freiheit, Anspruchslosigkeit und Demut völlig gehorsam zu sein. Ist doch das Sprechen jenes Nein, der Vollzug jener Befreiung ganz und gar ein göttliches Werk. Er handelt, indem er in diesem Werk Gehorsam leistet, in seiner Weise, als der Sohn, genau so der göttlichen Natur entsprechend, genau so in göttlicher Ehre und in göttlichem Recht wie der, der ihn dazu verpflichtet, der diesen Gehorsam von ihm verlangt. Und er tut, was er tut, in Ausführung des göttlichen Willens und Beschlusses, der auch der seinige ist. Indem er des Vaters Recht anerkennt und vollstreckt, macht er Gebrauch von seinem eigenen Recht, das nun eben im besonderen das des Sohnes ist. Und so ist ihm auch die besondere Verpflichtung, in der er gerade in des Menschen Rechtfertigung handelt, keine neue, keine fremde, geschweige denn eine seiner unwürdige, von ihm wohl nur widerstrebend übernommene Verpflichtung. Ist er es doch, in welchem Gott den Menschen als seinen Menschen und in welchem er sich selbst als des Menschen Gott von Ewigkeit her erwählte – und wieder er der, in welchem, im Blick auf den, nach dessen Bild Gott den Himmel und die Erde und den Menschen selbst geschaffen – und wieder er der, in dessen Person Gott den ewigen Bund der Gnade mit dem Menschen geschlossen hat. Was er tut, indem er es auf sich nimmt, selbst Mensch zu werden und als aller Menschen Stellvertreter in seinem Leiden und Sterben zu handeln, ist doch nichts Anderes als die Wahrnehmung und Versehung des Amtes, das nach Gottes Ratschluß (der wie der seines Vaters so auch sein eigener ist) sein, des Sohnes Amt von Anfang an, von Ewigkeit her, war. Auf welchem anderen Boden hat er also in seinem stellvertretenden Leiden und Sterben, in dieser Tat seines demütigen Gehorsams gehandelt als auf dem Boden, in Betätigung und Bestätigung seines göttlichen Sohnesrechtes? Er tat, indem er das tun wollte und tat, was er als Gottes Sohn tun sollte, eben das, was er als solcher tun durfte, kraft seines Sohnesrechtes. Und er tat es konkret eben als legitimer Träger, Repräsentant und Exekutor des göttlichen Schöpfer- und Bundesrechtes auf und über den Menschen. Das Alles heißt aber offenbar: er hat in der Tat seines Gehorsams und also seines stellvertretenden Leidens und Sterbens zuerst und vor allem sich selbst gerechtfertigt – vor Gott dem Vater, vor allen Engeln, Menschen und anderen Kreaturen sich selbst verhalten und dargestellt als den, der im Anfang bei Gott und selbst Gott war: als der, durch den Alles geworden, als der Herr, der über Allen und Allem ist. Er hat gerade als das Lamm, das der Welt Sünde trägt und hinwegträgt, sein ewiges Thronrecht ausgeübt und bekräftigt und auf den Leuchter gestellt. Und eben daß er das getan hat, macht das, was er als derselbe für uns getan hat, des Menschen Rechtfertigung unanfechtbar gültig und unwiderstehlich wirksam. Wir leugnen oder bezweifeln sein Sohnesrecht und mit ihm das eine ewige Recht Gottes, wenn wir bezweifeln oder leugnen, daß der Welt
-- 631 --
Sünde durch ihn getragen und in ihm hinweggetragen ist. Dieser Leugnung oder dieses Zweifels sollten wir uns nicht schuldig machen!
Und wieder hier, in Jesus Christus, vollendet sich ja unsere Rechtfertigung in jenem Empfangen des Sohnes Gottes: in dem, was ihm, dem Gekreuzigten, Gestorbenen, Begrabenen – immer in seiner Einheit mit dem Menschen Jesus von Nazareth – als Gnaden- und Machttat des Vaters in seiner Auferweckung von den Toten widerfahren ist. Das ist seine göttliche Bestätigung als unser Stellvertreter und also unseres in ihm wiederhergestellten Rechtes und neu geschenkten Lebens. Das ist die Offenbarung der Liebe, in der Gott in seinem Tod uns gesucht und gefunden, zu sich hin umgekehrt hat. Das ist aber – und das zuerst und vor allem – die in Jesus Christus offenbarte und von ihm her auch über uns leuchtende Glorie des göttlichen Rechtes, in dessen Anwendung und Auswirkung wir die von Gott Geliebten und Gerechtfertigten, wir die auf den Weg unserem Recht und unserem Leben entgegen Gestellten sind. Das eine göttliche Recht ist ja auch das Recht des Vaters, der seinen Sohn für uns dahingab, in die Welt sandte, zu unserem Stellvertreter einsetzte: das Recht der ihm damit auferlegten und von ihm übernommenen Verpflichtung, das Recht des hohen Befehls, dem er in jener freien, anspruchslosen demütigen Tat Folge leistete. Die Forderung, der er Genüge tat, war nicht sinnlos, nicht willkürlich. Sie war auch nicht die formale und also leere Forderung eines kategorischen Imperativs. Sie beruhte auf dem höchst konkreten Rechte Gottes. Und dieses Recht war das Recht des Vaters: des Gottes, der als Vater Jesu Christi und in ihm unser aller Vater, der Vater ohnegleichen, der eine wirkliche Vater ist. Die Forderung, der Jesus Christus gehorsam war, war also die Forderung des väterlichen Rechtes Gottes. Und dieses väterliche Recht ist das Recht der Gnade, der Barmherzigkeit Gottes: das Recht eben dessen, der den Menschen von Ewigkeit her geliebt, erwählt, zu seinem Bunde bestimmt, sich selbst zu seinem Bundesherrn gemacht hat. Man wird hinzufügen dürfen und müssen: es ist das Recht des Gottes, der in seiner Weisheit sieht, durchschaut und ermißt, welche Dimensionen das Unrecht des Menschen hat, wie tief die Not ist, in die er sich als Unrechttäter gestürzt, wie groß der Schaden, den er damit in der Schöpfung angerichtet hat – ferner: wer und was hier dem Unheil allein wehren kann – ferner: in was hier die rechte wirksame Hilfe und Heilung besteht. Man wird weiter sagen müssen: Es ist das Recht der Allmacht Gottes, der das Böse, wie es ja im Tode Jesu Christi geschehen ist, sein böses Werk tun läßt bis an die äußerste Grenze seines Vermögens, um es daselbst sich selbst, durch das, was es fertigbringt, indem es sich in seinem Sohn an ihm selber vergreifen darf, ad absurdum führen und zu Schanden werden zu lassen. Das Alles, seine Gnade, Weisheit und Allmacht war das väterliche Recht Gottes, in welchem er den Gehorsam forderte, den der Sohn – er
-- 632 --
seinerseits in Ausübung seines Sohnesrechtes – bis zum Tode, dem Tode am Kreuz geleistet hat. Und seine Auferweckung von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters ist die Offenbarung eben des väterlichen, weil gnädigen, weisen und allmächtigen Rechtes jener Forderung. Es mußte auf Grund des freien, souveränen, aber eben nicht blinden, nicht tyrannischen, sondern väterlichen Willens und Beschlusses Gottes alles so geschehen, wie es im Leiden, Sterben und Begrabenwerden Jesu Christi geschah. Ihm, dem Sohne, konnte dieses Müssen und also dieser väterliche Wille und Beschluß nichts Fremdes sein. Er brauchte sich ihn nicht erst zu eigen zu machen. Er konnte ihm gerade den ganz freien Gehorsam nicht verweigern, in welchem er ihn – er als das handelnde Subjekt jenes Geschehens – ins Werk gesetzt und bis aufs Letzte vollzogen hat. Aber eben seine Auferweckung von den Toten ist die Betätigung und Bestätigung des Rechtes in jenem Müssen, des Rechtes der Forderung, der er gehorsam war, als väterliches Recht. Es wird in ihr offenbar als das Recht dessen, der in seiner Gnade nicht den Tod des Sünders will, sondern daß er sich bekehre und lebe – als das Recht dessen, der in seiner Weisheit des Menschen Krankheit, aber auch das Mittel zu seiner Genesung wohl kennt: daß sie seine Krankheit zum Tode ist und daß seine Genesung nur in seiner Errettung aus dem Tode bestehen kann – als das Recht dessen, der in seiner Allmacht auch dem Tode Macht zu geben, aber auch Sinn zu verleihen, ihm ein positives Ziel zu setzen, ihn eben damit zu begrenzen und zu überwinden, seine Macht ihm auch zu nehmen vermag. Das widerfährt Jesus Christus in seiner Auferstehung, das empfängt er in ihr – er als der Stellvertreter aller Menschen und also zu ihren, zu unseren Handen: daß das väterliche Recht der von ihm erfüllten göttlichen Forderung an ihm offenbar, sichtbar, hörbar, betastbar wird – genau so wie er sie als göttliche Forderung in der Gehorsamstat seines Todes (seinerseits in Ausübung seines Sohnesrechtes!) offenbar, sichtbar, hörbar, betastbar gemacht hatte bis hinunter in die Tiefe seines Schreiens und Fragens: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» ( Mr. 15, 34). «So müssen umkommen, Herr, alle deine Feinde! Die dich aber lieben, sind wie die Sonne, wenn sie aufgeht in ihrer Pracht» ( Richt. 5, 31). Denn es geschah ihm in seiner Auferweckung, daß Gott mit dem Menschen – dem in ihm getöteten Menschen der Sünde – durch seinen notwendigen Tod hindurch zu seinem Ziele kam, daß eben dieser Mensch in ihm, befreit von der Last seiner Vergangenheit, die die seines Unrechts, seines Hochmuts und Falles war, frei wurde für seine Zukunft als ein Gerechter, frei als dieser Gerechte zu leben, mehr noch: frei für sein Heil, für das ihm zugedachte ewige Leben, daß er Gott «eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleich wie er ist auferstanden vom Tode, lebt und regiert in Ewigkeit». So ist er auferstanden vom Tode: als der, der in seiner Person diese Zukunft für uns
-- 633 --
empfangen hat. Auf dieses unser Recht zielte die Forderung, der er in seinem Leiden und Sterben gehorsam war, weil das Recht, das ihr zugrunde lag, das väterliche Recht Gottes war. Es war das, was ihm (und in ihm uns allen) in seiner Auferweckung von den Toten widerfahren ist, der Erweis des Rechtes des Vaters, der seinen Sohn eben darum züchtigt, weil er ihn liebt, der ihn liebt, indem er ihn züchtigt. Es war also der Selbstbeweis Gottes als sein und unser gnädiger, weiser, allmächtiger und als solcher rechter Vater. Es war als die Vollendung unserer Rechtfertigung auch Gottes Selbstrechtfertigung.
Hatte Gott sie nötig? möchte man im Rückblick auf diese ganze Erwägung fragen. Es ist klar, daß Gott sie nicht nötig hatte. Gott hat nichts nötig. Gott ist ganz frei. Gott ist niemandem irgend etwas schuldig – und zuallerletzt Rechenschaft über die Gerechtigkeit seines Tuns und Lassens. Aber wenn er nun – als der von den Gottheiten aller Philosophien und Religionen verschiedene lebendige Gott – auch dazu frei, auch dessen fähig ist, sich selbst zu rechtfertigen – und wenn er nun in unserer Rechtfertigung (zum höchsten darin, daß sie eben in Jesus Christus geschehen ist!) nach seinem freien Wohlgefallen tatsächlich auch (und zwar zuerst und vor allem) sich selbst rechtfertigen wollte und gerechtfertigt hat? Was haben wir dann eigentlich dagegen einzuwenden – wohl gar noch unter Berufung auf seine Freiheit und also mit dem Argument, daß er solches nicht nötig hatte? Unnütze Sorge um seine Erhabenheit! Gewiß ist Gott gerecht – war er es und wird er es sein – ohne sich selbst als gerecht erweisen zu müssen. Aber da er sich als solcher erweisen wollte und erwiesen hat, dürfte es angemessen sein, ruhig damit zu rechnen, daß er das nicht umsonst gewollt und getan hat. Sollte er nicht etwa von uns in Erkenntnis unserer eigenen Rechtfertigung durch ihn, damit sie klare, gewisse Erkenntnis sei, allererst als der in sich selbst rechte, richtige, gerechte Gott erkannt sein wollen? Sollte er also von seiner Freiheit, sich selbst zu rechtfertigen, nicht gerade um unseretwillen Gebrauch machen wollen und Gebrauch gemacht haben? Sollte er den Menschen nicht praktisch gerade darin aufs Höchste lieben, aufs Innigste zu sich ziehen, daß er ihn, indem er ihn rechtfertigt, nun gerade nicht vor seinem eigenen Recht dazu wie vor einem verschlossenen Tor stehen, staunen, sich wundern und gewissermaßen gaffen läßt, sondern daß er sein Recht – sein Recht als Schöpfer und Bundesherr, sein göttliches Vater- und Sohnesrecht – erweist, leuchten und sich kundgeben läßt und also dem Menschen zu erkennen gibt? «Die Sonne der Gerechtigkeit, die Heilung birgt unter ihren Flügeln» ( Mal. 4, 2)! Wie, wenn wir ohne das – sollte uns jenes Tor tatsächlich verschlossen sein – gerade unsere eigene Rechtfertigung durch ihn gar nicht wahrhaft, wirklich und standfest, allen Problemen und Zweifeln enthoben, zu erkennen vermöchten? Wie, wenn wir in Erkenntnis unserer eigenen Rechtfertigung eben dessen durchaus bedürften, daß
-- 634 --
wir ihn selbst, seine Gerechtigkeit erkennen, auf Grund seines Selbstbeweises erkennen und, diesen erkennend, an seinem eigenen inneren Leben teilnehmen dürfen? Da uns nun jenes Tor tatsächlich nicht verschlossen ist, da Gott, indem er uns rechtfertigt, tatsächlich auch, zuerst und vor allem, sich selbst als gerecht erweist, da er uns als solcher offenbar und erkennbar ist, wird es bestimmt geraten sein, jene besorgte Frage an ihn gänzlich fallen zu lassen und statt dessen die Frage an uns selbst zu richten: welchen Gebrauch wir von der Freiheit zu machen gedenken, die er, indem er von seiner Freiheit nun eben diesen Gebrauch machen wollte und gemacht hat, uns offenbar geben wollte – von der Freiheit in unserer eigenen Rechtfertigung ihn selbst als den ewig Gerechten zu erkennen und eben damit das Licht, die Kraft, die unwidersprechbare Gültigkeit und unwiderstehliche Wirksamkeit unserer eigenen Rechtfertigung?
3. DES MENSCHEN FREISPRUCH
Freispruch! – von Gott, und darum unbedingt ausgesprochen und unbedingt gültig – das ist des Menschen Rechtfertigung. In Gottes Gericht fällt, seinem ewigen Erwählen und Verwerfen entsprechend, aber nun mitten in der Zeit und als das zentrale Ereignis der ganzen menschlichen Geschichte, bezogen auf alle vorher und alle nachher lebenden Menschen, eine Entscheidung, ein scheidendes Urteil. Sein Ergebnis ist – im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi ausgesprochen – des Menschen Freispruch. Und dieser als solcher ist des Menschen Rechtfertigung: er ganz allein, er aber auch unbedingt wahr und unbedingt wirksam – außer ihm keine, in ihm alle, des Menschen gänzliche Rechtfertigung. Ob der Mensch ihn höre, um sich an ihn zu halten, um als Freigesprochener zu leben, ist eine Frage für sich. Wo er vom Menschen gehört wird, wo Menschen sich an ihn halten, es also wagen, als Freigesprochene zu leben, da ist auch die Erkenntnis, daß er ganze und nicht nur halbe Kraft hat, da wird sich der Mensch auch nicht weigern, ihm die ganze und nicht nur eine halbe Ehre zu geben.
Gottes in seinem Gericht fallendes Urteil ist ein scheidendes Urteil. Und eben kraft dieses Scheidens ist sein Ergebnis des Menschen Freispruch. Es scheidet nämlich zwischen seinem Unrecht bzw. ihm als dessen Täter, als Gegenstand der göttlichen Verwerfung auf der einen – und ihm als Gottes Erwählten, Geschöpf und Bundespartner auf der anderen Seite. Es reißt diesen Menschen los von jenem, und so jenen von diesem. Es reißt zwischen diesem und jenem einen unüberbrückbaren Abgrund auf. Es macht jenen zum alten Menschen, dessen Zeit abgelaufen, zur Vergangenheit geworden ist, um diesen als einen anderen, neuen
-- 635 --
Menschen auf den Plan zu führen und in seine Zukunft schreiten zu lassen, in welcher für die Wiederkehr jenes ersten kein Raum mehr ist. Es macht jenen zum Schatten, zum Gespenst, um diesem Atem, Fleisch und Blut, reale Existenz zu geben. Es legt jenen unter Verschluß und läßt diesen frei ausgehen: frei von seiner Identifikation mit jenem und seinem Unrecht, frei für das Recht (sein eigenstes Menschenrecht!), das ihm eben damit zugebilligt wird, daß er von jenem geschieden, daß ihm sein Unrecht – seine Existenz in jener Identifikation mit dem Unrecht – abgesprochen wird. Frei für dieses Recht, ist er frei zum Leben auf Grund und im Schutz dieses Rechtes, als gerechter Mensch. Das ist, in Gottes Gericht ergangen, Gottes scheidendes und also den Menschen selbst freisprechendes Urteil.
Dreierlei dürfte zunächst klar sein: Es kann dieser Freispruch (1) nur Gottes Urteil über den Menschen sein. Es kannjene Scheidung zwischen dem Menschen der Sünde und dem Menschen selbst, es kann das Aufreißen jenes Abgrundes zwischen beiden, es kann jene Trennung von Vergangenheit und Zukunft, es kann jener Verschluß des alten und jenes freie Ausgehen eines neuen Menschen kein menschliches, sondern nur ein göttliches Werk sein. Es ist Schöpfung – neue Schöpfung, aber Schöpfung wie jene Erste, die sich ja grundlegend auch in einem großen Scheiden vollzogen hat. Es müßte der Mensch in der Lage sein, sich selbst zu töten, um sich selbst als ein Anderer lebendig zu machen, und also: sich selbst aufzuheben und dann gleich auch noch wohl aufzuheben, wenn es seine Sache sein sollte, jenes Gericht und in jenem Gericht dieses scheidende Urteil zu vollziehen und in Kraft zu setzen: sich selbst freizusprechen. Steht er in jenem Gericht und unter diesem scheidenden Urteil, dann weil und indem es das Gericht und Urteil Gottes ist. Ist er also ein Freigesprochener, dann hat Gott ihn dazu – aus einem Ungerechten zu einem Gerechten – gemacht. Eben das ist es, was Gott in Jesus Christus getan hat.
Es kann aber dieser Freispruch (2) auch nur als Gottes Urteil über ihn und also als Gottes an ihn gerichtetes Offenbarungswort von ihm vernommen, beherzigt und betätigt werden. Daß er der von Gott Freigesprochene ist, das ist nicht seine, sondern Gottes Wahrheit; das wird er sich also niemals selbst erschließen und sagen, sondern immer nur als ihm von Gott Erschlossenes gesagt sein lassen können. Es geschieht sein Übergang von seiner Existenz als alter zu seiner Existenz als neuer Mensch, sein Herauskommen aus seiner Vergangenheit und sein Hineingehen in seine von jener geschiedene Zukunft nicht kraft seines Verfügens. Er kann ihn nicht vollziehen, sondern nur vollzogen finden. Ebenso kann auch die Erkenntnis seiner selbst als des in diesem Übergang Begriffenen nur im Bereich einer solchen menschlichen Selbsterkenntnis liegen, in der er die Erkenntnis, in der Gott ihn in jenem Urteil erkennt, nachvollzieht. Wie käme er aber anders dazu als unter der Voraussetzung, daß sie ihm von
-- 636 --
Gott selbst – und das eben tut Gott in seinem Wort – vorvollzogen wird? Wie er sich anders als unter dieser Voraussetzung nie als Sünder gegen Gott und vor ihm erkennen wird, so auch nie, so noch viel weniger, als der von der Sünde und von seinem Sündersein Freigesprochene. Vernehmen, beherzigen und betätigen heißt nach beiden Seiten: annehmen, was uns über uns selbst von Gott gesagt ist, während Alles, was wir uns nach beiden Seiten über uns selbst sagen wollten, weder wirklich den Inhalt haben könnte: daß wir Sünder und daß wir gerechtfertigt sind, noch auch ernstlich von uns vernommen, beherzigt und betätigt zu werden vermöchte. Der in Jesus Christus ergangene Freispruch ist aber nicht unser, sondern Gottes Wort.
Ist aber unser Freispruch Gottes Urteil und Inhalt seines Wortes an uns, dann hat er eben (3) nicht halbe, sondern ganze, nicht relative, sondern absolute Autorität, Kraft und Gültigkeit. Es ist uns dann, indem dieses Urteil über uns gefällt wurde, etwas geschehen, was nicht wieder rückgängig zu machen ist. Es ist dann mit diesem Freispruch nicht nur irgend etwas über uns gesagt, uns gewissermaßen angeklebt, sondern eine Tatsache, eine gründlich veränderte menschliche Situation geschaffen: wir sind dann die von Gott Freigesprochenen. Wir haben dann Frieden mit ihm. Und es kann dann unsere entsprechende Selbsterkenntnis – ist sie wirklich unsere Selbsterkenntnis im Nachvollzug des uns durch sein Wort über uns Gesagten – keinem legitimen Zweifel, keiner echten Problematik ausgesetzt sein. Dem unbedingten Ja, in welchem Gott den Menschen frei spricht, kann als legitime, als echte Antwort, nur ein ebenso unbedingtes menschliches Ja entsprechen, ein Bekenntnis ohne Wenn und Aber, während jedes Fragezeichen, das wir hier – Gründe dazu könnten allerdings vorliegen! – setzen wollten, eine Auflehnung gegen Gottes Gericht, Urteil und Wort, bei aller subjektiv noch so begründeten und aufrichtigen Demut, in der wir es setzen wollen könnten, eine im Grunde freche und dann auch entsprechend gefährliche Überheblichkeit bedeuten würde. Der in Jesus Christus ergangene göttliche Freispruch hat bindende Kraft. Er redet von einem Sein und Haben des Menschen, den er angeht.
Man wird nicht übersehen dürfen, daß man im alttestamentlichen Psalter neben den vielen Stimmen des reinen Lobes Gottes, seiner Taten, seiner Ehre, Macht und Treue und neben den Stimmen der Klage, der Trauer, der Sehnsucht und vor allem der Buße – und mit allen diesen Stimmen zusammen – nicht ganz selten auch die Stimme jenes merkwürdigen Trotzes zu hören bekommt, in welchem andere, aber oft auch dieselben Dichter sich vor Gott und den Menschen ihrer eigenen Gerechtigkeit rühmen, sich auf ihre Unschuld, auf die Reinheit ihres Herzens, ihrer Absichten und Wege berufen und förmlich von da aus mit Gott zu rechten unternehmen. Ich greife einige Beispiele heraus: «Ich war unsträflich gegen ihn und hütete mich vor meiner Sünde. Darum vergalt mir der Herr nach seiner Gerechtigkeit, nach der Reinheit meiner Hände vor seinen Augen. Gegen den Frommen zeigst du dich fromm, gegen den Redlichen redlich; gegen den Reinen zeigst du dich rein» ( Ps. 18, 24 f.). «Du Herr, segnest den Gerechten; wie mit einem Schilde
-- 637 --
deckst du ihn mit deiner Gnade» ( Ps. 5, 13). «Du hast mein Recht und meine Sache geführt, du bist zu Gerichte gesessen, ein gerechter Richter» ( Ps. 9, 5). «Der Gerechte sproßt wie der Palmbaum, wächst hoch wie die Zeder vom Libanon. Gepflanzt im Hause des Herrn sprossen sie auf in den Vorhöfen unseres Gottes. Noch im Alter tragen sie Frucht, sind saftvoll und frisch, zu verkünden, wie gerecht der Herr, mein Fels, an dem kein Unrecht ist» ( Ps. 92, 13 f.). «Der Gerechte wird sich des Herrn freuen und zu ihm seine Zuflucht nehmen und alle redlichen Herzen werden sich rühmen» ( Ps. 64, 11). Der am Gesetz des Herrn seine Lust hat und über ihn sinnt Tag und Nacht, «der ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht verwelken, und alles, was er tut, gerät ihm wohl» ( Ps. 1, 3). Darum fordert er, wenn er in Not und Bedrängnis ist: «Schaffe mir Recht, o Herr, nach meiner Gerechtigkeit und nach der Unschuld, die in mir ist! Mache ein Ende der Bosheit der Gottlosen und festige den Gerechten!» ( Ps. 7, 9 f.). «Schaffe mir Recht, o Herr, denn unsträflich bin ich gewandelt, habe auf den Herrn vertraut ohne Wanken. Prüfe mich, Herr, und erprobe mich, erforsche mir Nieren und Herz! Denn deine Güte war mir vor Augen, und ich bin gewandelt in deiner Wahrheit» ( Ps. 26, 1 f.). Unter Umständen auch die rechthaberische Beschwerde: «Ganz umsonst hielt ich rein mein Herz und wusch meine Hände in Unschuld; war ich doch geplagt alle Zeit und meine Züchtigung war jeden Morgen da» ( Ps. 73, 13 f). Und auf diesem Hintergrunde: welche Betrachtungen über die Gottlosen, die Stolzen, die «Feinde», ihre Drohungen, ihr unverdientes Glück, ihre Übermacht! welche Gebete – nicht nur um Bewahrung vor ihnen, sondern – von sanften Christen oft genug beklagt! – um ihren Sturz und Untergang! Was soll man davon halten? Und was von Hiobs allem klugen und strengen Zureden seiner Freunde gegenüber durchhaltender Behauptung seines guten Gewissens: nicht etwa nur ihnen, sondern auch, gerade Gott gegenüber – eine Haltung, die er dann allerdings der «aus dem Wetter» ergehenden Rede Gottes selbst gegenüber preisgibt: «Vom Hörensagen habe ich von dir gehört; nun aber hat mein Auge dich gesehen. Darum widerrufe ich und bereue in Staub und Asche» ( Hiob 42, 5 f.)? Aber was soll das, daß ihm nun dennoch zweimal (42, 7 f.) ausdrücklich zugebilligt wird, daß er im Unterschied zu seinen besonnenen Freunden in seinem ganzen ungestümen Trotz auf sein Recht gerade von Gott recht geredet habe? In etwas kleinerem Maßstab – aber in derselben eigentümlichen Widersprüchlichkeit – begegnet uns dieser Trotz doch auch bei Paulus ( 1. Kor. 4, 2 f.): «So sucht man nun nicht mehr bei einem Haushalter, als daß er treu erfunden werde. Mir macht es nicht das Geringste aus, von euch oder an einem anderen menschlichen Gerichtstag beurteilt zu werden. Ich richte mich aber auch selbst nicht; denn ich bin mir keiner Anklage bewußt – deshalb bin ich freilich nicht gerechtfertigt, der mich aber richtet, ist der Herr», von dem es dann heißt, daß, wenn er kommen und das im Dunkeln Verborgene und die Ratschläge der Herzen offenbar machen werde, einem Jeden – Paulus sagt hier durchaus nicht: Anerkennung oder Verurteilung, sondern eindeutig: Lob von Gott widerfahren werde! Im Blick darauf hat er also die Korinther gewarnt, nicht vor der Zeit zu richten! So ausgerechnet der Apostel der allein im Glauben zu gewinnenden Gerechtigkeit! Und wie ist es eigentlich mit der berühmten Stelle Röm. 8, 30 f., wo – hier nun doch offenbar auch in größtem Maßstab – von der Erwählung zur Berufung zur Rechtfertigung zur Verherrlichung derer, die Gott lieben, eine schnurgerade Linie durchgezogen wird, mit dem Ergebnis: «Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Der seines eigenen Sohnes nicht verschonte, sondern hat ihn für uns Alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm (zusammen) nicht Alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes anklagen? Gott rechtfertigt sie ja, wer will sie verdammen? Christus Jesus ist ja gestorben, mehr noch: auferweckt – Er ist zur Rechten Gottes. Er tritt auch ein für uns.» Man braucht jenen Trotzworten im Psalter und auch denen des Hiob keinen anderen Sinn zu unterschieben, über den hinaus, den sie in ihrem genauen Wortlaut und Kontext offensichtlich haben. Man wird sie aber immerhin auch nicht außerhalb des Kontextes des übrigen Alten Testamentes lesen dürfen – man wird gerade im Psalter diese Stimmen nun doch mit den anderen dort ertönenden
-- 638 --
Stimmen zusammenhören müssen, um gewahr zu werden: so etwas ganz Anderes als Paulus haben in ihrer ganzen Befremdlichkeit auch sie nicht gesagt. Man wird sich im Gegenteil fragen müssen: ob das von Paulus Gesagte – jedenfalls Röm. 8 noch viel ungebrochener Gesagte – nicht in direktem Anklang an jene alttestamentlichen Stimmen gesagt ist? Daß das «Unschuldsmotiv» auch den babylonischen Psalmen wohl bekannt ist, ändert ja nun doch nichts daran, daß es im israelitischen Psalter seinen Sinn, sein Recht, seine Notwendigkeit von Israels gnädiger Erwählung her hat, auf Grund deren Gott den Bund mit ihm aufrichten und halten wollte. Als Partner dieses Bundes hat Israel notorisch versagt ( Ps. 78 u. 106). Hinter jenen Psalmworten stehen die erschütternden Gerichte, in denen Gott auf die Untreue seines Volkes geantwortet hat. Ihre Folge, seine klägliche Lage inmitten der Weltvölker, unter ihrem äußeren Druck und inneren Einfluß, aber in seiner eigenen Mitte auch die peinliche Fortsetzung eben der Untreue, die es dahin geführt, sind die Gegenwart, die negative Voraussetzung jener Worte. Ihre positive Voraussetzung aber ist die in dem Allem nicht ausgelöschte Erinnerung an die in dem Allem ebenfalls und vor allem nicht erschütterte, unverdiente, aber in sich schlechterdings gewisse Treue Gottes selbst, die von denen, die sie erkennen, nicht verleugnet, sondern nun erst recht, und nun eben nicht nur halblaut, sondern nur fortissime bezeugt werden kann. Es sind die Frommen, die Reinen, die Unschuldigen, die Unsträflichen, die Redlichen, die angesichts ihrer «Feinde» auf ihre Gerechtigkeit trotzen und im Bewußtsein ihrer Gerechtigkeit nach der Gerechtigkeit Gottes schreien, eben die, die seinen Bund, seine Treue nicht vergessen, sondern vor Augen haben, eben von daher aber auch das Licht, das Allem zum Trotz auch auf ihrem Leben liegt, die darum auf ihr Recht zu pochen durchaus nicht unterlassen können. Wird ja alles Andere, was zu sagen ist, im Psalter auch gesagt – oft in denselben Stücken des Psalters auch gesagt! – so muß doch auch das gesagt und lieber zu stark und laut als etwa gar nicht gesagt werden: «Israel hat dennoch Gott zum Trost, wer nur reinen Herzens ist» ( Ps. 73, 1, Luther). Wer reinen Herzens ist, der darf nicht nur, der muß sich auf den Trost Israels und also auf sein eigenes Getröstetsein berufen: ohne Rücksicht auf das, was gegen Israel und gegen ihn selbst als Glied dieses Volkes im übrigen auch zu sagen ist. Er hat es jetzt nicht damit zu tun, sondern mit dem, was Gott für Israel und so auch für ihn ist. Wer sich daran hält, der muß getrost sein. Der ist es. Er fiele dann sofort zurück in Herzensunreinheit, in Ungerechtigkeit – merkwürdig genug: er würde sich dann einer Ungehörigkeit Gott gegenüber schuldig machen – wenn er diese Berufung unterlassen, wenn er aus dieser seiner Gerechtigkeit heraus nicht oder nicht unbedingt an die Gerechtigkeit Gottes appellieren, Gott nicht in letztem Ernst für seinen Fels, seine Burg, seinen Schild halten würde, an dem alle seine «Feinde» schließlich nur zerschmettern können: Hat Hiob sich darin (42, 1 f.) verfehlt, daß er an der Gerechtigkeit Gottes zweifelte, vielmehr: gegen sie murrte, sich auflehnte, Gott gegenüber auf seinem Recht bestand, wie wenn er als ein seiner Sache gewisser Prozeßgegner mit ihm umgehen könnte, muß er in dieser Hinsicht widerrufen und in Staub und Asche bereuen, so entbrennt doch Gottes Zorn (42, 7 f.) nicht gegen ihn, sondern gegen seine Freunde, die ihn an dem irremachen wollten, worin er auch in seinem Unrecht tatsächlich im Recht war: darin, daß er sich auch zweifelnd, murrend, revoluzzend – mit wüst krächzender Stimme gewissermaßen – an Gott halten und als darin Gerechter bei ihm Gerechtigkeit für sich suchen durfte, wollte und mußte. Eben darin war er Gottes Knecht und, indem er mit seinem ganzen Protest das von ihm sagte, hat er recht von ihm geredet. Was wurde aus den drei so vortrefflichen Theologen mit ihrer so genauen, so überaus richtigen Wissenschaft von Gottes Gerechtigkeit und von der dem Menschen gebotenen Demut? Sie wurden angewiesen, ein Brandopfer von sieben Stieren und sieben Widdern – nicht für Hiob, sondern für sich selbst darzubringen, auf das hin Gott Hiobs – des allzu trotzigen und nun doch unendlich viel richtigeren Hiob! – Fürbitte für sie annehmen und ihnen das Schlimme, das sie verdient, ersparen wollte und erspart hat. Während Hiobs Geschick, indem er diese Fürbitte für sie tut, «gewendet» wird: Brüder und Schwestern und alle «seine alten Bekannten» kommen zu ihm, essen mit ihm in
-- 639 --
seinem Hause, spenden ihm schönen nachträglichen Trost, «und sie gaben ihm ein Jeder einen Taler und einen goldenen Ring». Hiob selbst aber – die Sonne der Gerechtigkeit geht sichtbar und fühlbar über ihm auf – wird gesegnet «hernach mehr als zuvor»: bekommt 14000 Schafe, 6000 Kamele, 1000 Joch Rinder und 1000 Eselinnen, 7 Söhne und 3 Töchter obendrein («Täubchen» die erste, «Wohlgeruch» die zweite, «Schminkbüchschen» die dritte genannt), «und man fand im ganzen Land keine Frauen so schön wie Hiobs Töchter, und ihr Vater gab ihnen einen Erbteil unter ihren Brüdern», lebte noch 140 Jahre, sah Kinder und Kindeskinder, vier Geschlechter, und starb alt und lebenssatt. Ob dieses Finale das Werk eines späteren Redaktors des Hiobbuches ist oder nicht, tut nicht das Geringste zur Sache. Es ist, wer es auch verfaßt haben mag, in Ordnung. Denn eben das ist (mit diesem Schluß oder ohne ihn) der Sinn des Hiobbuches: Gott bekennt sich in höchster Realität zu dem, der es, wie menschlich – allzumenschlich er sich dabei gebärden mag, wagt, sich unverdrossen zu ihm zu bekennen. Er sagt Ja zu des Menschen Selbstbejahung, ohne die solches Bekenntnis nun einmal nicht tunlich, das, soll es zu solchem Bekenntnis kommen, nicht nur erlaubt, sondern geboten ist. Nimmt man an, daß die angesichts des in Jesus Christus erfüllten Bundes von Paulus gewagte Selbstbejahung («Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?») in Ordnung ging, von Gottes Ja zu solch kühnstem Unternehmen umgeben und getragen war, dann wird man auch damit rechnen dürfen und müssen, daß es sich auch bei Hiob und jenen Psalmisten in ihrer Zeit der Erwartung, der Verheißung und Weissagung des erfüllten Bundes (dem Schein und allen noch so berechtigten Einwänden zuwider) um etwas Anderes als um irgend eine Gestalt blöder Gesetzes- und Werkgerechtigkeit gehandelt hat. Das Andere, um das es da ging, war dann eben das menschliche Ja zu dem in des treuen Gottes Gericht ergehenden göttlichen Urteil und Freispruch. Es konnte und kann, wo dieser Freispruch vernommen wird, ante wie post Christum nur ein unbedingtes Ja sein – ohne Fragezeichen!
Nachdem dies vorausgeschickt ist und damit ein für allemal gesagt sein soll, müssen wir nun aber fortfahren: des Menschen Rechtfertigung ereignet sich, des Menschen Freispruch wird gesprochen, er ist in jeder Gegenwart jedes Menschen des lebendigen Gottes lebendiges Wort. Wir reden bei dem, was dieser Begriff bezeichnet, nicht von einem Zustand, sondern unter allen Umständen von jener Geschichte, von jenem Übergang, der zwar nur in einer und also nicht auch in der entgegengesetzten Richtung verläuft, der aber einen terminus a quo und einen terminus ad quem hat und also von hier nach dort verläuft, in welchem ein Anheben und ein Vollenden, ein Kommen und ein Gehen stattfindet, in welchem der Mensch eben insofern unter einer doppelten Bestimmung steht, als er aus dem Vorher seines Unrechts und also seines Todes in das Nachher seines Rechtes und also seines Lebens schreitet. Das ist das Werk des göttlichen Urteils – jenes von Gott gesprochenen, in Gottes Wort dem Menschen offenbarten und darum unbedingten Freispruchs – daß der Mensch auf diesen Weg versetzt, daß das ihm ebenso unmögliche wie unbegreifliche Schreiten von hier nach dort ihm tatsächlich mächtig erlaubt, daß er durch Gottes Tat der Mensch jener Geschichte – der Geschichte Jesu Christi – wird: der Mensch, der also in jeder Gegenwart zugleich jene Vergangenheit und diese Zukunft hat: jene als Vergangenheit, diese als Zukunft, jene erledigt hinter sich, diese als Verheißung vor
-- 640 --
sich – unumkehrbar in der Folge des Todes und der Auferstehung Jesu Christi – aber in dieser Folge nicht nur das Eine oder das Andere, sondern zugleich Beides, und je in seiner besonderen, höchst verschiedenen Weise Beides ebenso real, ebenso ernst, Beides in keiner Gegenwart vermischt (als wäre es nicht von Grund aus zweierlei!), sondern in jeder wohl unterschieden, aber auch in keiner getrennt, sondern – in jener Folge – als Momente jener Geschichte – in jeder Gegenwart unauflöslich miteinander verbunden.
Die Rechtfertigung ist also – das ist der nicht zu unterdrückende Vordersatz, mit dem wir nun beginnen müssen – nach rückwärts gesehen: der göttliche Freispruch des sündigen Menschen. Sie ist Gottes Urteil, laut dessen der Mensch jener Vergangenheit entrissen wird und also Gottes Urteil über ihn, der eben aus dieser Vergangenheit in eine ganz andere Zukunft hinüberschreitet. Noch ist er also in jeder Gegenwart auch der, der er war: der Mensch der Sünde, der Mensch des Hochmuts, der als solcher gefallene Mensch. Er ist es nicht, um es zu bleiben, sondern um es nicht mehr zu sein, um ein Anderer zu werden. Aber noch ist er es. Wie wäre er der Mensch jener Geschichte, in jenem Übergang begriffen, wie könnte Gottes Freispruch als solcher zu ihm gesprochen werden, ihn angehen, wenn er es einfach nicht mehr, wenn er einfach schon frei, eines Freispruchs also gar nicht bedürftig wäre? Der von Gott gerechtfertigte und also freigesprochene Mensch ist der, dem es widerfährt, aus jener Vergangenheit herausgerissen zu werden. Das widerfährt ihm in jeder Gegenwart so, daß er von Gott eben dort, in jener Vergangenheit gefunden wird. Gott begegnet ihm als der Arzt, der zu dem Kranken kommt, nicht zu dem Gesunden, als der Hirte, der die 99 Schafe verläßt, um das eine verlorene zu suchen, als der Vater, der seine Arme nach dem in die Fremde gegangenen Sohn ausbreitet, der ihm das gemästete Kalb zurichtet, als der Heiland, der mit den Zöllnern und Sündern zu Tische sitzt. Die Rechtfertigung hebt an als des Menschen Freispruch von seiner Sünde, von seinem Sündersein. Nur da anhebend, kann und wird sie sich auch vollenden: in der Aufrichtung seines Rechtes, in der Erneuerung seines Lebens. Wäre der Mensch ohne Sünde und also kein Sünder, was sollte sie ihn angehen? Sie geht ihn aber an, sie ist Gottes gerechtes Urteil über ihn, weil und indem er noch kein Gerechter, noch ein Ungerechter, noch der alte, noch nicht der neue Mensch ist. Sie ist iustificatio impii. Das ist ihr Geheimnis, das macht sie zu jenem Werk, das nur Gottes Schöpferwerk sein kann: zur creatio ex nihilo, vielmehr ex contrario. Das charakterisiert sie ja auch als Gnadenwerk, als Grundlegung des Werkes der Versöhnung. Ihrer bedarf eben der von Gott abgefallene, der sich in seinem Hochmut gegen ihn auflehnende Mensch. Gerade ihn meint Gott, gerade ihn liebt er, weil er ja doch der von ihm erwählte und
-- 641 --
geschaffene Mensch ist. Gerade ihn rechtfertigt Gott, gerade ihm hält und erweist er damit seine Treue: ihm, dem Ungetreuen. Anhebend damit, daß er gegen ihn im Rechte ist, sein Recht geltend macht und also, daß er ihm, dem Ungetreuen, zürnt, daß er ihn als solchen verdammt, tötet, vergehen läßt, aber eben seine Rechtfertigung damit anhebend, eben um damit ihn selbst von jenem Ungetreuen gänzlich zu scheiden, ihn selbst also in die Freiheit zu führen! Diese Scheidung muß ihm widerfahren. Der sündige Mensch ist der Mensch, dem sie widerfahren soll und wird, aber noch nicht widerfahren, dessen Selbstidentifikation mit seinem Unrecht noch nicht rückgängig gemacht ist. Eben ihn geht Gottes Urteil an. Eben er wird durch sein Urteil frei – von sich selbst frei! – gesprochen.
Seine Rechtfertigung – und was es um des Menschen Rechtfertigung überhaupt ist, und so auch, was sich in jenem göttlichen Freispruch in Wahrheit zuträgt – hat noch Keiner erkannt, als den in Gottes Gericht Freigesprochenen hat sich noch Keiner erfunden, die überschwängliche Herrlichkeit dieses Geschehens hat noch Keiner geschmeckt und von der Freiheit des von Gott Freigesprochenen hat noch Keiner Gebrauch zu machen gewußt, der sich nicht, gerade indem ihm solches geschah, als Sünder vor Gott erkennen mußte. Es kennt sich gerade, wer um seine, um des Menschen Rechtfertigung in Wahrheit und Klarheit weiß, als den Mann, der jene Vergangenheit hat, von ihr herkommt, der sich noch in der Gegenwart noch in seinem Übergang in die Zukunft als dieser Mann bekennen muß. Wurde er jetzt gefunden und weiß er darum, dann muß er sich doch als den ohne dieses Gefundensein Verlorenen erkennen. Widerfährt ihm jetzt Gnade und weiß er darum, dann muß er doch begreifen, daß er sie nicht verdient, sondern verwirkt hatte und ohne sie nur immer wieder verwirken könnte. Ist er jetzt das Werk einer neuen göttlichen Schöpfung und weiß er darum, dann kann er sich doch nicht verhehlen, daß er der Nichtigkeit verfallen war und ohne dieses Werk nur wieder und wieder verfallen müßte. Gilt ihm Gottes Freispruch und hört er Gottes Wort, im welchem dieser ergeht, dann wird er doch einsehen, daß er in Ewigkeit gefangen wäre und jeden Augenblick wieder zum Gefangenen werden müßte, wenn er nicht als Hörer dieses Freispruchs jeden Augenblick Gottes Freigesprochener werden und sein dürfte. Es ist ja eben Gottes Freispruch, an ihn gerichtet, für ihn gültig und kräftig, aber in ihm nicht begründet, in ihm vielmehr völlig unbegründet, von ihm nur gehört, empfangen, angenommen, Gottes Geschenk und Gabe. Indem er an ihn ergeht, findet er sich auf den Weg gesetzt, hat er seine Vergangenheit als Ungerechter hinter sich, seine Zukunft als Gerechter vor sich. Was aber wäre er auch nur einen Augenblick ohne ihn? Was ist er noch jetzt, sofern er eben der ist, an den er souverän ergeht, der da von Gott in Verwirklichung seines göttlichen Rechtes, aber eben darum in freier Gnade
-- 642 --
gemeint, angeredet, mächtig auf den Weg gesetzt ist? Er, dem Gott laut dieses Freispruchs so unbegreiflich, so unwidersprechlich und unwiderstehlich gut ist? Er, der jetzt Gott dafür danken darf und nicht genug dafür danken kann, daß er sich ihm so, in diesem Urteil zuwenden wollte? Er, dem jetzt dieser terminus a quo geschenkt ist, den er doch selber weder schaffen noch sich verschaffen konnte? Wo, im Aufbruch von woher, befindet er sich in diesem terminus a quo und also am Anfang jenes Weges? Als wen und als was hat er sich, von Gott daselbst gesucht und gefunden, Gott darzubieten, zur Verfügung zu stellen: als welches Material zu irgend etwas, was Gott mit ihm anfangen und aus ihm machen könnte? Doch nicht etwa als den, der er ja, indem er diesen Weg antritt, erst werden soll! Doch nicht etwa als den Gerechten, der er am Ziel dieses Weges sein wird! Doch nur als den, der ein solcher noch nicht, der vielmehr noch ein Ungerechter ist! Doch wirklich nur als den, der nun, sich selbst ein Wunder, dorthin aufbrechen und gehen, im Ergreifen der Verheißung dieses Zieles leben darf! Und also doch wirklich nur als den, der – an jenem Ziel noch nicht angekommen – noch der alte, der sündige, der hochmütige Mensch ist und als solcher sich anzuklagen und zu beklagen, der in ernstlichster Buße als solchen sich zu bekennen, Gott gegen sich selbst Recht zu geben allen Grund hat, der vorläufig ganz allein im Ergreifen der Verheißung jenes Zieles, seines Rechtes und also seines berechtigten Lebens leben kann. Daß er als solcher, daß er von da aus nach jenem Ziel unterwegs sein, Gottes Verheißung ergreifen, sich an sie halten und, indem er das tut, vorläufig leben darf, das ist das Anheben seiner Rechtfertigung.
Es gibt keine Gegenwart, in der des Menschen Rechtfertigung nicht auch noch diese anhebende Rechtfertigung wäre und, wo sie erkannt wird, nicht auch noch als solche erkannt werden müßte. Es gibt also keinen von Gott gerechtfertigten Menschen, der sich nicht auch noch als vor ihm Ungerechten, als jenen hochmütigen Rebellen erkennen und bekennen, der Gott nicht jederzeit gegen sich selbst Recht, sich selbst ihm gegenüber also nichtjederzeit Unrecht geben müßte. Wollte er das nicht sein, so müßte das heißen, daß er auch nicht freigesprochen, nicht gerechtfertigt sein wollte. Wollte er sich als solchen verleugnen, so würde das heißen, daß er die Verheißung verleugnet, wohl noch gar nicht kennt, in dem Aufbruch des freigesprochenen Menschen wohl noch gar nicht begriffen ist. Wo dieser Aufbruch stattfindet, wo also des Menschen Rechtfertigung Ereignis ist, da ist sie die Rechtfertigung jenes Ungerechten, da wird der, dem sie widerfährt, sich nicht weigern dazu zu stehen, daß er auch noch dieser ist, daß er sich gerade als solcher im Aufbruch befindet und nur als solcher im Auf bruch befinden kann. Er ist es also als Einer, der mitten aus einer bösen Vergangenheit heraus – kein Guter also, sondern ein Böser – in seine gute Zukunft schreiten darf: daraufhin zu schreiten wagt, daß nicht
-- 643 --
er sich selbst, sondern Gott ihn dazu freigesprochen, autorisiert und ermächtigt hat. Er wird, indem er das wagt, der Wahrheit der Situation entsprechend, Gott die ganze, sich selber aber gar keine Ehre zuschreiben: sich selbst vielmehr nur die entsprechende Unehre, Unwürdigkeit, Unfähigkeit, ja Unwilligkeit. Auch nicht in irgend eine Willigkeit, sondern gerade in des Menschen Unwilligkeit mitten hinein stößt ja der göttliche Freispruch. Er wird sich selbst, indem erjenen Aufbruch vollzieht, wirklich nur ein Wunder, ein Rätsel sein. Er wird in sich selber keinen Grund dazu finden. Er wird nicht der Meinung sein, dazu auch nur den geringsten Beitrag geleistet zu haben. Er wird vielmehr frank und frei bekennen, daß sein Beitrag zu dieser Sache ganz und gar nur seine eigene große Verkehrtheit ist, in dererohne sein Zutun und Verdienst durch Gottes Freispruch – vollzogen nicht in seinem Selbstgericht, sondern im Gerichte Gottes – gefunden, erreicht, zu Gott hin umgekehrt, auf den Weg in sein Recht und Leben versetzt wurde. Der von Gott Freigesprochene und also Gerechte ist als solcher immer auch noch dieser Mensch – gewiß: auch schon ein ganz anderer, aber indem er schon dieser ganz Andere ist, immer auch noch Dieser, schon vorwärts schreitend, auch immer noch der von dorther Kommende. Und sagen wir es ausdrücklich: er ist immer auch noch ganz, total, vom Kopf bis zum Fuß Dieser, so gewiß er in derselben Gegenwart des göttlichen Freispruchs auch schon ganz, total, vom Kopf bis zum Fuß, Jener, der schon zum Ziel seiner Gerechtigkeit Schreitende, ja, dort schon Angekommene, dort schon der als Gerechter Lebende ist. Es geht also hier wie dort nicht um ein Quantum – vielleicht wie die Flüssigkeit in zwei kommunizierenden Röhren hier abnehmend, dort zunehmend – sondern es geht hier wie dort um seine eine und ganze menschliche Existenz. Er selbst, wie er ist, er nach Seele und Leib, er in seiner Person mit allen seinen Gedanken, Worten und Werken ist als von Gott Freigesprochener schon am Ziel, aber auch noch am Anfang, schon der vor ihm Gerechte, aber auch noch der Sünder: er selber immer schon zu ganzer, rückhaltloser, unbedingter Gewißheit, Getrostheit und Freude, aber auch immer noch zu ganzer, rückhaltloser, unbedingter Demütigung und Buße aufgerufen, angewiesen aufs Ernstlichste zu beten: Vergib uns unsere Schulden! Gott sei mir Sünder gnädig! Wie sollte es anders sein, da doch seine Rechtfertigung jener Übergang – der von Gott gerechtfertigte Mensch der Mensch jener Geschichte, da doch des Menschen Freispruch des lebendigen Gottes lebendiges Wort an den lebendigen Menschen ist, da doch die durch ihn geschaffene Tatsache eben der in die Umkehr zu ihm versetzte und in dieser Umkehr begriffene Mensch ist?
Wir vergegenwärtigen uns als Dokumente dessen, was hier als das «Anheben» der Rechtfertigung – N. B. in seinem «Zugleich» mit ihrer Vollendung – bezeichnet wurde, von den sieben sog. «Bußpsalmen» des alttestamentlichen Psalters die beiden, die sich als solche relativ am deutlichsten charakterisieren: Ps. 32 und Ps. 51.

-- 644 --
Psalm 32 zuerst: Daß er auf das Geschehen der Rechtfertigung in seiner Einheit und Ganzheit blickt, zeigen sein Anfang, seine Mitte und sein Schluß: «Wohl dem, dessen Übertretung vergeben und dessen Sünde bedeckt ist! Wohl dem Manne, dem der Herr die Schuld nicht anrechnet und in dessen Herzen kein Falsch ist!» (v 1-2). So der Anfang – und der Schluß geradezu triumphal: «Der Gottlose hat viel Plage, wer aber auf den Herrn vertraut, den umgibt er mit Güte. Freut euch des Herrn und frohlockt, ihr Gerechten, und jauchzet Alle, die ihr aufrichtigen Herzens seid!» (v 10-11). Die Mitte aber lautet so: «Darum soll zu dir beten jeder Fromme zur Zeit der Drangsal; wenn große Wasser einherfluten – ihn werden sie nicht erreichen. Du bist mir Schirm, bewahrst vor Not mich, umgibst mich mit Rettung» (v 6-7). In diesen drei Bestandteilen des Psalms redet offenkundig der Mensch, der die Bundestreue des Gottes Israels erkannt hat und in ihr die Treue seines Gottes und so dessen rechtfertigendes Urteil und so sich selbst als durch dieses Urteil Freigesprochenen, der also aller Bedrohung zum Trotz in der Lage ist, Gott als seinen Helfer anzurufen und in solcher Anrufung schlechthin getrost, mutig, ja freudig zu leben und eben von dieser Freude Zeugnis abzulegen. Man bemerke: im Rahmen solcher Darstellung der Rechtfertigung in ihrer Vollendung ist der Psalm ein «Bußpsalm». Ist das wirklich nur der Rahmen und nicht selbst das Bild, auf das es der Psalm abgesehen hat: die Substanz seiner Aussage? Steht es nicht auf des Messers Spitze, ob er nicht doch besser ein Dankpsalm zu nennen wäre?
Aber nun ist da (v 2) von dem «Herzen ohne Falsch» des Mannes und (v 11) von den «aufrichtigen Herzen» derer die Rede, die auf dieser Linie gewiß sein und bekennen dürfen und müssen. An solchem Dransein ihrer Herzen – in der alttestamentlichen Sprache: ihrer selbst im Zentrum und von da aus auch in der Peripherie ihrer Existenz – hängt offenbar Alles: daß ihnen ihre Übertretung eine vergebene, ihre Sünde bedeckt und also unsichtbar, ihre Schuld ihnen nicht angerechnet und also wirklich Vergangenheit ist (v 1-2), daß sie Gott anrufen und, indem sie das tun, ihrer Bewahrung in aller Drangsal und Not schlechthin gewiß sein dürfen (v 6, 7, 10), daß sie sich geradezu freuen, frohlokken, jauchzen dürfen und müssen (v 11). Es braucht ein Herz ohne Falsch, aufrichtige Herzen dazu, wenn das Alles – und also die Rechtfertigung in ihrer Vollendung – nicht eitel Anmaßung und Einbildung sein soll.
Was ist das für ein Herz? Man blickt, um zu sehen, was gemeint ist, am besten zunächst auf die zwischen die Mitte und den Schluß des Psalms merkwürdig hineingeschobene Lehrrede, die die Stimme Gottes wiedergibt, auf die der Psalmist im entscheidenden Punkt gehört zu haben und offenbar fernerhin hören zu wollen angibt: «Ich will dich unterweisen und dir zeigen den Weg, den du wandeln sollst, will mein Auge auf dich richten. Sei nicht wie das Roß und das Maultier, die keinen Verstand haben – mit Zaum und Zügel muß man bändigen ihr Ungestüm, sonst nahen sie nicht zu dir» (v 8-9)! Der Psalmist hat sich von Gott sagen lassen, daß er war wie ein Roß und Maultier, daß sein Herz ein ungestümes Herz war, daß er sich dahin, wohin er gehen und kommen sollte, nicht führen ließ.
Worin bestand diese Widersetzlichkeit, in der er von Gottes Freispruch erreicht, aus der er durch diesen herausgeholt ist? Sie bestand nach v 3 entscheidend darin, daß er «es», nämlich seine Übertretung, Sünde und Schuld, verschweigen, offenbar nicht wahrhaben, Gott und den Menschen und sich selbst nicht eingestehen, in selbstgewissem Ungestüm darüber hinwegleben wollte. Merkwürdig: in diesem Verschweigen erkennt der gerechtfertigte und als Gerechter vor Gott getrost und freudig lebende Sünder das eigentlich Sündige seiner Vergangenheit. Und eben dieses Verschweigen als den Todeskeim seiner Existenz in dieser Vergangenheit! In diesem Verschweigen, indem er nicht sein wollte, der er war: der Übertreter, der Sünder, der Schuldige, tat er sich nämlich nicht, wie er es wohl meinte und beabsichtigte, wohl, sondern weh, machte er sich sich selbst unerträglich. Eben darin widerstand er ja und widerstand ihm – Gott. Eben darin konnte er ja an Gott nur scheitern. «Da ich's verschwieg, zerfiel mein Gebein ob
-- 645 --
meines unablässigen Stöhnens; denn Tag und Nacht lag deine Hand schwer auf mir; vertrocknet war mein Lebenssaft wie durch Gluten des Sommers» (v 3-4). – Alles offenbar, ohne gewahr zu sein, daß er eben daran litt, daran zu verderben im Begriff war: an dieser Falschheit, dieser Unaufrichtigkeit seines Herzens, an diesem seinem Konflikt mit Gott.
Eben in dieser Finsternis fand er nun eben (v 8) Gottes Auge, das Auge des Herrn auf sich gerichtet, wie es nach Luk. 22, 61 dem Petrus im Hof des Hohepriesters widerfahren ist, wurde ihm der Weg gezeigt, den er wandeln sollte (v 8), wurde er mit Zaum und Zügel gebändigt (v 9). Eben in dieser Finsternis fand statt das Anheben seiner Rechtfertigung. Was bedeutete es für ihn, worin bestand es? «Da bekannte ich dir meine Sünde, und meine Schuld verbarg ich nicht. Ich sprach: Bekennen will ich dem Herrn meine Übertretung» (v 5a). Gerade das eigentlich Sündige seiner Vergangenheit, das Verschweigen seiner Sünde, fällt, der Unterweisung, dem Zeigen des Herrn (v 8) entsprechend, weg. Das Roß oder Maultier findet sich gebändigt, hat Verstand bekommen, sein Ungestüm ist gebrochen. Der Mensch kann und wird sich nun dahin führen lassen, wohin er gehen und kommen soll. Denn damit – indem ihm das widerfuhr, daß er sich nicht mehr verbergen konnte, sondern bekennen mußte – fand er zwar keineswegs: «Es ist mir schon vergeben!» (G. Keller), da konnte, durfte und mußte er aber feststellen: «Du aber vergabst mir die Schuld meiner Sünde» (v 5). Du aber! Er war, indem ihm jene Bändigung widerfuhr, derzufolge er sich als Sünder bekennen mußte, dem Gott begegnet, der seinem Unrecht gegenüber sein Recht aufrichtete und also mit seiner Vergangenheit Schluß machte, und so dem ihn rechtfertigenden, ihn freisprechenden Gott. Er war der Mensch jener Geschichte geworden, der – noch als bloßer Bekenner seiner Sünde, noch indem er Gott bloß gegen sich Recht gab – schon in jener freudigen Gewißheit nach seinem eigenen Recht greifend, jenes Loblied – «Wohl dem Mann!» – auf das ihm und mitten in jene verzehrende Sommerglut hinein geschenkte Leben anstimmen, d. h. aber der Vollendung seiner Rechtfertigung schnurstracks entgegeneilen durfte: in einem Herzen ohne Falsch, in einem aufrichtigen Herzen.
Dazu Psalm 51: Er ist darin leichter zu verstehen als Ps. 32, daß er keinen der in den Psalmen so oft verwirrend auftretenden Wechsel des Anredenden und des Angeredeten aufweist, sondern einheitlich in der Ich-Du-Form als Gebet verläuft. Und in ihm herrscht nun das Bußgebet (in zwei verschiedenen Wendungen: Bitte um Sündenvergebung und Sündenbekenntnis) ganz unzweideutig vor, und an diese schließt sich wiederum die vorwärtsblickende Bitte um Erneuerung sachlich sehr natürlich an. Nur daß – und das macht Ps. 51 äußerlich viel unübersichtlicher als Ps. 32 – von diesen drei Komplexen nur das Sündenbekenntnis (v 5-7) in einem geschlossenen Zusammenhang zur Sprache kommt, während sich die beiden anderen unter sich, und dann noch mit einem vierten überkreuzen: dem wichtigsten von allen (v 8 und 18-19), in welchem gewissermaßen das Prinzip des Anhebens der Rechtfertigung in der Buße zur Sprache kommt. Die Verse 20-21 endlich dürften der Zusatz eines Späteren sein, der sich offenbar mit dem v 18-19 über das Opfer Gesagten nicht zufrieden zu geben vermochte.
Daß der Psalm nicht etwa, wie man es nach unserer Logik postulieren möchte, mit dem Sündenbekenntnis, sondern mit der Bitte um Sündenvergebung beginnt, ist wichtig und lehrreich. «Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Güte, nach deinem großen Erbarmen tilge meine Verfehlung! Wasche mich rein von meiner Schuld, reinige mich von meiner Sünde!» (v 3-4). Dazu gehören dann v 9: «Entsündige mich mit Ysop, daß ich rein werde! Wasche mich, daß ich weißer werde als Schnee!» und v 11: «Verbirg dein Angesicht vor meiner Sünde und tilge alle meine Missetaten!» Viererlei Wissen spricht aus diesen Worten: der so redet, weiß (1), daß es in seinem Leben ein Unerträgliches gibt: seine Verfehlung, Schuld, Sünde, Unreinheit, seine Missetaten. Er weiß (2), daß dieses Unerträgliche, soll ihm geholfen sein, nicht nur gemildert und abgeschwächt sein,
-- 646 --
sondern ganz und gar weg muß: getilgt, rein, abgewaschen, aus dem Angesichte Gottes verschwunden, daß er selbst «entsündigt» werden muß. Er weiß (3), daß diese totale Beseitigung des Unerträglichen nicht sein, sondern nur Gottes Werk sein kann: ein göttliches Vertilgen, Reinigen, Abwaschen – nicht daß der Mensch seine Sünde vor ihm, sondern daß Gott sein Angesicht vor seiner Sünde verberge und eben damit radikal mit ihr aufräume. Er weiß endlich (4), daß er sich eben mit der Bitte darum, daß er das tue, an Gott wenden darf, weil bei ihm Gnade und großes Erbarmen ist. Das Letzte ist das Entscheidende: er weiß, daß er Gott eben darum bitten darf, die Freiheit dazu hat. Und eben von ihr macht er Gebrauch, er tut, was er in ihr tun darf. Der Israelit braucht bloß des Bundes und seines Herrn ernstlich zu gedenken, so weiß er auch um diese Freiheit. Und dieser Israelit gedenkt offenbar des Bundes und seines Herrn. So weiß er auch um dessen Gnade und großes Erbarmen und also darum, daß er ihm als der Sünder, der er ist, mit der Bitte um die Beseitigung seiner Sünde nahen darf. Woher weiß er dann wohl auch um all das Andere: um die Unerträglichkeit seiner Sünde, um die Notwendigkeit ihrer radikalen Beseitigung, um Gott als um den, der diese allein vollziehen kann? Woher sonst als eben von daher: indem er um diese Freiheit, dieses Dürfen weiß! Natürlich nicht in einem bloß theoretischen, toten, sondern in einem lebendigen, weil praktizierten Wissen: im Gebrauch dieser Freiheit, indem er tut, was er in ihr tun darf! In diesem Tun erkennt er Gott und sich selber und was ihm not tut. Was ist das aber Anderes als die Erkenntnis seiner gewiß noch nicht vollendeten, aber in voller Realität schon anhebenden Rechtfertigung? Wie könnte und würde er das Alles wissen, wenn er nicht schon – als Anfänger, eben in aller Realität schon der Mensch dieser Geschichte wäre?
Und nun ist das Sündenbekenntnis offenbar nicht so etwas wie eine Vorbedingung dieser Geschichte und insbesondere der sie eröffnenden Bitte um Vergebung, zu der dieser Israelit die Freiheit hat. Im Gegenteil: indem er diese Bitte wagen darf und tatsächlich wagt, hat er auch die Freiheit, sich selbst als Sünder und zu seiner Sünde zu bekennen: «Denn ich selber kenne mein Vergehen, und meine Sünde steht mir immerdar vor Augen. An dir allein habe ich gesündigt, habe getan, was dir mißfällt. Du mußt recht behalten in deinem Spruch, mußt rein dastehen in deinem Richten. Siehe, in Schuld bin ich geboren und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen» (v 5-7). Das heißt offenbar: jener Bitte um Vergebung entspricht ganz genau die Situation des sie Erbittenden: er ist der Mensch, der gesündigt, und zwar an eben dem Gott, an den er sich jetzt mit seiner Bitte wenden darf, gesündigt, der getan hat, was ihm mißfällt, dem gegenüber Gott schlechterdings im Recht, und der seinerseits Gott gegenüber schlechterdings, nicht nur in irgendwelchen besonderen Gedanken, Worten und Werken, sondern, wie es in diesen allerdings zum Vorschein kommt, in der Wurzel seiner Existenz (von seinem Herzen wird nachher die Rede sein) im Unrecht und also schuldig ist. Und umgekehrt: seiner Situation entspricht genaujene Bitte um Vergebung: sie wird nicht bloß beiläufig an Gott gerichtet, sie spricht nicht nur irgend ein Anliegen des Menschen aus, sie könnte also nicht auch unterbleiben. Denn der Mensch selbst, der ganze Mensch, wie er leibt und lebt, spricht sich in ihr aus: so, dieser ist er, der gerade mit Gott und vor Gott so dran ist, der sich an ihm vergangen hat, der ihm nur mißfallen kann, der vor ihm ganz im Unrecht ist, nicht nur oberflächlich, sondern in der Tiefe, nicht nur teilweise, sondern in der Einheit seiner Existenz. Was ist das Sündenbekenntnis Anderes als die Entdeckung der wahren Situation – des Menschen nicht nur, sondern im Verhältnis zwischen Gott und Mensch: dem Gott der Gnade und des großen Erbarmens, dem er sich mit seiner Bitte nahen darf und naht, gegenüber er selbst, dem vor dem Angesichte Gottes wirklich nur diese Bitte übrigbleibt und über die Lippen kommen kann: «Sei mir Sünder gnädig!» Was aber ist diese Situation Anderes als wieder die der gewiß noch nicht vollendeten, aber in aller Realität schon anhebenden Rechtfertigung?
Was dem betenden Psalmisten als Gegenstand – aber offenbar nicht nur als Gegenstand, sondern als Voraussetzung seines Bittens – vor Augen steht, ist, wie die Fortsetzung klar
-- 647 --
zeigt, seine Rechtfertigung als jene von ihrem Anheben unaufhaltsam der Vollendung entgegeneilende Geschichte, jener Übergang in seiner so unbegreiflichen aber schlechthin unaufhaltsamen Ganzheit. Wie könnte er sonst nach jenem Sündenbekenntnis und in aller Zuversicht gerade von ihm her – eine scheinbar höchste und letzte Bitte nun gleich an die Spitze stellend – fortfahren: «Sättige mich mit Freude und Wonne, daß die Gebeine frohlocken, die du zermalmt hast!» (v 10). Freude, Wonne, Frohlocken? Ist es schon so weit, gleich danach zu verlangen? Kein von jener Tiefe aus erst anzutretender und mühsam zu vollziehender gradus ad Parnassum? Kein zwischen die Abkehr von sich selbst und die Umkehr zu Gott erst einzuschaltender Heiligungsprozeß? Nein: «die er rechtfertigte, die machte er auch herrlich» ( Röm. 8, 30). Wer um die Vergebung seiner Sünde bittet und eben damit seine Sünde bekennt und eben damit in das Licht der Situation zwischen Gott und Mensch tritt, wie sie in Wahrheit ist, der darf und soll als solcher und also sofort (indem er noch Anfänger ist!) seine Sättigung mit Freude und Wonne erwarten und also eben darum bitten: um sein neues Recht vor Gott und um seine neue Möglichkeit, vor ihm zu leben. Wie schriee er wirklich aus seiner Tiefe nach der Gnade und dem großen Erbarmen Gottes, wenn er nicht eben damit nach diesem Höchsten sich ausstreckte? Sich ausstreckte! Eben darum geht es, wenn es nun heißt: «Schaffe mir, o Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir! Gib mir wieder die Wonne deiner Hilfe und stütze mich durch einen willigen Geist!» (v 12-14). «Errette mich vor blutigem Anschlag, o Herr, du Gott meines Heils!» (v 16a). Man bemerke: statt aller zwischenhineintretenden, vorbereitenden, das Weitere erst ermöglichenden Operationen: sofort die neue Schöpfung eines reinen Herzens, d. h. aber des schon von sich selbst und seiner Sünde ab- und Gott zugekehrten Menschen selbst – sofort die Gabe eines neuen, gewissen Geistes! des Geistes, in welchem der Mensch nicht mehr zurück-, nur noch vorwärtsblicken kann, des willigen Geistes, durch den der Mensch in dieser Ausrichtung nach vorne gestützt und gehalten, in und mit dem ihm die Wonne der Hilfe Gottes verschafft ist, immer wieder verschafft sein wird – sofort auch des Menschen Errettung vor dem Tode, sofort auch Leben und Heil – kurz, sofort die Schöpfung und Gabe einer dem Angesichte Gottes unverborgenen, vor ihm bestehenden, weil vor ihm gerechten und also seiner Hut anbefohlenen menschlichen Existenz – vor demselben Angesicht Gottes, vor dem umgekehrt des Menschen Sünde (v 11) verborgen, dahin sein und bleiben möchtet Was sonst als diese Verheißung hat der Mensch schon ergriffen, indem er die Freiheit hat und von der Freiheit Gebrauch macht, um Vergebung seiner Sünde zu bitten? Wie könnte er es als der, der das tut, unterlassen, nach der Erfüllung dieser Verheißung auszugreifen? Und also zu bitten um die Dauer, den Fortgang, den Vollzug jenes Überganges: daß «der Heilige Geist», der ihm dort jene Freiheit gegeben, nicht von ihm genommen werde, sondern sein Werk weiter an ihm tue, daß seine dort anhebende Rechtfertigung durch ihn – sie kann ja in ihrer Ganzheit nur Gottes Werk sein – auch vollendet werde!
Wie kühn und gewiß dieses Ausgreifen nach vorne ist, zeigen die Verse 15 und 16b-17. Eben indem sie über das uns hier beschäftigende Problem hinausgreifen, veranschaulichen sie umso mehr, in welcher Weite es in diesem Psalm gesehen ist: «So will ich die Übertreter deine Wege lehren, daß sich zu dir bekehren die Sünder . . . So wird meine Zunge deine Treue preisen! Herr, tue meine Lippen auf, daß mein Mund dein Lob verkünde!» Man halte das Sündenbekenntnis von v 5-7 daneben! Nun erwartet derselbe Mann auch das und schon das, daß er nicht nur für seine Person jener Vollendung teilhaftig, sondern in ihrem Vollzug zum Instrument des Lobes Gottes, zum Zeugen, Lehrer, ja Propheten seines Rechtes den Anderen, seinen Mitsündern gegenüber werden möchte? In der Tat: derselbe Mann! Die Vollendung seiner Rechtfertigung kann und wird nicht seine Privatangelegenheit sein, sondern als solche seine Einsetzung zum Dienste Gottes unter den Menschen. Sie wird in seiner Berufung zu ihrem Ziele kommen. Tatsächlich in der Berufung desselben Mannes: gerade er und nur er, der von dorther kommt,
-- 648 --
nur der, der um die Vergebung – und das in der Erkenntnis – seiner Sünde bittet, wird dazu, zu Gottes Zeugendienst, zur Prophetie, der rechte Mann sein. Er aber wird es sein.
Es bleiben uns noch die Verse 8 und 18-19, in welchen wir es gewissermaßen mit dem Schlüssel des Ganzen zu tun haben: «Siehe, an Wahrheit im Innersten hast du Gefallen, tue mir im Verborgenen Weisheit kund!» (v 8). Die «Wahrheit im Innersten», an der Gott Gefallen hat, ist offenbar das, was wir die wahre Situation zwischen Gott und Mensch nannten, wie sie dann eben in des Menschen Bitte um Vergebung und darum im Bekenntnis seiner Sünde an den Tag kommt. Indem der Mensch in sie versetzt wird, sie realisiert, tut Gott ihm Weisheit kund, gibt er ihm Bescheid über sich selbst als den Gott und über ihn, als den Menschen jener Geschichte, ihres Anhebens und ihrer Vollendung. Der Psalmist betet um diesen Bescheid Gottes. Er betet darum, daß ihm diese Weisheit offenbar werde. Er würde nicht darum beten, wenn sie nicht schon im Begriff wäre, ihm offenbar zu werden. Die Verse 18-19 – die einzigen im Psalm, die nicht die Form einer direkten Bitte haben – sagen in der Sache dasselbe: «Denn Schlachtopfer begehrst du nicht, und gäbe ich Brandopfer, es gefiele dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist, ein zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten.» Was verachtet er nicht? Was gefällt ihm? Was begehrt er? Was schafft und wirkt er aber auch? Schlicht dies, daß die Lage zwischen ihm und dem Menschen klar werde: daß der Mensch sich ihm stelle als der, der er ist und mit ihm umgehe als mit dem, der er, Gott, ist. Das bedeutet aber: den zerbrochenen Geist, das zerschlagene Herz des Menschen, dem nichts übrigbleibt, als ihn um Vergebung zu bitten und seine Sünde zu bekennen. Den Stolzen, der das nicht tun will, verachtet er. Diesen verachtet er nicht nur nicht, dieser gefällt ihm, diesen begehrt er, ihn erhöht und verherrlicht er. Ihn nimmt er an, ihm gibt er seine Verheißung, mit ihm ist er schon unterwegs ihrer Erfüllung entgegen und ihm wird er sie auch halten. Ihn kann und wird er zu seinem Dienst brauchen. Er opfert ihm das Opfer, auf das ja alle anderen Opfer nur hinweisen können und ohne das sie alle nichtig sind: das von ihm geforderte, das ihm wohlgefällige Opfer: sich selbst, damit er, Gott, an ihm und mit ihm zur Ausführung bringe, was sein Ratschluß über ihn ist.
Viel stärker als in diesen und den anderen «Bußpsalmen» und viel stärker als im ganzen Alten Testament ist das Anheben der Rechtfertigung als solches – sein Anheben mitten in des Menschen Sünde nämlich – in einem neutestamentlichen Text dokumentiert: in dem immer wieder denkwürdigen und immer wieder sehr schwer zu interpretierenden Kapitel Röm. 7. Darum viel stärker, weil man als Leser des Römerbriefes so gar nicht darauf gefaßt ist, nach Allem, was Kap. 3-6 vorangegangen war, in Kap. 7 noch einmal und in solcher Heftigkeit in diese Ausgangssituation des von Gott gerechtfertigten Menschen zurückgeworfen zu werden: sich erinnern lassen zu müssen an den Charakter der Rechtfertigung als creatio ex opposito. Auch darum viel stärker, weil man auf das Erstaunliche, ja gänzlich Unwahrscheinliche der Tatsache, daß hier, mitten in des Menschen Sünde, ein Anheben seiner Rechtfertigung stattfinden soll, in diesem Text mit seiner so komplexen und minutiösen Darstellung dessen, was die Sünde für den Menschen bedeutet, doch noch sehr viel dringlicher hingewiesen wird. Und schließlich auch darum viel stärker, weil diese Darstellung so unheimlich geschlossen ist, fast an eine Gefängniszelle erinnernd, in die nur eben durch ein kleines, vergittertes und dem Insassen unerreichbares Fenster etwas Licht zu fallen scheint. Ausgangssituation? Wo ist hier der Ausgang? Wie sollen wir uns hier schon in jenem Übergang befinden? Davon kann jedenfalls keine Rede sein, daß uns das Geheimnis der Sache in diesem neutestamentlichen Text leichter gemacht würde: der doch, anders als jene alttestamentlichen, in unmittelbarer Erkenntnis des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus geschrieben ist! Im Gegenteil: wie groß das Geheimnis schon in jenen Psalmen ist, kann doch wohl erst, wenn man von hier aus rückwärts blickt, ganz sichtbar werden.

-- 649 --
Daß wir uns im Bereich des Problems und der Verkündigung der Rechtfertigung befinden, darf freilich, wenn man Röm. 7 verstehen will, keinen Augenblick übersehen werden. Das Kapitel unterbricht den großen Zusammenhang von Röm. 3-8 durchaus nicht, sondern gerade es mit seiner scheinbar rückläufigen Bewegung führt ihn seiner Klimax entgegen. Der Mann, den man Röm. 8 – übrigens immer noch schwer genug seufzend, immer noch im Bewußtsein kühnsten Wagnisses und höchster Gefährdung – ins Licht hinübergehen sieht, ist derselbe, der Röm. 7, noch ganz von Dunkel umgeben, eben erst von ferne in jene Richtung blickt. Und auch dieser ist mit dem ihn umgebenden, mehr noch: ihn selbst erfüllenden Dunkel nicht um seiner selbst, sondern um des Lobpreises des von ferne doch auch schon ihn grüßenden Lichtes willen beschäftigt. Und so gibt es tatsächlich kaum eine so gewaltige Darstellung der Rechtfertigung als Übergang wie die Wende von Röm. 7, 24-25 mit jenem Aufschrei: «Ich elender Mensch, wer wird mich herausreißen aus dem Leibe dieses Todes?», gefolgt von dem auch erst wie ein Aufschrei gewagten: «Dank sei Gott durch unseren Herrn Jesus Christus!», nach welchem dann doch noch einmal der Riegel vorgeschoben, Röm. 7 knapp und unerbittlich – definitiv möchte man meinen – zusammengefaßt wird: «So diene ich nun in meiner Erkenntnis dem Gesetz Gottes, in meinem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde» – unmittelbar und unvermittelt darauf aber Röm. 8, 1-2: «So gibt es nun keine Verdammung derer, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens hat dich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes.» Der das ohne Übermut und Selbsttäuschung wissen und in solcher Bestimmtheit sagen darf und muß, ist derselbe, der in gleicher Strenge das Vorangehende vor Augen hat, weiß und sagt, der von dorther kommt, um dahin zu gehen. Er allein hat offenbar die Kompetenz dazu. Er aber hat sie. Der von Gott gerechtfertigte Mensch redet so von seiner Sünde, wie es Röm. 7 geschieht. Keiner sonst könnte es, täte es in dieser Unerbittlichkeit. Und nun darf man ja auch nicht übersehen, daß bereits der Anfang von Röm. 7 (v 1-6, immerhin ein starkes Drittel des Kapitels!) in aller Form eben jene Freiheitsbotschaft ausrichtet. Das Gleichnis von der durch den Tod ihres Mannes rechtmäßig frei – für ihre Verbindung mit einem anderen unproblematisch frei gemachten Frau wird ja da entfaltet und ausgelegt: Dieser ihr, nein unser Mann ist getötet: wir selbst, in den Leidenschaften unserer Sünden nämlich, unser Sein im Fleisch, dessen Frucht nur der Tod sein konnte (v 5). Es ist vorbei mit ihm. Wie ist das geschehen? Wir hören: διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ, kraft unseres Seins in der Einheit unserer Existenz mit der Jesu Christi. Eben in ihr, in seiner Tötung ist (wie Röm. 6, 6. 8. 11 gezeigt) unsere Tötung vollzogen, unser Sein im Fleische erledigt. Sind wir aber dem, worin wir festgehalten waren (ἐν ὧ κατειχόμεθα, v 6), nämlich eben unserem Sein im Fleisch gestorben – dann gestorben auch dem uns, solange wir als dieser Mann lebten, solange wir im Fleische waren, beherrschenden, bindenden, verpflichtenden Gesetz (v 3), also befreit auch von ihm (v 6), also frei für einen anderen Mann, d. h. frei, Gott statt dem Tode Frucht zu bringen (v 4), frei für den Dienst in der ganz neuen Möglichkeit nicht des Buchstabens, sondern des Geistes (v 6). Das ist der Anfang von Röm. 7, den man über der Fortsetzung ja nicht vergessen darf. Wir sind zweifellos mitten im Zug einer Beschreibung der Rechtfertigung. Von dem Neuen, was jener in Jesus Christus geschehenen Beseitigung des Alten notwendig und unmittelbar folgen muß, war ja schon Röm. 6 – dort allerdings unter dem Gesichtspunkt der im Gehorsam zu realisierenden Heiligung – durchgehend, dringlich und ausführlich die Rede gewesen. Der Anfang von Röm. 7 hat begründet, daß und warum mit diesem Neuen als mit einer von Gott geschaffenen Möglichkeit zu rechnen ist. Röm. 8 wird sie als Wirklichkeit auf den Plan führen. Man würde vermeintlich nichts zu vermissen haben, wenn Paulus nach Röm. 7, 6 unmittelbar mit Röm. 8, 1 weitergefahren hätte.
Er wußte wohl, was er wollte, wenn er das nicht getan hat. Er hatte Röm. 6, 14 – mitten in jener Einschärfung der Notwendigkeit eines neuen Lebens im Gehorsam – den kühnen Satz: «Die Sünde wird nicht über euch herrschen» mit dem noch kühneren begründet: «Denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade» Und nun hat
-- 650 --
er Röm. 7, 1-6 explizit eben die mit der Befreiung von seinem Fleische vollzogene Befreiung des Menschen auch von dem den Menschen in und mit seinem Sein im Fleisch beherrschenden, bindenden, verpflichtenden Gesetz verkündigt. Das durfte – sollte die folgende Beschreibung der damit geschaffenen Freiheit zu echtem Klingen kommen – nicht, als wäre es eine leichthin gesagte und billig anzunehmende Wahrheit, stehenbleiben.
Einmal, weil es für Paulus ein Gesetz gibt, dessen Bestand und Gültigkeit anzufechten er nie gedacht hat. Das Gesetz ist nicht wider die Verheißungen ( Gal. 3, 21). «Heben wir nun das Gesetz auf durch den Glauben? Nimmermehr, sondern wir richten das Gesetz auf» ( Röm. 3, 31). Eben um die durch das Gesetz und die Propheten bezeugte Gerechtigkeit geht es ja in der Botschaft von der im Glauben an Jesus Christus zu ergreifenden δικαιοσύνη θεοῦ ( Röm. 3, 21). Eben die Forderung des Gesetzes (sein δικαίωμα ) soll ja in denen, die nach dem Geist und nicht nach dem Fleisch wandeln, zur Erfüllung kommen ( Röm. 8, 4). Die Liebe, im besonderen die Nächstenliebe, ist nach Gal. 5, 14, Röm. 13, 8. 10 diese Erfüllung des Gesetzes. Im Unterschied zu den des Gesetzes sich rühmenden, es faktisch brechenden Juden ist den im Glauben zum Volke Gottes berufenen Heiden gerade das Werk des Gesetzes ins Herz geschrieben, so daß sie zu dessen Tätern werden und als solche sich als gerechtfertigt herausstellen werden ( Röm. 2, 13-15). Paulus hat ( 1. Kor. 9, 21) sich selbst, den Ruhm oder Tadel, er sei ein ἄνομος durchaus zurückweisend, einen ἔννομος Χριστοῦ genannt, hat Gal. 6, 2 ausdrücklich von einem «Gesetz Christi» und in unserem Zusammenhang Röm. 8, 2 von dem «Gesetz des Geistes des Lebens» und merkwürdigerweise von ihm als dem Subjekt der Befreiung des Menschen geredet. Von einer Befreiung von diesem Gesetz, von einer Abrogation dieses Gesetzes kann bei ihm keine Rede sein. Dieses Gesetz ist ja geradezu der ἕτερος ἀνήρ, für den der Mensch nach Röm. 7, 3 durch den Tod jenes ersten Mannes frei geworden ist. Mit der Sünde (v 7) und mit dem Tode (v 13) hat es nichts zu tun – wir in unserem Verhältnis zu ihm allerdings sehr viel, es aber, dieses Gesetz selbst, gar nichts! Es ist nach v 22 und 25 das Gesetz Gottes. Es zielt nach v 10 auf des Menschen Leben. Es ist nach v 12 «heilig», sein Gebot «heilig, gerecht und gut». Es ist nach v 14 «geistlich». Als geistlicher Mensch kann Paulus nur bekennen: es ist καλός (v 16). «Nach dem inneren Menschen» kann er ihm nur zustimmen (v 22). In seinem von ihm erleuchteten νοῦς, recht erkennend, was ihm offenbar ist, kann er ihm nur dienen (v 23 u. 25). Das Alles darf über dem Satz, daß wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind, und über der Feststellung, daß wir dem Gesetz getötet, von ihm befreit sind, nicht vergessen werden. Das Gesetz Gottes bleibt von dieser Feststellung unberührt. Im Gegenteil: gerade diese Feststellung ist der positivste Hinweis auf die Erfüllung des Gesetzes Gottes. Röm. 7, 2 f. ist jedenfalls auch eine Sicherung nach dieser Seite. Ohne sie angebracht zu haben, möchte er nicht weitergehen.
Aber etwas Anderes liegt ihm in der scheinbaren Abschweifung Röm. 7, 7-25 offenbar noch mehr am Herzen: gerade der Übergang von der Übertretung zur Erfüllung dieses Gesetzes versteht sich durchaus nicht von selbst. Paulus hat das schon in jenem Gleichnis am Anfang des Kapitels angedeutet: die Befreiung jener Frau zur Verbindung mit einem Anderen könnte, solange ihr erster Mann noch lebt, nur Ehebruch und also nur eine illegitime und unwahre Befreiung sein (v 3). Das Problem der Verse 7-25 ist die Frage: wie es denn mit dem Tod jenes ersten Mannes und also mit der Legitimität und Wahrheit unserer Befreiung tatsächlich steht? Wohin haben wir zu blicken, um so mit ihr rechnen zu dürfen, wie es v 1-6 und dann wieder Röm. 8, 1 f. geschieht? Und wir können die Röm. 7, 2 f negativ formulierte Antwort gleich vorwegnehmen. Paulus erklärt mit dürren Worten, daß er, auf sich selbst blickend, sich über sich selbst Rechenschaft ablegend, jenen ersten Mann immer noch auch als Lebenden kennt: sein (v 5 nach dem Tenor des ganzen Kapitels 6) ausdrücklich in die Vergangenheit versetztes «Sein im Fleische» immer noch auch als Gegenwart. Man beachte dazu, wie gerade in den entscheidenden Aussagen v 14-25 durchweg im Präsens geredet wird. Man braucht die Erinnerung an
-- 651 --
das, was Paulus vor seiner Bekehrung zum Christen und Berufung zum Apostel war, von diesen Aussagen nicht auszuschließen; man kann sie aber unmöglich auf diese Erinnerung an seine frühere Lebenszeit beschränken. Gerade als Christ und Apostel sieht und beurteilt Paulus das Ganze seines Lebens so, wie es in diesen Aussagen zum Ausdruck kommt. So ernst versteht er des Menschen Rechtfertigung als Gottes neue und verborgene Wundertat, daß er sie in seinem eigenen Leben nicht nur so, da, mitten im Leben jenes ersten Mannes, mitten in seinem eigenen Sein und Fleisch damals, in jener früheren Zeit anheben sah – daß er sie vielmehr immer aufs neue eben so, eben da anheben sieht. Die Ausgangssituation mitten in der Sünde ist jeden Morgen und jeden Abend auch seine Situation. Und nur indem er das anerkennt, indem er sich auch als Christ und Apostel in aller Form zu dieser Ausgangssituation bekennt, will er es dann wagen, von sich selbst wegblickend, den Sprung nach vorne zu tun: «So gibt es denn keine Verdammung derer, die in Christus Jesus sind» ( Röm. 8, 1). Von da aus kann, darf und muß dieser Sprung gewagt werden: in dieser realistischen und gerade so echt pneumatischen Selbsterkenntnis! Er kann und darf aber nur von da aus gewagt werden. Die Verse 7-25 haben also in der Tat eine retardierende Funktion. Sie machen das Woher deutlich, von dem aus der Weg dorthin führt. Sie sichern damit das Geheimnis der Rechtfertigung als Übergang vom Unrecht zum Recht, vom Tod zum Leben. Sie hindern uns, uns diesen Übergang anders denn als ein Geschehen und dieses Geschehen anders denn als eine Wundertat Gottes vorzustellen und seine Erkenntnis anders denn als Gotteserkenntnis und darum anders denn als Glaubenserkenntnis im strengsten Sinn des Begriffes vollziehen zu wollen.
Und nun ist das Instrument, das Paulus in dieser Absicht verwendet, noch einmal der Begriff des Gesetzes: aber nun in einem Sinn und Gebrauch, in welchem der Begriff jenem ersten, dem des Gesetzes Gottes, gerade entgegengesetzt ist. Er redet v 23 ausdrücklich von einem ἕτερος νόμος und nennt ihn im selben Vers (und dann auch v 25) den νόμος τῆς ἁμαρτίας, Röm. 8, 2 noch umfassender: den νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου. Er ist offenbar der νόμος τοῦ ἀνδρός (v 3) – das die Frau bindende Gesetz des Mannes, ohne dessen Tod die Frau nur im Ehebruch und also nur illegitim und unwahr für einen Anderen frei werden könnte. Er ist der νόμος , von dem wir unter Voraussetzung des Todes dieses Mannes, der Erledigung unseres eigenen Seins im Fleische, befreit sind (v 4 u. 6). Διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ ist jener erste Mann, ist unser Sein im Fleische gestorben und erledigt, ist also auch unsere Befreiung von jenem Gesetz vollzogen. Aber eben: wenn der Christ und Apostel Paulus auf sich selbst blickt, sich über sich selbst Rechenschaft ablegt, dann findet er sich immer noch und immer wieder auch als im Fleische Seienden (ἐν σαρκί v 25), jenen ersten Mann auch noch als Lebenden, seine eigene Vergangenheit auch noch als seine Gegenwart und also jenen ἕτερος νόμος auch noch in Kraft stehend und gültig. Er ist, er hat seinen Sitz, und Paulus ist seiner gewahr ἐν τοῖς μέλεσίν μου (so zweimal v 23), offenbar: in seiner ganzen physisch-psychischen Existenz, sofern ihm diese als seine eigene einsichtig, anschaulich und begreiflich ist. Er gilt dort im Gegensatz zu dem νόμος τοῦ θεοῦ, dem er als Christ und Apostel «nach dem inneren Menschen» ja auch zustimmt (v 22): aber eben nur auch, nur in der Erkenntnis seines νοῦς (v 23 und 25), in der gerade er selbst sich nicht einsichtig ist. Soweit er sich selbst einsichtig ist, muß er bekennen: ihn regiert ein anderes, nun eben dieses Gesetz, das Gesetz der Sünde und des Todes! Man darf den Gebrauch dieses Begriffes zur Bezeichnung dieser Sache, desselben Begriffes, der doch ursprünglich die heilige, gerechte und gute Ordnung und Willensäußerung Gottes bezeichnet – wohl verwegen nennen. Er ist aber sehr einleuchtend für das, was Paulus sagen will. Er will ja die Sünde als Ausgangssituation der Rechtfertigung groß machen: dazu nämlich, um die Rechtfertigung als solche erst recht groß, noch viel größer zu machen. Er will also die Sünde sich selbst und den Christen in Rom als die Bestimmung der menschlichen Existenz darstellen, von der er und sie gerade nur durch die Rechtfertigung als das Geschehen von Gottes Wundertat, von ihr abgesehen aber nicht befreit sind. Er will den Glauben an die Rechtfertigung dazu aufrufen, ganz
-- 652 --
und gar nur Glaube zu sein: kein heimliches Selbstverständnis und also auch kein heimliches Verfügen des Menschen über sich selber. Darum redet er wie von einem Gesetz Gottes, so auch von einem Gesetz der Sünde, als deren Täter auch er, der Christ und Apostel, gerade er, sich jeden Morgen und Abend neu vorfinden und bekennen muß. Natürlich ist dieses Gesetz der Sünde nur ein bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Reflex, nur eine schlechte Karikatur, nur der Affe des Gesetzes Gottes. Natürlich ist es diesem nur eben darin vergleichbar, daß auch es ein Gesetz ist. Es ist das Gesetz der Anomalie – aber eben der Anomalie in der ihr, ist der Mensch ihr einmal verfallen, eigentümlichen Geschlossenheit und Konsequenz, Autorität, Befehls- und Verfügungsgewalt, der der sündige Mensch nicht, der nur Gott selber gewachsen, überlegen ist. Die Sünde ist kein Zufälliges, das der Mensch, der sich auf sie eingelassen, auch wieder abwischen könnte wie den Staub von seinen Kleidern. Indem sie sich gegen Gott richtet, hat sie insofern etwas von der Art Gottes, als auch sie und mit ihr auch das Leben des Menschen, der sich auf sie einläßt, eine negative Folgerichtigkeit und Notwendigkeit bekommt, der weder sie selbst noch der sie begehende Mensch sich entziehen kann. Sie existiert, und es existiert der sündige Mensch mit und unter und kraft eines bösen – man darf hier wohl sagen: dämonischen Eigenrechtes des Unrechts: kraft dessen aus Sünde nur wieder Sünde hervorgehen, der sündige Mensch sich nur im Kreis herum bewegen kann. In der Rechtfertigung geht es um das Zerbrechen dieses Eigenrechts des Unrechts: um des Menschen Befreiung von ihm und also aus diesem circulus vitiosus. Daß er doch ja nicht denke, diese Befreiung selbst vollziehen zu können: auch nicht in Form einer dankbaren Begrüßung und Gutheißung der Alles gutmachenden Gnade Gottes, wie sie ihm ja in den Sinn kommen und allenfalls auch vollziehbar sein möchte. Er existiert unter dem Gesetz der Sünde. Und sein Übergang von der Sünde zur Gerechtigkeit setzt voraus, daß dieses Gesetz zerbrochen, daß der Mensch von ihm befreit ist. Eben diese Befreiung wird er aber in sich selbst, ein seinen Gliedern» nie realisiert finden. In sich selbst, «in seinen Gliedern», wird er vielmehr immer wieder auf dieses Gesetz stoßen, auf seine Kraft und Gültigkeit und also auf sich selbst als den, der die Sünde nicht läßt, sondern tut, und das Gute nicht tut, sondern läßt. Wo und wie wird er jene Befreiung dann aber als ihm geschehen – und also sich selbst als von diesem Gesetz Befreiten – frei zur Erfüllung des Gesetzes Gottes erkennen?
Sicher nicht – die Antwort könnte ja nahe liegen – im Gesetze Gottes, sofern er dieses kennt und sofern es sich in seinem ihm selbst einsichtigen Leben auswirkt, sofern er sich selbst als sein Kenner und sofern ihm diese seine Auswirkungen auf sein Leben einsichtig sind. Wohl kennt, respektiert und schätzt er dieses Gesetz. Wie sollte Paulus als Christ und Apostel etwas Anderes von sich sagen können? Er müßte sich selbst als solcher verleugnen, wenn er es anders sagen würde. Mehr noch: er kann und muß (v 25) aufrichtig bekennen, daß er ihm in der Erkenntnis seines νοῦς sogar dient und also mindestens gehorsam sein will. Warum sollte er auch das in Abrede stellen? Er wäre vielmehr wohl in der Lage, sich wenigstens diese Erkenntnis und diesen auf sie begründeten guten Willen als Positivum anzurechnen. Sollte er nicht in diesem Element seiner Selbsterkenntnis – des anderen ungeachtet, in welchem er sich dem Gesetz der Sünde wie alle Menschen unterworfen findet – seine Befreiung entdecken: sich selbst mindestens in dieser Erkenntnis und Absicht, sein transzendentales Ich jenseits der Kraft jenes anderen Gesetzes und also als von ihm Befreiten? So ungefähr hat sich I. Kant des Menschen Rechtfertigung vorgestellt. Aber eben diese Lösung hat Paulus sich selbst und seinen Lesern abgeschnitten. Was ihn im besonderen nach Röm. 7, 7-13 bewegt hat, war ja gerade die ganz andere Entdeckung des wahrhaft Schrecklichen: der sündige Mensch muß gerade in seiner Erkenntnis des Gesetzes Gottes und gerade in seinem Versuch, ihm zu dienen, die Erfahrung machen, daß er als Sünder nicht die Freiheit hat, zu sündigen oder nicht zu sündigen, daß er vielmehr nur sündigen und wieder sündigen wird, daß er als Sünder unter dem Gesetz der Sünde steht, ihm unweigerlich unterworfen ist und faktisch gehorcht. Das ist die ihm einsichtige Auswirkung gerade des Gesetzes Gottes in seinem Leben! «Ich
-- 653 --
lernte die Sünde (nämlich die Sünde als Verirrung nicht nur, sondern als mich beherrschende Verwirrung) nicht kennen, bevor ich sie durch das Gesetz (Gottes) kennen lernte» (v 7 a). Ich selbst von mir aus hätte mich gewiß nicht als unverbesserlich, als zwangsläufig sündigend entdeckt: im Lichte des Gesetzes Gottes aber muß ich mich als das entdecken. Wieso? «Ich wüßte nicht um die Begierde, wenn nicht das Gesetz (Gottes) mir gesagt hätte: Du sollst nicht begehren! Indem die Sünde das zum Anlaß nahm, bewirkte sie durch das Gebot jegliche Begierde in mir» (v 7b-8a). Weil und indem das Gebot mich zur Demut rief, kam heraus, wer ich bin, wie ich es im Gegensatz zu Gott meine, mußte auf der ganzen Linie zum Vorschein kommen, was in mir ist: der Hochmut, in welchem ich selbst Gott und Herr sein, mir selbst helfen, mich selbst rechtfertigen will. Als Hörer des Gebotes erwache ich als Mensch der Sünde. Das ist die Autorität, die Macht des Gesetzes der Sünde, so will es dieses Gesetz: daß dieses böse Erwachen des Sünders, dieses Aufgehen der Blüte, diese Reife der Frucht seiner Sünde gerade und erst – dann aber sicher! – in seiner Konfrontierung mit dem Gesetz Gottes, im Lichte seiner Offenbarung stattfindet.
So gibt es so etwas wie eine zuvor schlafende Sünde? Zweifellos ist das die Meinung des Paulus. Nur daß er es noch viel stärker sagt: «Ohne das Gesetz (Gottes) war die Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne Gesetz» (v 8b-9a) und also wohl als Sünder, aber eben «tot in den Übertretungen und Sünden», wie es Eph. 2, 1 von den einst als Heiden lebenden Christen gesagt wird. Röm. 4, 15 dasselbe: «Wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung». Und Röm. 5, 13, erhellend für den Sinn unserer Stelle: «Die Sünde war schon vor dem Gesetz in der Welt; es wird aber die Sünde nicht angerechnet, wo das Gesetz nicht ist»: sie lebt da nicht; sie wird da nicht als solche offenkundig. Wird sie auch da begangen, so doch in Unwissenheit um ihren Charakter als Sünde. Hat sie auch da ihre furchtbaren Folgen, so doch ohne sichtbaren Zusammenhang mit ihr. Herrscht sie auch da, so doch ohne sich in konkreter Gestalt im Sein und Tun des Menschen abzuzeichnen. Aus dieser anonymen Existenz tritt die Sünde aber da heraus, wo der Mensch dem sich offenbarenden Gott und damit seinem Gesetz begegnet. Röm. 5, 20 wird dieser Vorgang beschrieben mit den Worten: «Das Gesetz ist zwischenhinein gekommen, damit die Sünde (wie das Wasser in einem über Feuer gestellten Topf) zum Sprudeln komme»: πλεονάσῃ . Röm. 7, 9b-10 ist im Anschluß an das v 8 Gesagte noch prägnanter von einer förmlichen Auferstehung der Sünde die Rede: «Als das Gebot kam, lebte die Sünde auf» – mit furchtbarer Folge für den Menschen: «Ich aber starb, und es erfand sich, daß das mir zum Leben gegebene Gebot mir zum Tode wurde.» Als Sünde des Gottes Gebot vernehmenden Menschen bekommt sie Gesicht, Charakter, Gestalt, triumphiert und jubiliert sie – ein wahres Osterfest, an dessen Feier der Gottes Gebot vernehmende Mensch als ihr Täter nur sterben und vergehen kann!
Was Paulus in diesen Versen vor Augen stand, kann (wie Röm. 5, 13-14 u. 20) nichts Anderes sein als die Erfahrung Israels in ihrem Unterschied zu der aller anderen Völker. Im Unterschied zu diesen ist es ja das Volk der Erwählung, der Berufung, des Bundes und also des ihm offenbaren gnädigen Willens und Gebotes Gottes, das mit seinem Gesetz konfrontierte Volk. Kein Zweifel: es kennt dieses Gesetz; es verwirft es auch keineswegs grundsätzlich; es weiß genau, daß seine Existenz an seinem Bunde mit Gott und so an dessen Gesetz hängt. So kommt es auch immer wieder auf dieses zurück. So läßt es sich auch immer wieder dazu aufrufen, ihm dienen zu wollen, wie Paulus es v 25 von sich selber sagt. So hat und pflegt es darin seinen Ruhm: das Volk des göttlichen Gesetzes zu sein. Nicht trotzdem, sondern gerade darum geschieht es in seiner und nur in seiner Geschichte, daß gerade es sich als das darstellt – offenbar darstellen muß – was freilich (in jener Anonymität) alle anderen Menschenvölker auch sind, als was nun aber doch nur es zum Vorschein kommt: ein Volk von begehrlichen, hochmütigen Übertretern, gerade als Partner Gottes in dem mit ihm geschlossenen Bund ihm offenkundig und drastisch widersprechend und widerstehend, gerade im Licht seiner besonderen Zuwendung zu ihm ein Volk, das im Finstern wandert wie so kein anderes und eben darum auch
-- 654 --
unter Gottes schwerer Hand leidet wie so kein anderes. Sünder sind alle Menschen ( Röm. 5, 12), aber interessante Sünder (mit allen Folgen dieser Interessantheit) sind doch nur die, denen Gottes Wille und Gesetz offenbar, verkündigt und bekannt ist.
Liegt es in der Natur dieses Gesetzes, daß das so sein muß? Das würde dann wohl bedeuten, daß eben diese interessanten Sünder auch die in Wahrheit entschuldigten wären. Es könnte den Menschen, von denen Paulus hier redet, bei denen er an seine israelitischen Brüder, aber auch an die Christen in Rom, die, ob sie aus den Juden oder aus den Heiden sind, dem Gesetz Gottes ebenso wie er selbst konfrontiert sind, aber offenbar eben zuerst an sich selber denkt – es könnte diesen Menschen so passen! Wie, wenn sie die Verantwortung für das schreckliche Zusammentreffen zwischen ihrer Bekanntschaft mit Gottes Gebot und ihrer, der lebendigen, der triumphierenden und jubilierenden, der unzweideutig als solche sich kennzeichnenden Sünde auf Gott selbst zurückschieben, Gott selbst dafür verantwortlich machen und dann sich selbst eben als – interessante Sünder genießen könnten? Gerade dagegen legt Paulus in diesen Versen ernsteste Verwahrung ein: Gottes Gebot hat mit der Sünde nichts zu tun (v 7), es ist heilig (v 12); es hat auch mit dem den Sünder treffenden Verderben und Tod nichts zu tun (v 13a); es ist an sich geradezu das ἀγαθόν (v 16). Es gibt also keinen Charakter, kein Amt, keine Funktion des Gesetzes Gottes, in denen es den Menschen zu jenem qualifizierten Sünder machte und ihn als solchen dem Tod überlieferte. Nein, die Sünde ergreift den Anlaß (ἀφορμὴν λαβοῦσα, v 8 u. 11) der Begegnung des Menschen mit Gottes Gebot, um ihn, dieses mißbrauchend, zu jenem qualifizierten Sünder zu machen. Sie betrügt den Menschen, indem sie das tut (v 11), indem sie ihn gerade im Angesichte Gottes mit erhobener Hand gegen ihn sündigen läßt. Sie, die Sünde, offenbart sich darin als das, was sie ist, daß sie ihn ausgerechnet διὰ τοῦ ἀγαθοῦ, διὰ τῆς ἐντολῆς dem Tod überliefert. Sie erzeigt sich gerade darin, in solcher Perversion, als καθ' ὑπερβολὴν ἁμαρτωλός . Aber gerade dieses «Anlaßnehmens», dieses Mißbrauchs, dieses Betrugs, dieser Perversion und so dieser Selbstoffenbarung ihrer finsteren Herrlichkeit ist sie fähig. In dem allem wirkt sich eben ihr Gesetz aus: die Konsequenz ihrer Gegensätzlichkeit zu Gott und seinem Willen. Nur wo dieser offenbar wird, kann auch sie offenbar werden. Aber wo dieser offenbar wird – die Sonne bringt es an den Tag – da wird auch sie offenbar, und zwar offenbar als die nicht Gott, wohl aber dem Menschen überlegene Macht, als der Herr, dem er sich, indem er sie beging, verkauft hat (v 14), als sein Gesetzgeber und Befehlshaber, dem er als sündiger Mensch sich nicht entziehen kann, dem unterworfen er gerade an Gottes Gnade schuldig wird, gerade, wo er das Leben ergreifen dürfte, in den Tod rennt. Blickt er, gerade mit von Gottes Gesetz erleuchtetem Auge und νοῦς auf sich selbst, dann ist das der Stand der Dinge, dessen er gewahr wird: er stößt dann auf das Gesetz der Sünde als auf das Gesetz, dem er gehorcht, auf diesen Affen Gottes, dem er tatsächlich zu Gefallen lebt; er stößt dann in allen seinen Regungen, Gedanken, Worten und Werken auf die Auswirkungen seiner Gebundenheit an dieses Gesetz. Nicht der heidnische, nicht der säkulare, nicht der gottlose Mensch lebt in dieser Selbsterkenntnis, muß sie immer wieder vollziehen, wohl aber gerade der erwählte und berufene Mensch: als Interpret der Erfahrung Israels Paulus, der Christ und Apostel! Es kann also nichts damit sein, daß ein Mensch im Blick auf sein vielleicht (wie im Fall des Paulus) sehr reales Verhältnis zu Gott und seinem Gesetz seine Freiheit vom Gesetz der Sünde entdecken und darin sich für gerechtfertigt halten könnte. Im Gegenteil: gerade im Blick auf dieses Verhältnis und auf sich selbst, wie er in diesem Verhältnis existiert, wird er seine Gebundenheit an jenes ganz andere Gesetz erkennen müssen – und also sich selbst durchaus nicht für gerechtfertigt halten können.
Die Verse 14-25 – wir kommen zur entscheidenden Stelle des Kapitels – beschreiben, wie der Mensch als der dem Gesetz der Sünde Unterworfene, gerade dem Gesetze Gottes gegenüber dran ist. V 14 sagt zunächst in Kürze das Ganze, wie es dann v 25b in etwas anderen Worten noch einmal zusammengefaßt werden wird: «Wir wissen, daß das Gesetz (Gottes) geistlich ist.» Als das «Gesetz des Geistes» wird es ja nachher auch Röm. 8, 2 bezeichnet werden. Will sagen: Es hat als solches wohl die Autorität und Macht,
-- 655 --
das Gesetz der Sünde und des Todes zu überwinden und zu zerbrechen, den Menschen von dessen erschlichener Autorität und Macht im Nu und gänzlich zu befreien. Es geht ihn als solches wohl mit dieser Verheißung an. Aber deren Erfüllung ist die Vollendung seiner Rechtfertigung, nicht ihr Anheben, von dem Paulus jetzt reden will. Ihre Ausgangssituation ist dadurch bestimmt, daß eben der Erkenntnis, daß das Gesetz geistlich ist, das Bekenntnis entsprechen muß: «Ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde»: ich, so wie ich mich in meinem Gegenüber zu Gottes Gesetz vorfinde und kenne, ich, den seine Verheißung zwar angeht, aber eben doch erst angeht – ich bin nicht geistlich, sondern σαρκινός , fleischlicher Art, will sagen (das ist die Definition des Begriffes «fleischlich»): der Sünde gegenüber nicht frei, sondern unfrei, so unfrei wie ein verkaufter Sklave. Sie ist mein Eigentümer und Herr. – In zwei kleinen Gängen: v 15-17 und v 18-20 wird das aufgezeigt.
V 15-17 anhebend mit der Feststellung, daß ich mich in dem, was ich ausrichte, in meinem eigenen faktischen Vollbringen (κατεργάζεσθαι ), im Einzelnen und im Ganzen meines Lebenswerkes nicht wiedererkennen kann: gerade von dorther nicht, von wo aus ich mich, mein Vollbringen, durch Gottes Gesetz erleuchtet, verstehen, wiedererkennen, mit mir einig sein sollte und möchte! Ich kann das darum nicht, weil ich feststellen muß: ich tue ja das nicht, was ich will, ich tueja, was ich hasse» (v 15). Ich widerspreche also mit meinem Nichttun meinem Wollen, mit meinem Tun meinem Nichtwollen. Ich widerspreche also in meinen Vollbringungen, in dem, was bei meinem Tun und Nichttun herauskommt, gerade mir selbst! Gewiß (v 16), auch in diesem Widerspruch, sofern darin immerhin mein Wollen und also mein Selbst meinem Tun entgegensteht, stimme ich mit dem Gesetz Gottes überein, heiße ich es gut. Aber (v 17) was hilft mir dieser Widerspruch und also diese Übereinstimmung, da mein Tun und Nichttun, mein Vollbringen also, nicht daran teilnimmt? In dem Ereignis meines Vollbringens bin offenbar – zu meiner Schande muß ich mir das gestehen – gar nicht ich selbst am Werk, sondern die in mir wohnende, die mir ihr Gesetz vorschreibende Sünde. Wie sollte ich mich da in diesem Ereignis wiedererkennen – oder eben: wie anders denn als das Haus, in welchem die Sünde wohnt und Meister ist?
An dieses Bild knüpfen – nun im umgekehrten Sinn – die Verse 18-20 an: Was nicht in mir, in meinem Fleische nämlich, wohnt, ist leider (v 18) das ἀγαθόν , nach v 22: das Gesetz Gottes. Bin ich, wie v 14 zugegeben, Fleisch, wie sollte ich das Haus für das Gesetz Gottes sein? Und ist dieses, wieder nach v 14 geistlich, wie könnte es da in diesem Hause wohnen? Ich und das ἀγαθόν – wir können uns nur gegenseitig wie Wasser und Feuer ausschließen. Was in mir – das ist nämlich auch im Fleisch möglich! – präsent ist, das ist der gute Wille, das ist aber nicht – denn dazu müßte ich geistlicher und nicht fleischlicher Art sein – das Vollbringen des Guten. Fehlt mir dieses wirklich? Ja (v 19): das Gute, das ich tun will, tue ich ja nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, eben das tue ich. Wirklich ich? Muß ich (v 20) als Täter dessen, was doch ich nicht will, nicht nochmals zu meiner Schande gestehen: ich selbst bin es ja gar nicht, der da am Werk ist. sondern – ich bin leider tatsächlich nicht Herr meines Hauses – die in mir wohnende Sünde. In voller Aktion muß ich mir gestehen, daß gerade ich selbst in dieser Aktion doch nur so etwas wie ein Agent, nicht Subjekt, sondern nur funktionierendes Objekt bin.
Die Verse 21-25, mit denen das Kapitel zum Abschluß kommt, werden gegen Ende hin (v 24-25a) durch ein merkwürdiges kurzes Selbstgespräch des Apostels unterbrochen, das für sich zu würdigen ist. Alles Übrige ist die Konklusion aus dem v 15-17 und v 18-20 Ausgeführten. Von des sündigen Menschen Widerspruch zu sich selbst war in diesen Versen die Rede gewesen: hier sein Wollen bzw. Nichtwollen – dort sein Tun bzw. Nichttun und also sein faktisches Vollbringen, hier dieses, dort jenes Ich. Von wo aus Paulus sich selbst sieht, beschreibt, kann keine Frage sein: er möchte sich mit jenem ersten, dem wollenden bzw. nicht-wollenden Ich identifizieren; und das ist die Schwierigkeit, der Widerspruch, den er in v 15-20 ausgebreitet hat, daß er sich selbst in seinem Tun bzw.
-- 656 --
Nichttun und also in seinem faktischen Vollbringen nicht wiedererkennt, daß er sich selbst als Wollender nicht mit sich selbst als dem Vollbringenden zu identifizieren vermag, daß er sich in dem, was er aus- und anrichtet, ein Fremder ist: nicht ich bin, sondern die in mir wohnende Sünde ist dort am Werk, hat er zweimal (v 17 u. 20) festgestellt. Das dürfte der direkte Beweis dafür sein, daß Paulus in diesem ganzen Kapitel von sich selbst als Christ und Apostel redet und nicht etwa, indem er sich in die Situation eines ungläubigen Juden – seine eigene vor seiner Bekehrung vielleicht – oder auch in die eines ungläubigen Heiden versetzt. Wie käme ein solcher Ungläubiger dazu, sich so, wie hier geschehen, von sich selbst zu distanzieren, sich selbst als sich selbst fremd zu bekennen? Gerade, daß er sich zu sich selbst in Widerspruch befindet, könnte und würde ja kein jüdischer oder auch heidnischer Ungläubiger einsehen und zugeben können und wollen. Er würde sich von dem Christen und Apostel Paulus vielmehr gerade darin unterscheiden, daß er sich als im letzten Grunde trotz Allem mit sich selbst einig und zufrieden erklären würde. Daß das Existieren in diesem Widerspruch – ihm verborgen – auch seine Situation ist, ist eine Sache für sich. Dem Christen und Apostel Paulus aber ist diese menschliche Situation nicht verborgen. Er sieht den Widerspruch. Er muß ihn in jener Distanzierung von sich selbst sogar selber vollziehen. Er weiß, daß er ihn auszutragen, d. h. daß er in ihm zu leben hat. Er weiß aber auch – und das ist es, worauf er v 21 f. zu reden kommt – daß er ihn nicht austragen, in ihm nicht leben kann. Und darin ist er radikal anders dran als der Ungläubige. Irgend einer inneren Unruhe, Spannung, Gegensätzlichkeit kann und mag sich ja auch dieser je und je bewußt werden. Nicht umsonst ist ja seine Situation in Wahrheit keine andere als die des Christen und Apostels Paulus, tritt sie in dem, was dieser von sich selbst weiß, nur in ihrer Wahrheit ans Licht, statt verborgen zu bleiben. Wie sollte sie sich aber nicht auch in der Verborgenheit je und je bemerkbar machen? Nur eben nicht so, daß der Ungläubige sich nicht auch immer wieder in der Lage fände, mit sich selbst wenigstens vermeintlich ins Reine zu kommen, den Konflikt wenigstens vermeintlich austragen und also ihm zum Trotz wenigstens vermeintlich leben zu können. Was er als innere Unruhe kennen mag, das spielt sich immer noch innerhalb seiner Einigkeit und Zufriedenheit mit sich selbst ab, das läßt sich tatsächlich austragen, damit läßt sich tatsächlich leben. Paulus weiß, daß er das nicht kann. Er weiß nämlich, daß der Konflikt, in welchem er sich befindet, den er austragen, in dem er leben müßte, der Konflikt zwischen Gesetz und Gesetz ist: hier das Gesetz Gottes, das er in seinem νοῦς kennt, zu dem er sich auch bekennt, dem er in seinem Wollen und Nichtwollen zu dienen bereit ist, von dem aus er sich selbst sieht und beurteilt – dort aber (gerade von hier aus entdeckt!) das Gesetz der Sünde, dem er sich in seinem Tun und Nichttun, in seinem faktischen Vollbringen gehorsam und unterworfen findet. Dieses Konfliktes Herr werden, würde offenbar heißen: dem Gesetze Gottes gehorsam (eben das will er ja sein!), das Gesetz der Sünde durchbrechen, aufheben, als ihn bindendes Gesetz vernichten und also sein Tun und Nichttun, sein Vollbringen mit seinem Wollen und Nichtwollen in Übereinstimmung zu bringen. Eben dazu findet er sich nicht in der Lage.
Er findet vielmehr (v 21) – hinter und in seinem Vollbringen, das seinem dem Gesetz Gottes entsprechenden Wollen und Nichtwollen leider widerspricht, – die Kraft des anderen, ihm überlegenen Gesetzes. Kraft dieses anderen Gesetzes geschieht es, daß ihm, der das Gute nicht nur will, sondern tun will, indem er seinen Willen in die Tat umsetzt, das Böse ebenso präsent ist (παράκειται) wie nach v 18 sein Wollen (leider nur sein Wollen!) des Guten. Er findet (v 22-23), daß seine ganze aufrichtige und ernstliche Zustimmung zum Gesetze Gottes, daß sein bester Wille, ihm gerecht zu werden, die ganze dem entsprechende entschlossene Stellungnahme seines «inneren Menschen» nichts daran ändert, daß «in seinen Gliedern», in seiner ihm einsichtigen physisch-psychischen Existenz dieses andere Gesetz herrscht. Eben dort, wo es zum Vollbringen dessen kommen müßte, was das Gesetz Gottes fordert und was, ihm entsprechend, er selbst will – eben dort liegt jenes ganz andere Gesetz, mit dem von ihm als recht und verpflichtend
-- 657 --
erkannten (dem νόμος τοῦ θεοῦ) in siegreichstem Streit (ἀντιστρατευόμενος ), ja geht es mit ihm selbst schon als mit seinem Gefangenen um (αἰχμαλωτίζων ). Er folgt in seinem Vollbringen nicht dem Gesetz Gottes, sondern diesem anderen Gesetz. Es ist nichts damit, daß er es in seinem Tun und Nichttun, so wie er es wohl wollte, durchbrechen, aufheben, als ihn bindendes Gesetz vernichten würde. Es steht vielmehr so, daß er mit seinem Tun und Nichttun die Gültigkeit und Kraft dieses anderen Gesetzes bestätigt. Die Schuld liegt nicht am Gesetz Gottes. Sie ist seine Schuld: um die faktische Verkehrtheit seines Vollbringens geht es ja. Aber eben zu dieser seiner eigenen Schuld muß er sich bekennen. Kein Blick auf sein besseres Wissen und Wollen kann ihn darüber hinwegtrösten, wie ihn ja auch kein besseres Wissen und Wollen von dieser Schuld tatsächlich befreien kann.
V 25b faßt das, was über seine Gefängniszelle gesagt ist, noch einmal zusammen: Man sieht, daß er aus jener Distanzierung sich selbst gegenüber keinerlei Entschuldigung seiner selbst, keine Beschönigung seiner Situation ableiten will. Nein: «So diene nun ich, derselbe Mann (αὐτὸς ἐγώ) als Erkennender (νοΐ ) und Wollender dem Gesetze Gottes, im Fleische aber dem Gesetz der Sünde.» Das also ist der Sinn jenes v 15-20 aufgedeckten Selbstwiderspruchs, das seine Ausweglosigkeit! «Niemand kann zwei Herren dienen» ( Matth. 6, 24). Der aber hier redet, muß bekennen, faktisch zweien Herren zu dienen. Das ist des Menschen, das ist des Christen und Apostels Paulus Elend. Er müßte sich selbst aufheben, um es abzuschütteln, um ihm zu entrinnen.
Ein seltsamer Aufschrei – oder vielmehr zwei: einer dem anderen antwortend (v 24-25a), haben diese gerade durch ihre nüchterne Sachlichkeit auffallende Darlegung gegen Schluß hin unterbrochen. Hier haben wir es offenbar mit dem kleinen, aber immerhin Licht hereinlassenden Fenster dieser Gefängniszelle zu tun. Und auch hier mit einem direkten Beweis dafür, daß Paulus in diesem Zusammenhang nicht – jedenfalls nicht nur – in Erinnerung an eine frühere Zeit seines Lebens und auch nicht in der angenommenen Rolle eines anderen, jüdischen oder heidnischen, Ungläubigen redet. «Ich elender Mensch, wer wird mich erretten (herausreißen) aus dem Leibe dieses Todes?» Welche Rhetorik mutet man Paulus zu, wenn man annimmt, daß er nur eben in der Erinnerung an damals so geklagt habe? Und wie wäre er aus der angenommenen Rolle eines anderen jüdischen oder heidnischen Ungläubigen herausgefallen mit der Antwort, die er sich selbst – man möchte sagen: schon aus einem weiten Jenseits her – auf diese Klage gibt: «Gott sei Dank durch Jesus Christus unsern Herrn!»? Diese beiden so jähen und so jäh nebeneinandergestellten Worte sind dann, aber auch nur dann sinnvoll, wenn sie miteinander, das eine nach rückwärts, das andere nach vorwärts weisend, den mathematischen Punkt bezeichnen, in welchem des Menschen Rechtfertigung als sein Übergang vom Unrecht zum Recht, vom Tode zum Leben Ereignis ist.
Das zweite (v 25a), das wir vorwegnehmen, ist gerade nur ein Dankwort. Umschrieben müßte es wohl lauten: «Gott sei Dank für das, was von ihm her durch unseren Herrn Jesus Christus, als in ihm gefallene Entscheidung, als durch ihn vollbrachte Tat wirklich, wahr, gültig und kräftig ist!» Für was gedankt wird, wird aber eben nicht ausdrücklich gesagt. Es ist in dem Vorangegangenen von v 7 ab weit und breit nichts sichtbar, wofür jetzt auf einmal zu danken wäre. Doch nicht dafür, daß Paulus die Offenbarung und das Gesetz Gottes kennen, von da aus denken und wollen darf und muß! Wir hörten ja, wie er sich gerade als Kenner und Liebhaber des Gesetzes Gottes in jenen Widerspruch gestürzt, dem Gesetz der Sünde «in seinen Gliedern» ohnmächtig gegenübergestellt findet. Der Weg von hier aus zu dem dankenden Lob gerade des Gesetzes Gottes, wie es etwa in Ps. 119 dokumentiert ist, ist ein notwendiger, aber ein weiter Weg! Es dürfte nicht in Frage kommen, daß Paulus sich hier gewissermaßen an dessen Ende versetzt hätte. Dennoch wird hier in merkwürdigem Kontrast zu der ratlosen Frage: «Wer wird mich erretten?» tatsächlich Dank – und zwar Gott und diesem im Blick auf sein Sein und Tun in Jesus Christus – Dank gesagt! Es wird also jene Frage unbeantwortet
-- 658 --
stehengelassen – wie ja auch die Frage Jesu am Kreuz «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» ( Mr. 15, 34), wie ja auch die ganze Frage Hiobs als solche unbeantwortet stehenblieb. Es wird in kühnster, dem Christen und Apostel Paulus aber offenbar selbstverständlicher Antizipation aus weiter Ferne auf diese Frage und auf Alles, was hinter ihr steht, zurückgeblickt. Sie hat sich erledigt. Und Alles, was hinter ihr steht, hat sich auch erledigt. Was noch galt, gilt nicht mehr. Und was noch nicht galt, das gilt schon! Es besteht auf einmal Anlaß, nur noch zu danken. Und so wird eben nur noch gedankt. Wenn das nicht der Sprung des von Gott Gerechtfertigten nach vorne – wenn das nicht die Bezeugung des von den Toten auferstandenen Jesus Christus ist! Aber eben: nur daß und wem gedankt wird, wird explizit gesagt, nicht aber für was. Oder sollen wir vielleicht gerade daraus, daß jetzt nach allem Vorangegangenen einfach gedankt – und daraus, wem hier auf einmal gedankt wird, auch entnehmen: für was das geschieht? Der kleine Halbvers genügt jedenfalls zu der Feststellung, daß wir uns auch in dem zweiten und dritten Drittel von Röm. 7, den Versen 1-6 und dem weiteren Kontext entsprechend, im Zusammenhang einer Darstellung des Anhebens der Rechtfertigung befunden haben.
Aber wir haben nicht zu vergessen, daß Paulus ja nach diesem strahlenden Halbvers abschließend – man meint wirklich die Gefängnistüre nun erst recht und nun definitiv ins Schloß fallen zu hören – in Wiederholung der Gegenüberstellung von v 14 noch einmal sich bekannt hat als derselbe eine Mann, der zweien Herren dient und also tut, was man nicht tun kann, und also als der «elende Mensch» von v 24. Und wir haben vor allem die ratlose, die unbeantwortete Frage eben dieses elenden Menschen – des elenden Christen und Apostels Paulus – nicht zu vergessen: «Wer wird mich erretten aus dem Leibe dieses Todes?» (Es scheint nicht möglich, anders zu übersetzen, weil τούτου sich nicht wohl auf σώματος , sondern nur auf θανάτου beziehen kann.) Von diesem, von einem ganz besonderen «Todesleib», Todeszusammenhang, Todesreich ist die Rede, und Paulus fragt nach des Menschen Errettung aus dem «Leibe dieses Todes». Er hatte v 4 von einem anderen σῶμα , dem σῶμα τοῦ Χριστοῦ geredet, das insofern auch ein σῶμα τοῦ θανάτου heißen konnte, als es auch in ihm und durch es zu einer Tötung (zu einem θανατοῦσθαι ) des Menschen kommt: zu einer heilvollen Tötung aber, zu des Menschen Befreiung vom Gesetz der Sünde und für sein Leben unter dem Gesetze Gottes durch den Tod jenes «ersten Mannes». Jenem Leib, der Gemeinschaft jenes Todes anzugehören, bedeutet offenbar Errettung, Zukunft, Hoffnung. Nicht so die Zugehörigkeit zu dem Todesleib, der sich v 7-23 als der Zusammenhang, die Gemeinschaft aller Menschen unter dem Gesetz der Sünde herausgestellt hat. Er ist der «Leib» des schlechthin zukunftslosen, hoffnungslosen, heillosen Todes. Er ist der Leib, aus dessen Gefüge und Zusammenhang, aus der Zugehörigkeit zu dem der Mensch, um leben zu können, herausgerissen, errettet werden müßte. Diesen Todescharakter trägt offenbar die ganze, besonders v 14-23 geschilderte Situation – der Selbstwiderspruch, in welchen sich Paulus als Kenner und Liebhaber des Gesetzes Gottes auf der einen, als Sklave des Gesetzes der Sünde auf der anderen Seite verwickelt sieht. Indem dieser Selbstwiderspruch Tatsache und nun doch nicht aufzulösen – nicht aufzulösen und nun doch Tatsache ist, kann er dem Menschen gerade nur zum Verderben, zum Tode gereichen, und zwar eben zu diesem, dem schlechthin heillosen Tode. Schon ist diese Situation – die Zugehörigkeit des Menschen zum «Leibe dieses Todes» – nach v 4 des Menschen Vergangenheit: Dank des «Leibes Christi», in und mit dem er ja als «im Fleische Seiender» schon getötet, vom Gesetz der Sünde schon befreit und also jenem Widerspruch schon entnommen, dem «Leibe dieses Todes» schon entrissen ist. Aber noch ist sie nach v 24 auch seine Gegenwart: sofern das Alles ja nicht in seiner eigenen Person, sondern in der Jesu Christi gültig und kräftig für ihn geschehen ist – für ihn: der doch in seiner eigenen Person, sofern er als Christ und Apostel auch noch dieser Mensch Paulus ist, auch noch im Fleische und also auch noch dem Gesetz der Sünde unterworfen und also auch noch in jenem Widerspruch existiert und also auch noch dem «Leibe dieses Todes» angehört. Aus diesem «auch noch» heraus kann er
-- 659 --
auch als Christ und Apostel nur täglich schreien, wie man ihn in dieser ratlosen Frage schreien hört: «Wer wird mich erretten?»: wie wenn er das v 4 Gesagte noch nie gelesen, wie wenn er das nicht selber geschrieben hätte! Schon ganz von der Antwort, schon ganz in der ihm schon widerfahrenen Errettung lebend, muß er auch noch in und mit dieser Frage leben. Und er könnte jenes nicht tun, wenn er dieses von sich weisen, wenn er nur der Mensch jener Antwort, wenn er nicht ganz und gar auch der «elende Mensch» dieser Frage sein wollte. Er kann nur Beides zugleich sein. Nun nicht in jenem unseligen Widerspruch (in ihm lebt er ja nur auch noch, er ist ja nur seine in seine Gegenwart hineinragende Vergangenheit), nun vielmehr im Übergang, in der Geschichte seiner Rechtfertigung, aber in diesem Übergang, wie er in dem Verhältnis der Worte v 24 und v 25a angezeigt ist, wirklich Beides zugleich. Man lese die Darstellung Röm. 8 genau, um gewahr zu werden, daß das «Auch noch» und also das «Beides zugleich» auch dort nicht verschwunden ist, also auch nicht der «elende Mensch» von Röm. 7: das Anheben der Rechtfertigung mitten in des Menschen Sünde.
Darf es nun nach dieser Seite, zur Linken, im Blick auf den terminus a quo der Rechtfertigung, keinen menschlichen Übermut und Leichtsinn geben, kein Verwischen, Umdeuten, Beschönigen, Verklären der Vergangenheit, aus der der gerechtfertigte Mensch in jeder Gegenwart herkommt, so noch viel weniger nach der anderen, zur Rechten, im Blick auf den terminus ad quem seines Weges eine menschliche Unsicherheit und Halbheit, ein Verkleinern, Abschwächen, Einklammern, Problematisieren des Zieles, dem der gerechtfertigte Mensch in jeder Gegenwart entgegenschreitet. Noch viel weniger! Ist nämlich die Erkenntnis, daß er ein von Gott gerechtfertigter Sünder ist, ernst, so ist die Erkenntnis, daß er ein von Gott gerechtfertigter Sünder ist, doch noch ernster. Einfach darum, weil wir es ja nun doch hier und nicht dort mit dem positiven Willen Gottes, mit Gottes Ja zum Menschen, zu tun haben. Indem es sein Ja zum sündigen Menschen ist, schließt es sein Nein in sich, kann es, ohne dieses Nein zu hören, auch als Ja nicht gehört werden. Darum die notwendige Erinnerung an den Ort, von dem wir herkommen, an das Sein, das von dorther in allem Vorwärtsschreiten immer auch noch das menschliche Sein ist: das Sein des allein von Gottes Gnade lebenden Sünders. Es ist aber auch, indem es dieses Nein in sich schließt, Gottes Ja zum Menschen. Das ist es, was das, was nun zur Rechten zu bedenken ist, doch noch ernster macht als alles, was zur Linken mit dem diesem Bereich angemessenen Ernst nicht genug bedacht werden kann. Hier greift das ein, was über die nicht umzukehrende Richtung des Übergangs, der Geschichte, zu sagen ist, in der des Menschen Rechtfertigung Ereignis wird. Das von Gott her Neue hat als solches den Vorrang gegenüber dem Alten des Menschen. So dessen ihm von Gott zugesprochenes Recht vor seinem eigenen Unrecht! So seine ihm eröffnete Zukunft vor seiner Vergangenheit! So sein Leben vor seinem Tode. So das Ziel, der terminus ad quem seines Weges, vor dessen terminus a quo und Anfang! So das, was er laut Gottes explizitem Freispruch immer schon ist, vor dem, was er laut dessen, was dieser impliziert, immer auch noch ist! So also die
-- 660 --
Vollendung seiner Rechtfertigung vor deren Anheben. Haben wir-unvermischt und ungetrennt! – beide Momente dieses Geschehens – und also mit allem Nachdruck auch das erste zu bedenken und zu betonen, so doch beide nur in dieser Ordnung und Folge, so also, daß uns jene Richtung des Ganzen unverrückt vor Augen steht: so also, daß es bei dem Vorrang des Zweiten, von dem nun zu reden ist, sein Bewenden hat. An dem ist es nicht, daß sich diese beiden Momente zueinander verhielten wie die zwei Balken einer Waage oder Schaukel, die beide je nach einer zufälligen oder willkürlichen Belastung des einen oder des anderen jetzt auf-, jetzt niedersteigen könnten. An dem ist es also nicht, daß der gerechtfertigte Sünder abwechselnd oder auch im Kreis herum jetzt ganz und gar Sünder und jetzt ganz und gar gerechtfertigt wäre, sich selbst abwechselnd oder im Kreis herum jetzt als dies, jetzt als das zu erkennen hätte. Die Dialektik der Rechtfertigung ist keineswegs die eines solchen Hin und Her, Auf und Nieder, sondern eben – und das in jeder Gegenwart – die Dialektik einer Geschichte, in der des Gerechtfertigten Unrecht (in seiner ganzen Realität!) hinter ihm, sein Recht aber vor ihm steht, in der er also nur in der Richtung auf sein Recht seine Zukunft, in seinem Unrecht (in seiner ganzen Realität!) doch nur seine Vergangenheit haben, in der er nur von dort nach hier unterwegs sein kann – eben weil das und nur das dem positiven Willen Gottes entspricht.
Wir fahren nun also fort mit dem Nachsatz, in welchem eben der positive Wille Gottes zu Ehren kommen muß: Die Rechtfertigung ist, nach vorwärts gesehen, der göttliche Freispruch des sündigen Menschen. Sie ist Gottes Urteil, laut dessen der Mensch jene Vergangenheit hinter sich, einer neuen, von jener Vergangenheit nicht belasteten, durch seinen, Gottes, guten Willen mit ihm bestimmten Zukunft zugewendet ist. Wer ist der Mensch? Laut des ihn rechtfertigenden göttlichen Urteils: der Mensch der Geschichte, in der zugleich jene Abwendung und diese Zuwendung Ereignis wird. Wie das eine den Menschen rechtfertigende Urteil Gottes nach rückwärts ganz Absage ist, so nun nach vorne ganz Zusage, Verheißung, promissio. Schon ist also der Mensch – in derselben Gegenwart, in der Gottes rechtfertigendes Urteil ihn angeht und bestätigt als den unter seinem Nein stehenden Sünder, der er war und noch ist – im selben Urteil darüber hinaus angeredet und qualifiziert als der, der er unter seinem Ja sein wird: als Gegenstand der Absage schon Gegenstand seiner Zusage und Verheißung, und laut dieser seiner Zusage und Verheißung: schon eingesetzt in sein Recht, schon befreit zum Leben. Freispruch ist ja das ihn rechtfertigende Urteil, Gottes Freispruch, als solcher gültig und kräftig, als solcher Gottes mächtige Verfügung über ihn, laut derer er noch als der, der er war und noch ist, von dort nach hier auf dem Weg und in Bewegung gesetzt, schon der ist, der er sein wird. Der noch Kranke, zu dem dieser Arzt kommt, ist schon geheilt.
-- 661 --
Das noch verirrte Schaf, von diesem Hirten gesucht, ist schon gefunden. Der noch verlorene Sohn, nach dem dieser Vater ausschaut, ist schon zuhause. Die noch Zöllner und Sünder sind, sind, indem der Heiland sich mit ihnen zu Tische setzt, schon das heilige Volk Gottes. Indem jener Mann im Tempel noch gar nichts Anderes für sich vorzubringen weiß, als daß Gott ihm, dem Sünder, gnädig sein möchte, ist er schon der Gerechtfertigte, als der er von da hinabgehen wird in sein Haus. Des Menschen Rechtfertigung, so, wie sie in Gottes Urteil beschlossen, vollzogen, ausgesprochen ist, ist in dieser Folge und Ordnung zugleich beides: creatio ex contrario, aber creatio! iustificatio impii, aber iustificatio! Gottes Gnade, die dem sündigen, dem von ihm abgefallenen, dem in seinem Hochmut gegen ihn sich auflehnenden Menschen zugewendet ist und widerfährt, ist freie, souveräne, unverdiente, wunderbare, aber gültige und kräftige Gnade. In Gottes Urteil als seiner Zusage und Verheißung ist der alte schon der neue Mensch, der ungetreue schon der getreue Bundespartner, der sich selbst ins Unrecht Setzende schon ins Recht gesetzt, der Tote schon auferweckt und lebend. So Gottes Freispruch als seine Zusage und Verheißung! Und er ist, an den Menschen gerichtet, Gottes energischer Aufruf: als der, der er war und noch ist, darf und soll der Mensch vorwärts blicken und vorwärts gehen: dem entgegen, was er sein wird und was er als der, der dazu befreit ist, schon ist. Von diesem «Schon» haben wir nun zu reden.
Es darf und muß zunächst geradezu als die Probe auf die Echtheit aller Sündenerkenntnis und alles Sündenbekenntnisses bezeichnet werden: ob der Mensch, der sich seiner Verkehrtheit und Übertretung anzuklagen und also seine Verlorenheit zu beklagen willig und bereit ist, in derselben, nein, in noch größerer Willigkeit und Bereitschaft auch dazu in der Lage ist, dem Urteil Gottes auch nach seiner anderen Seite zuzustimmen und recht zu geben und also als der Sünder, als der er sich erkennt und bekennt, als der Mann, der sich verloren geben muß, Gottes Verheißung zu ergreifen und also nicht rückwärts, sondern vorwärts zu blicken und zu gehen. Ob er wohl dazu in der Lage ist? Ob er es wohl annehmen und gelten lassen wird, daß Gott gerade ihm, dem Sünder, gnädig, gerade sein, des Verlorenen, Erretter ist? Ob er sich wohl an das Recht, das Gott ihm zuspricht, halten, ob er wohl das Leben, das Gott ihm gönnt, zu leben sich getrauen wird? Die Frage ist sehr ernst. Laut desselben Urteils Gottes ist er wohl ein Sünder, aber ein gerechtfertigter Sünder, wohl ein Verlorener, aber ein als solcher Geretteter, wohl dem Tode verfallen, aber mitten aus dem Tode zum Leben erweckt. Gottes Urteil über ihn besagt unteilbar dieses Ganze. Gottes Urteil setzt den Menschen unweigerlich in Bewegung aus jener seiner Vergangenheit heraus in diese seine Zukunft. Sollte er nun nicht in der Lage sein, Gottes Verheißung zu ergreifen und also diesen Weg anzutreten, wie steht es dann mit der Echtheit seiner
-- 662 --
Sündenerkenntnis und seines Sündenbekenntnisses, seiner Selbstanklage und Selbstbeklagung? Woher stammt sie dann – und wenn sie noch so tief und gewaltig, vielleicht noch so wild und grimmig wäre, wenn sie die der Psalmisten und des Paulus an Heftigkeit vielleicht weit übertreffen würde? Es könnte ja auch allerhand sehr menschlichen Defaitismus und Pessimismus geben, dessen Aufregungen und Konvulsionen, Selbstanklagen und Selbstbeklagungen mit der Erkenntnis des Urteils Gottes und mit der Beugung unter dieses gar nichts zu tun hätten. Es könnte doch so sein, daß sich der Mensch dem Urteil Gottes vielmehr nur – nun eben so! – entziehen wollte. Es könnte durchaus so sein, daß alle seine Verzweiflungsäußerungen doch nur die Symptome des alten ungebrochenen Hochmuts wären, in welchem er sich nun eben in die letzte, vielleicht sicherste Burg einer gewaltigen Selbstverneinung und Selbstpreisgabe zurückziehen möchte. Hätte der Gott wirklich recht gegeben gegen sich selber, hätte der sich seinem Urteil unterzogen, der dabei stehen bleiben wollte – und dann wohl erklären würde, daß er dabei stehen bleiben müsse – sich als von Gott verneint und verworfen zu erkennen, während er mit Gottes Ja nichts anzufangen wisse, von einer ihm eröffneten Zukunft, von einem ihm zugesprochenen Lebensrecht nichts bemerken könne? Wollte, könnte, müßte sich Einer darauf versteifen, so würde er eben damit beweisen, daß es keineswegs Gottes Nein ist, das zu vernehmen und unter das sich zu beugen er behauptet. Aus den Löchern seines Mantels würde dann gar sehr noch seine Eitelkeit herausschauen. Gottes Nein ist ja eben nicht ohne Gottes ihm folgendes Ja, ist also kein selbständiges Wort, sondern nur ein unentbehrliches Vorwort, nur die Absage, deren Sinn und Ziel seine Zusage ist. Der hätte Gottes Absage nicht gehört, der sich seiner Zusage zu verschließen in der Lage wäre. Von Echtheit seiner Sündenerkenntnis und seines Sündenbekenntnisses würde also, wie ernst es ihm dabei zumute sein möchte, nicht die Rede sein können.
Es fehlt in der modernen Roman-Literatur nicht an Darstellungen, bei denen man wohl den Eindruck haben mag, als ob ihre Verfasser ursprünglich so etwas wie des sündigen Menschen Freispruch durch Gott visiert haben möchten. Nur daß sie dann faktisch doch in einer manchmal ergreifend ehrlichen Ausbreitung seiner Gemeinheit stecken bleiben. Gerade ganz aufrichtig können solche Darstellungen dann doch ebenso wenig werden wie die früherer Zeiten, deren Gemeinheit darin bestand, daß sie dem Menschen, ohne seine Gemeinheit wahrhaben zu wollen, Vortrefflichkeiten andichteten, die unter diesen Umständen keine wirklichen Vortrefflichkeiten, sondern nur Vorspiegelungen solcher sein konnten.
Ernst sind Sündenerkenntnis und Sündenbekenntnis da und nur da, wo es in und mit ihnen zu derjenigen, der allein wirklichen Buße kommt, in der der Mensch alles hochmütige Pochen und also auch das demütighochmütige Pochen auf seine Verkehrtheit und Verlorenheit aufgibt und Gott ganz recht gibt und also dem göttlichen Ja nicht weniger, sondern, weil es in ihm um den positiven Willen Gottes geht, noch mehr
-- 663 --
als dem göttlichen Nein. Wirkliche Buße wird sich als solche darin erweisen, daß der Mensch sich eben mit dem, was er freilich war und noch ist und zu dem er stehen und sich bekennen muß, nicht abfindet, sondern sich entschlossen dem zuwendet, was er sein wird und insofern schon ist. In wirklicher Buße vollzieht ja der Mensch im schlichten Gehorsam eben die Wendung, zu der er in Gottes ihn rechtfertigendem Urteil freigesprochen und also legitimiert und befähigt ist. Er fügt sich dann eben der einen, ganzen, unteilbaren Verfügung Gottes. Er unterläßt dann den ersten Schritt nicht. Er tut dann aber in und mit dem ersten schon den zweiten Schritt: er ergreift dann in und mit seinem Sündenbekenntnis schon Gottes Gnadenverheißung. Gottes Freispruch fordert diesen ganzen Gehorsam. Und wo er vom Menschen vernommen wird, da findet er ihn auch. Im Ungehorsam wäre also der ebenso und in noch schlimmerem Sinn, der sich nicht als gerechtfertigter Sünder erkennen wollte, wie der, der verleugnen wollte, daß er nur als Sünder gerechtfertigt ist.
Des Menschen Rechtfertigung vollendet sich in seiner Zukunft wie sie anhebt in seiner Vergangenheit. Aber wie seine Vergangenheit als Sünder auch noch seine Gegenwart ist, so ist seine Zukunft als Gerechter auch schon seine Gegenwart. Daß er, der auch noch ein Sünder ist, auch schon ein Gerechter ist – daß er in der gleichen Gegenwart, in die er von seiner Vergangenheit her als Sünder jetzt eben eingeht, als ein Gerechter in die Zukunft hinübergeht – das ist die ihm im Gericht und Urteil Gottes zugesprochene Verheißung. Kein Zweifel: sie redet von seiner Zukunft. Dieser Andere, der Gerechte – der er nicht war und auch noch nicht ist wird er sein. Diese Zukunft ist ihm zugesprochen, wie ihm jene Vergangenheit abgesprochen ist. Aber eben die Verheißung, daß er dieser sein wird, ist ihm ja jetzt, hier, heute, mitten in seine Gegenwart hinein zugesprochen. Sie ist keine ungewisse Verheißung von der Art der Hoffnungen, die er sich selbst machen mag oder die ihm durch die Umstände und Verhältnisse, wohl auch durch andere Menschen gemacht sein mögen, sondern die Verheißung, deren Kraft die unwiderrufliche Entscheidung Gottes ist, in der er jetzt schon dieser Andere, dieser Gerechte, ist. Sie ist keine allgemeine Verheißung von der Art der großen Menschheitsideen, von denen zu hören und die auf sich zu beziehen immer noch zweierlei sein könnte, sondern die Verheißung seines Gottes, die in höchster Unmittelbarkeit und Direktheit gerade ihn angeht. Sie ist keine leere Verheißung von der Art der schönen Erwartungen, an denen man sich zwar freuen und aufrichten, mit denen man aber vorläufig praktisch nichts anfangen kann, sondern die Verheißung des ewigen Gottes, die als solche, indem sie gegeben und entgegengenommen wird, sofort auch brauchbar ist, an die man sich sofort halten, mit der zu leben man umgehend beginnen kann. Die Zukunft, die sie dem Menschen zuspricht, ist ja nicht irgendeine Zukunft, sondern das Futurum exactum Gottes.
-- 664 --
Indem der Mensch sie vernimmt, sich nach ihr ausstreckt, sie ergreift als Gottes Verheißung, ist ihm auch ihre Erfüllung nicht mehr nur ferne, sondern in ihrer ganzen Ferne auch schon nahe. Er lebt, denkt, handelt dann schon nicht mehr nur als der, der er war und noch ist, sondern in dem ihm erlaubten Sprung nach vorwärts, sich selbst antizipierend schon als der, der er sein wird, schon als jener Andere, Gerechte, der er doch nicht war und von seiner Vergangenheit her auch noch nicht ist. Er ist dann – im Empfang und in der Gegenwart der Verheißung nämlich, in seinem Verhältnis zu ihr – doch auch schon der, der er sein wird. So vollendet sich des Menschen Rechtfertigung.
Von einer einfachen Gleichheit oder gar Identität zwischen Zukunft und Gegenwart, zwischen der Erfüllung als solcher und ihrer Verheißung, zwischen dem, was der Mensch sein wird, und dem, was er ist, kann natürlich keine Rede sein. Es ist das Sein des gerechtfertigten Sünders auch nach dieser Seite ein unterschiedenes, ein in dieser Unterschiedenheit wie ein Bogen gespanntes Sein. Nur von einer ausschließenden Gegensätzlichkeit kann und darf hier allerdings auch nicht die Rede sein: nicht von einer nur fernen und nicht auch nahen Zukunft und also nicht von einer ihrer Zukunft einfach entbehrenden Gegenwart – nicht von einer nur ausstehenden Erfüllung und also nicht von einer leeren Verheißung, nicht von dem Gerechten, der der Mensch sein wird, als von einem nur Abwesenden und also nicht von einer nach vorne verschlossenen Anwesenheit dessen, der kein Gerechter war und ein solcher auch noch nicht ist.
Und quantitative Begriffe sind es sicher nicht, in denen der hier allerdings wohl zu bedenkende Unterschied richtig zu beschreiben ist: als wäre das dem gerechtfertigten Menschen mit der Verheißung und also in der Gegenwart Zugesprochene nur ein Geringes, das mit der Erfüllung und also in der Zukunft zu Erwartende aber ein Größeres, jenes nur ein Teil, dieses das Ganze. Ist doch das einem Menschen zugesprochene und gewisse Erbe darum nicht kleiner, weil er es noch nicht (oder erst in Form eines Angelds oder Unterpfands) angetreten hat. Steht es ihm doch, auch indem es ihm erst zusteht, schon in seiner Ganzheit zu. Wie das laut des göttlichen Urteils hinter dem Menschen liegende Unrecht sein ganzes Unrecht, der Tod, aus dem er herkommt, sein ganzer Tod ist, so ist auch das nach demselben göttlichen Urteil vor ihm stehende Recht und Leben sein ganzes Recht und sein ganzes Leben. Wie er also von der in seine Gegenwart hineinragenden Vergangenheit her noch ganz im Unrecht und im Tode ist, so nun auch von seiner mit der Verheißung in seine Gegenwart hineinragenden Zukunft her schon ganz im Recht und ganz lebendig. Nur daß er es eben, solange er in der Zeit lebt und auf seine eigene Person gesehen, in der Spannung dieses Zugleich ist: simul peccator et iustus – aber kein halber peccator und so auch kein halber iustus, sondern Beides ganz! Und des Menschen Freispruch, in der Verheißung über ihn
-- 665 --
ausgesprochen, die Wirklichkeit seiner Zukunft schon in seiner Gegenwart lautet: totus iustus! – nicht weniger als das. – Daß dem so ist, wird klar werden, wenn wir nun den Inhalt der Verheißung, in deren Empfang sich des Menschen Rechtfertigung vollendet, kurz zu entfalten versuchen.
Man kann das Ganze dieser Verheißung, wie es im Credo geschieht (1) zusammenfassen in den Begriff der Vergebung der Sünden. Sie ist, von jeder menschlichen Gegenwart aus gesehen, zweifellos auch ein ganz und gar Künftiges: die vollendete Rechtfertigung, nach der der gerechtfertigte Mensch ausblickt, der er entgegengeht. Kein Moment seines Lebens, in welchem er Vergebung und also die Freiheit von seinen Sünden nicht auch einfach zu erwarten, zu erhoffen, mit leer ausgestreckten Händen zu erbitten hätte. Aus der fünften Bitte des Unservaters kann niemand jemals entlassen sein, ihre Dringlichkeit kann in keines Christen Leben jemals abnehmen. Es dürfte vielmehr die andere Probe auf die Echtheit seiner Rechtfertigung als seines Seins im Übergang darin bestehen, ob sich ihm die Aktualität gerade dieser Bitte immer mehr aufdrängen oder ob sie für ihn ihre Aktualität allmählich verlieren sollte? Ob sie ihm in diesem Fall jemals aktuell gewesen ist? ob er also wirklich lebt in diesem Übergang, der seine Rechtfertigung ist? Vergebung seiner Sünden wird er ja, wenn er in diesem Übergang lebt, immer nur als das Werk verstehen können, in welchem Gott ihm, der ihrer von seiner Vergangenheit her und noch in seiner Gegenwart schlechterdings bedürftig ist, entgegenkommt, nicht als ein Zustand, in welchem er ihm seinerseits entgegengeht. Vergebung seiner Sünden kann er nur haben, indem er sie von Gott bekommt, indem Gott sie ihm gibt. Ein anderes Nehmen, Haben, Besitzen der Vergebung, auch eine andere Gewißheit um sie kommt nicht in Frage. Das Alles ist wahr, indem diese Tat Gottes an ihm geschieht, indem seine Gabe von ihm erkannt und ergriffen wird. Daß Gott diese Tat an ihm tun will und wird und daß er diese Gabe erkennen und ergreifen darf, das ist der Inhalt der Verheißung. Vergebung der Sünden empfangen, heißt also: die Verheißung der Vergebung der Sünden empfangen. Vergebung der Sünden haben, heißt: sich an die Verheißung halten, im Vertrauen auf sie vorwärts blicken und ihrer Weisung gehorsam vorwärts gehen. Der Vergebung der Sünden gewiß sein schließlich heißt: an ihrer Verheißung als solcher um ihrer selbst willen nicht zweifeln. Hinter sich blickend oder auch in die Tiefe seiner von seiner Vergangenheit bestimmten Gegenwart, würde der Mensch die Vergebung seiner Sünden weder wahrnehmen noch sich ihrer trösten können, würde er sie überhaupt nicht haben. Er hat sie, indem sie ihm in der Verheißung zukommt, nicht anders.
Was aber heißt Vergebung der Sünden? Der Begriff betrifft nur scheinbar bloß des Menschen Vergangenheit. Das tut er freilich auch. Aber nun doch nur in dem Sinn, daß er gerade den Strich bezeichnet, der unter seine
-- 666 --
Vergangenheit gezogen ist, der sie zur Vergangenheit macht und als solche kennzeichnet. An welcher Stelle meiner Vergangenheit würde ich diesen Strich eindeutig gezogen schen? Und wenn ich um eine derartige Stelle vermutungsweise zu wissen meinte, wie wäre es auch dann mit all dem, was seither meine Vergangenheit war? Und mit welcher Berechtigung und Gewißheit könnte ich ihn, von meiner Vergangenheit herkommend, auch eben jetzt als gezogen konstatieren? Wann würden wir dem, daß er gezogen werden und sein möchte, nicht immer aufs neue entgegensehen müssen? So kann gerade dieser Abschluß nur Inhalt der dem Menschen zugesprochenen Verheißung sein. Wir fragen: Was ist es mit diesem Abschluß? Vergeben heißt sicher nicht: Geschehenes ungeschehen machen. Ungeschehen wird und ist gar nichts, was geschehen ist. Der Mensch, in dessen Leben ein Geschehenes zum Ungeschehenen würde, wäre nicht mehr dieser Mensch. Er ist dieser Mensch in der Ganzheit seiner Geschichte. Als dieser ist er vor Gott und ist er ihm bekannt. Es hört also der, der Vergebung empfängt, nicht auf, eben der Mensch zu sein, dessen Vergangenheit (und im Gefolge seiner Vergangenheit auch dessen Gegenwart) den Makel seiner Sünden trägt. Das ist aber die Tat der göttlichen Vergebung: daß Gott, der diesen Makel wohl sieht und kennt – unendlich viel besser als der Mensch selber! und unendlich viel tiefer verabscheut, als der Mensch auch in seiner tiefsten Buße je tun wird! – eben diesen Makel nicht in Betracht zieht, übersieht und eben damit zudeckt, übergeht und eben damit hinter sich wirft, den Menschen nicht dabei behaftet, ihn dem Menschen «nicht anrechnet» ( 2. Kor. 5, 19), die Anklage, der er sich damit ausgesetzt hat, nicht aufrecht erhält, die Schuld, mit der er sich damit belastet hat, nicht gegen ihn geltend macht, die Verdammnis, der er verfallen sein müßte, nicht Ereignis werden läßt. Gott vergibt heißt schon: er verzeiht. Die göttliche Verzeihung ist aber kein schwächliches Verzeihen. Sie ist gerade als Verzeihung eine, die große – man darf wohl sagen: zornige – göttliche Macht- und Trotztat: er beweist seine Überlegenheit gegen allen ihm entgegengesetzten Widerspruch und Widerstand und er beweist seine unerschütterliche Herrschaft über den Menschen damit, daß er dessen Sünde verachtet, sie, obwohl sie geschehen ist, ignoriert, sich in seinem Verhältnis zum Menschen nicht durch sie bestimmen läßt. Die göttliche Verzeihung ist aber auch kein unrechtmäßiges Verzeihen. Sie ist gerade als Verzeihung die Ausübung seines höchsten Rechtes und zugleich die Herstellung des Rechtszustandes zwischen sich und dem Menschen, die wirksame Behauptung seiner Ehre ihm gegenüber. Sie ist auch kein bloß verbales Verzeihen. Sie ist gerade als Verzeihung die kräftige und gerechte Veränderung der menschlichen Situation von deren Grund aus: lautet sein Urteil über den Menschen dahin, daß er von dessen Makel nichts wissen will, dann ist er eben als solcher ausgetilgt und erledigt, dann ist der Mensch, indem er diesen Makel
-- 667 --
trägt, seinem Makel zum Trotz wirklich makellos, seinem Unrecht zum Trotz im Rechte. Die göttliche Verzeihung ist also kein Verzeihen «als ob» der Mensch kein Sünder wäre. Sie ist gerade als Verzeihung das schöpferische Werk Gottes, in dessen Kraft der Mensch als derselbe alte Mensch, der er war und noch ist, nicht mehr derselbe, sondern schon ein anderer ist: der, der er sein wird, der neue Mensch. Das ist die Vergebung der Sünden als Schlußstrich unter des Menschen Vergangenheit.
Man kann sie also offenbar gerade als das nicht verstehen, ohne gewahr zu werden, daß mit ihr nicht nur ein altes Blatt beiseite gelegt, sondern auch ein neues aufgeschlagen wird. Und eben darin charakterisiert sie sich nun erst recht als das Künftige, dem der Mensch immer wieder entgegenzusehen und entgegenzugehen berufen ist. Ist sie Gottes mächtiges, gerechtes, wirksames, ja schöpferisches Bedecken, Übersehen, Verachten und Abschätzen seines Hochmuts, so schafft sie offenbar nicht nur tabula rasa, ein Feld, auf dem sich nun ebensogut dieses und jenes Neue zutragen könnte. Es ist vielmehr eine ganz bestimmte neue Ausgangssituation, in die der Mensch durch Gottes Verzeihen gestellt wird. Einmal indem er bestimmt erst damit, damit aber ernstlich, zu einem Kenner der Gnade und also der Liebe und also der königlichen Freiheit Gottes, seines Rechtes und seines Willens geworden ist – und wieder damit, damit aber gründlich auch zu einem Kenner seiner selbst als des Geschöpfs, dem Gott gerade nur, indem er ihm verzeiht, gnädig sein, zu schaffen haben kann – und endlich, weil er seiner Sünde, wie dicht und gewaltig, wie anklagend und wie versuchlich sie auch immer noch vor ihm stehen möge, jetzt gerade nur noch als seines von Gott bedeckten, übersehenen, verachteten und abgeschätzten, keiner weiteren Berücksichtigung würdigen Makels gedenken kann. Das sind die drei Momente der neuen Freiheit dessen, dem Gott seine Sünde vergeben hat: er darf sich an Gottes Gnade, Willen und Recht halten, er darf endlich Demut lernen, er darf seiner Sünde seinerseits getrost und bestimmt den Rücken kehren. Dieses Dürfen ist das neue Blatt, das mit der Vergebung der Sünden aufgeschlagen ist. Aber eben: Wann und wo fänden wir diese neue Ausgangssituation schon in unserer Vergangenheit vor – so etwa, daß wir uns ihrer bloß zu erinnern brauchten, um in der Kraft dieser Erinnerung weiter zu leben? Und wann und wo als konstatierbaren Zustand in unserer Gegenwart? Konnten wir sie je und dürfen wir sie eben jetzt erkennen, dann doch bestimmt nur als die uns von Gott gegebene Verheißung, die als solche zu erkennen und zu ergreifen war und ist – und also als die Zukunft, in die wir je und je hineingehen durften und wohl auch mit mehr oder weniger sicheren Schritten hineingegangen sind, um dann doch immer aufs neue darauf angewiesen zu sein, daß sie uns aufs neue als unsere Zukunft eröffnet wurde – auch in eben dieser Gegenwart aufs neue als solche eröffnet werden wird.
Aber vergessen wir nicht: die Verheißung ist Gottes Verheißung und
-- 668 --
die Vergebung als ihr Inhalt ist Gottes ganze Vergebung: als Verzeihung und also als Schlußstrich und als Freiheit zu einem neuen Sein Gottes ganze Vergebung aller unserer Sünden. Daß sie ein uns Künftiges, daß sie, in Gottes Verheißung eingeschlossen, nur erhofft, erwartet, erbetet werden kann, schränkt sie nicht ein, mindert ihren Reichtum und ihre Kraft nicht, bedeutet auch nicht, daß der Mensch sie nicht, indem er die Verheißung ergreift, jetzt und hier schon in unbedingter Gewißheit und uneingeschränkter Fülle empfangen darf. Nein, er kann, soll und darf sie in derselben Gegenwart empfangen und haben, in der er sich ihrer immer noch gänzlich bedürftig weiß. Wo und wann immer ihm die Verheißung gegeben wird, da ist sie treu und zuverlässig, da kann auch an ihrem Inhalt gar nichts fehlen, da ist sie als Eschatologie auch «realisierte Eschatologie». Da tritt ja in und mit ihr ihr ganzer Inhalt mitten in des Menschen Gegenwart hinein. Wo und wann immer der Mensch also der Verheißung traut, wo und wann immer er es wagt, sie als an ihn gerichtet, auch auf sich zu beziehen und also auch für sich gelten zu lassen, da wird auch die Vergebung seiner Sünden Ereignis, der Schlußstrich gezogen, die neue Ausgangssituation geschaffen. Da wird ihm also Absolution nicht nur angezeigt, da geschieht sie. Da empfängt der Mensch Vergebung: Gottes Verzeihung und die Freiheit eines neuen, des allein echten Dürfens. Da hat er sie schon, da kann, darf und soll er es wagen zu leben als Einer, dem vergeben ist.
Man kann mit «Vergebung der Sünden» Alles sagen, was hier zu sagen ist. Es wird aber doch besser sein, nicht Alles nur damit sagen zu wollen. Der Inhalt der Verheißung, in deren Empfang des Menschen Rechtfertigung sich vollendet, ist ja (2) seine Einsetzung in ein bestimmtes Recht, das an die Stelle des von ihm begangenen, nun aber von Gott ignorierten Unrechts tritt. Seine Rechtfertigung vollendet sich in diesem positiven Werk Gottes, kraft dessen er einer wird, der den Kopf heben und hoch tragen darf, weil er vor ihm bestehen kann, weil er ihm gefällt, weil er sein, Gottes, Gerechter ist. Dieser Gerechte wird er sein. Wie könnte man auch das anders als eben futurisch sagen? Der Mensch, der sich von seiner Vergangenheit her dem ihm begegnenden Gott stellt, wird ja nie etwas Anderes als eben – mit der Bitte: quod vixi, tege! – sein Unrecht vor ihm ausbreiten können. Es gibt aber ein Recht, das er eben als der, der nur im Unrecht ist, von Gott empfangen darf, mit dem Gott eben ihn, den von allem Recht vor ihm Entblößten, bekleiden will und wird: so, daß er es kühnlich als sein Recht in Anspruch nehmen und geltend machen, darauf pochen und in seinem Schutz seiner Sache gewiß sein darf. Es ist nicht nur das wiederhergestellte Recht des Geschöpfs und Bundesgenossen, es ist nach der neutestamentlichen Bezeugung dieser Sache das Recht des Kindes Gottes. Der Mensch ist darin seiner Sünde zum Trotz durch Gott und vor ihm gerechtfertigt, daß Gott ihn nicht nur als sein Geschöpf und
-- 669 --
seinen Bundesgenossen bestätigt und erhält, sondern daß er ihn in sein Haus aufnimmt, als den wesenhaft Seinigen annimmt, anredet, behandelt. Der Begriff «Kind Gottes» bezeichnet über alle noch so reale und intime Koexistenz Gottes und des Menschen hinaus, als Ziel von dessen Versöhnung, als letzten Sinn des zwischen beiden hergestellten Friedens das Unerhörte einer dem Menschen von Gott zugesprochenen und gewährten Seinsgemeinschaft mit ihm. Er bezeichnet also etwas, was als solches mehr ist als Versöhnung und Frieden, vielmehr: was eben die Versöhnung und den Frieden des Menschen mit Gott besiegelt, unerschütterlich, unaufhebbar, unverlierbar macht, eine ontologische Beziehung, in der das Geschehen der Versöhnung, die Herstellung des Friedens zwischen Gott und Mensch gekrönt, ihr Ergebnis gewissermaßen verankert wird. Er bezeichnet ja nicht nur eine Bindung des Menschen an Gott, sondern auch und zuerst eine Bindung Gottes an den Menschen. Denn nennt Gott den Menschen, ist also der Mensch sein Kind, dann bekennt Gott sich eben damit als sein Vater, dann ist er es also. Dann hat sich Gott, dann ist er dem Menschen ebenso verbunden, wie er ihn sich verbunden hat, wie er also ihm verbunden ist. Des Menschen Gotteskindschaft ist nicht seine Göttlichkeit, so gewiß sie ihm ja eben nur zugesprochen, verliehen, geschenkt, so gewiß er von Gott als Kind nur an- und aufgenommen, als solches nur eingesetzt ist. Wohl aber ist sie seine seinsmäßige Zugehörigkeit zu Gott auf Grund und in der Kraft dessen, daß Gott sich selbst ihm zugehörig erklärt und macht. Ist Gott sein Vater und er dieses Vaters Kind, so ist Gott so wenig ohne ihn Gott, wie er ohne Gott Mensch ist, so hat er Gott gegenüber im gleichen Sinn Kindesrecht, wie Gott ihm gegenüber Vaterrecht hat: das Recht auf ein Sein mit ihm, das Recht auf jederzeitigen Zugang zu ihm, das Recht, ihn anzurufen, das Recht, sich auf ihn zu verlassen, das Recht, Alles, dessen er bedarf, von ihm zu erwarten und zu erbitten. Dieses Kindesrecht ist der Inbegriff alles Menschenrechtes. Und die Verheißung dieses Menschenrechtes ist die Vollendung der Rechtfertigung des sündigen Menschen. Mit der Verheißung dieses Menschenrechtes begegnet, trotzt, widersteht Gott der Sünde, dem Unrecht, dem in seine Schöpfung eingebrochenen Chaos. Die Existenz von solchen Gotteskindern ist das Ja, mit dem er des Menschen Nein überwindet, und sie ist auch der Sinn seines eigenen Nein seinem Abfall gegenüber. Sie ist das, was Gott will mit dem Menschen und was er, indem er ihn, den Sünder, rechtfertigt, siegreich will. Mit ihr – eben damit, daß er den Menschen sein Kind heißt und sein läßt – macht er jenen Schlußstrich unter seine Vergangenheit definitiv und stellt er ihn in jene neue Ausgangssituation, hinter die er nicht mehr zurück kann. Mit ihr gibt er ihm Zukunft: seine nun in letzter, höchster Klarheit und Gewißheit andere, neue Zukunft.
Muß es besonders unterstrichen sein, daß das dem Menschen
-- 670 --
zugesprochene Recht des Kindes Gottes wirklich seine Zukunft, die ihm gegebene Verheißung ist, deren Erfüllung er von jeder Gegenwart her nur entgegensehen und entgegengehen kann? Wer würde das rückwärtsblikkend oder in seiner Gegenwart entdeckt haben: daß er Gottes Kind und also in Seinsgemeinschaft mit ihm, ihm so unentbehrlich ist wie Gott ihm, im Besitz jenes ganzen, wahrhaft fürstlichen Menschenrechtes ihm gegenüber? Das kennt man, wenn überhaupt, dann als Gottes Verheißung und Zusage, dann indem man dieser Vertrauen schenkt, sie annimmt und gelten läßt. Wir sind «wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung» ( 1. Petr. 1, 3) auf dieses Sein. Unterstreichen wir aber jetzt auch hier das Andere: In und mit der Verheißung Gottes, in sie verschlossen und nur in und mit ihr, nur in jener «lebendigen Hoffnung» zu ergreifen, kommt auch das: des Menschen Gotteskindschaft in ihrer ganzen Herrlichkeit in seine Gegenwart hinein, kann, darf und soll auch sie nicht nur als ein fernes Ziel betrachtet und bewundert, erwartet und ersehnt, sondern jetzt und hier schon gelebt werden. «Wir sind nun Gottes Kinder» ( Röm. 8, 17, 1. Joh. 3, 2). Das von unserer Vergangenheit her uns Beschattende, Belastende und Bekümmernde kann es uns wohl – das freilich gründlich! – verdecken und verbergen, so daß von irgend einem Wahrnehmen allerdings keine Rede sein kann. «Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden» (1. Joh. 3, 2). Es kann aber nichts daran ändern. Es kann weder das Faktum aufheben, noch von seiner Tragweite auch nur das Geringste abstreichen. Was wir laut Gottes Verheißung sind: die, denen Gott, indem er sie seine Kinder heißt, sich selbst verbunden hat – und was wir haben: das Recht, uns daran zu halten und darauf zu berufen, das Recht, zu ihm zu schreien: «Abba, Vater!» ( Gal. 4, 6, Röm. 8, 15), das ist das Unbewegliche, an das, wie verborgen es uns auch gegenwärtig sein mag, keine Problematisierung durch Umstände und Verhältnisse, durch das Urteil anderer Menschen oder auch durch unsere eigenen Unsicherheiten und Zweifel, ob sie nun oberflächlicherer oder tieferer Art sein mögen, auch nur herankommen kann, geschweige denn, daß es zu erschüttern oder gar zu beseitigen wäre. Es ist des Menschen unwiderrufliches Recht. Wir stehen gerade hier – immer auf die uns von Gott her angehende Verheißung gesehen – auf dem Felsen unserer Rechtfertigung, der nicht weicht, der uns auf alle Fälle trägt. Es ist uns auch in der gewaltigsten Anfechtung von rückwärts her, auch in der schwersten Auseinandersetzung mit allem, was wir leider «auch noch» bzw. «auch noch nicht» sind, nicht nur erlaubt, sondern geboten, ohne Furcht und Grauen und auch ohne alle an dieser Stelle ganz falsche Scham und Zurückhaltung jetzt schon darauf zu pochen und zu rekurrieren: «Wir sind nun Gottes Kinder». Wir nehmen uns damit nichts, was uns nicht gehört. Wir würden vielmehr Gott selbst seine Ehre aufs Neue nehmen, wenn wir darauf nicht pochen und rekurrieren wollten. Wenn es nur eben das mutige und demütige Pochen und Rekurrieren auf
-- 671 --
seine Verheißung und also auf unsere Rechtfertigung durch seine Gnaden- und Wundertat ist!
Das eine Ganze der vollendeten Rechtfertigung muß aber noch unter einem weiteren, dem eben besprochenen benachbarten und doch auch von ihm unterschiedenen Aspekt gesehen werden. Sie ist (3) des Menschen Einsetzung in den Stand der Hoffnung. Man kann die Hoffnung freilich auch einfach als die höchste Form des Rechtes der Kinder Gottes bezeichnen. Man kann ferner den ganzen Stand des gerechtfertigten Sünders als seinen Stand in der Hoffnung beschreiben, sofern es ja auch in der ihm zugesprochenen Vergebung der Sünden, in der ihm zugesagten Gotteskindschaft um Gottes Verheißung und also um das von Gott zu Erhoffende und zu Erwartende geht.
Aber einmal versteht sich ja auch das gar nicht von selbst: daß der Mensch in dieser Hoffnung und Erwartung lebt, daß er es nicht unterläßt, sondern wagt, wirklich vorwärts zu blicken und wirklich zu laufen nach dem ihm vorgesteckten Ziel, daß er es sieht und ernst nimmt, wie die Verheißung von vorne in seine Gegenwart hineinreicht, daß er sich dazu aufrafft und dabei bleibt, sich an sie zu halten, sich ihrer wirklich und gründlich zu trösten, daß er nicht müde wird, das immer wieder zu tun. Wer fände diese der Unbeweglichkeit der Verheißung entsprechende unbewegliche Hoffnung in sich selbst vor: wo und wann in seiner Vergangenheit? und inwiefern jetzt eben in seiner Gegenwart? Daß er hofft und also von und mit der Verheißung lebt, daß er sich das so ganz Futurische heute und hier gesagt sein läßt: «Dir sind deine Sünden vergeben!» und daß er das ebenso ganz Futurische heute und hier zuversichtlich nachspricht, wie es ihm in der Verheißung vorgesprochen ist: «Wir sind nun Gottes Kinder!» – daß er der Mann ist, der sich nicht nur vorstellt, er täte das, sondern der das wirklich tut – das ist offenbar noch einmal ein Besonderes, und zwar wieder und noch einmal der Inhalt der Verheißung, in der sich seine Rechtfertigung vollendet. Sie lautet in diesem Zusammenhang: eben hoffen darfst du und eben hoffen kannst du auch – mehr noch: gerade du bist der Mann, der das tatsächlich tun wird, der das gar nicht unterlassen kann, gerade du bist nämlich der Mann, dem die lebendige Hoffnung schon ins Herz geschrieben ist, eben als dieser lebendig hoffende Mensch bist du jenseits jenes Schlußstriches, als das Kind, als das Gott dich anredet, neu geboren. Diese Verheißung, diese Zusage will offenbar ergriffen sein: gerade insofern, als es in ihr um ihr Ergreifen als solches, um das Vertrauen auf sie, um das Wagen auf sie hin, um das Aushalten bei ihr geht. Wie das Beten-Können und das wirkliche Beten selber erbetet werden darf und muß, so darf und muß das Hoffen-Können und das wirkliche Hoffen selber allen Ernstes erhofft werden, ist es selber Inhalt der Verheißung, deren Erfüllung wir immer wieder entgegenzusehen und entgegenzugehen haben.

-- 672 --
Aber nun ist hier noch mehr zu sagen. Es geht in der Hoffnung, in der sich des Menschen Rechtfertigung vollendet, nicht nur um das täglich und stündlich neu zu vollziehende Ausblicken und Sichausstrecken nach der uns zugesagten Sündenvergebung und Gotteskindschaft. Es geht freilich immer auch darum. Es ist aber klar: das Hoffen auf sie als solche impliziert sofort einen Ausblick und ein Sichausstrecken nach einem Ziel, an welchem der mit den Begriffen der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft zu bezeichnende Stand des gerechtfertigten Menschen zwar kein anderer, wohl aber ganz anders offenbar sein, sich darstellen und auswirken wird, als das auf seiner Wanderung von immer neuer Vergangenheit her durch immer neue Gegenwart hindurch in immer neue Zukunft hinein – in seiner Bewegung, in seiner Geschichte in der Zeit – jemals Ereignis werden kann und wird. Im zeitlichen Gang dieser Geschichte geschieht ja seine Rechtfertigung, und ist ja Alles, was er als von Gott Gerechtfertigter ist und tut, immer nur im Übergang und also – gewiß real und vollständig, aber auch widerspruchsvoll, und unter dem Widerspruch verborgen – nur in jenem Zugleich des Entgegengesetzten, in der rätselhaften Gestalt, im Geheimnis des simul peccator et iustus. Der gerechtfertigte Mensch existiert aber – und das ist die Vollendung seiner Rechtfertigung – während er von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde hofft, in der nun gewissermaßen mit großen Buchstaben zu schreibenden Hoffnung auf ein letztes Ziel eben seines Hoffens, auf die Auflösung jenes Rätsels, auf die Beseitigung jenes Widerspruchs und also auf die Offenbarung des Geheimnisses seiner Geschichte in allen jenen immer neu zu vollziehenden Übergängen. Er tappt ja nicht im Dunkeln. Er kennt ja den Weg wohl, auf dem er sich befindet: seine Richtung nicht nur, sondern auch sein Ziel. Er weiß schon, daß er in keinem unnützen Hin und Her begriffen ist und in keiner fruchtlosen Kreisbewegung. Er lebt ja eben in der ständigen Unterscheidung seiner Zukunft von seiner Vergangenheit, seines Rechtes von seinem Unrecht, seines Lebens von seinem Tode. Er lebt ja von dem ständigen Vorsprung seiner Zukunft, von der ständigen Prävalenz der ihm zugesprochenen Sündenvergebung und Gotteskindschaft gegenüber der Anklage und Bedrohung, von der er immer wieder herkommt – von der Überlegenheit, dem vorwärtsweisenden Moment des göttlichen Urteils: totus iustus! gegenüber dem rückwärtsweisenden: totus peccator! Aber das ist es ja, daß in jeder Gegenwart auch die Vergangenheit noch gegenwärtig ist, daß da die Sündenvergebung und Gotteskindschaft, in der Verheißung verschlossen, jeden Augenblick aus tiefster Not heraus aufs Neue gesucht und ergriffen sein wollen, daß er da das: totus iustus! nicht hören kann, ohne sich auch das: totus peccator! immer wieder gesagt sein zu lassen. Das ist es ja, daß er sich auch an das ihm Zugesagte Unbewegliche, Unerschütterliche, Unverlierbare, weil Unwiderrufliche nur in jenem getrosten, aber auch immer neu
-- 673 --
aufzunehmenden Schreiten, nur in jener freudigen und zuversichtlichen, aber auch immer wieder gefährdeten und mühevollen Bewegung halten kann, die Paulus Phil. 3, 12 beschrieben hat: «Nicht daß ich es schon ergriffen hätte oder schon am Ziel wäre, ich jage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möchte: daraufhin, daß ich ergriffen bin . . .» Das Alles ist aber wie kein Hin und Her, wie keine Kreisbewegung, so auch kein progressus in infinitum. In dem allem blickt er offenbar auf eine Entscheidung, in der die Relativität, der Widerspruch, die Vorläufigkeit der Entscheidungen, in deren Folge er jetzt existiert, aufgehoben, in der seine Bewegung, in der er jetzt durch alle diese Entscheidungen hindurch, je von einer zur nächsten geht, zur Ruhe, weil zu ihrem Ziele gekommen sein, in der die Vergebung seiner Sünden, seine Gotteskindschaft, die Erfüllung der ihm gegebenen Verheißung keines weiteren Suchens und Ergreifens mehr bedürftig, in der das: totus iustus! das letzte, das einzige und unwidersprochene Wort sein wird. Er weiß, indem er auf dem Wege ist, um dieses Ziel: um das Ende jener Gestalt seiner Gerechtigkeit vor Gott, um den Anfang ihrer neuen und definitiven Gestalt. Und er geht, indem er diesen Weg geht, diesem Ziel entgegen. Das Ziel wird in seinem Wesen kein anderes, sondern eben dasselbe sein, dem er schon jetzt täglich und stündlich entgegeneilt: sein Recht vor Gott, sein Leben im Schutz dieses Rechtes – es wird aber das Ziel sein, jenseits dessen es keines weiteren Eilens mehr bedürfen wird. Er wird dort nach dem starken Ausdruck 2. Kor. 5, 21 Gerechtigkeit Gottes geworden sein. Er wird dort sein Recht, jenseits jenes Abschlußstrichs bei Gott und mit Gott zu sein, er wird dort sein Recht auf eine Existenz in der Herrlichkeit des Dienstes Gottes, er wird dort sein Recht auf ein Leben als ewiges Leben, sein Recht auf sein ewiges Heil nicht mehr erst erwarten, suchen, erbitten müssen, um es zu haben. Er wird es dort einfach haben und nur noch ausüben. Er wird dort einfach sein im Besitz und im Schutz dieses Rechtes, weil er dort in der unmittelbaren Gemeinschaft seines Seins mit dem Sein Gottes leben wird, der der Quell und das Wesen alles Rechts und alles Lebens, alles Seins und alles Heils ist. Er wird dort zu seinem Dienst unbedingt frei sein. Er wird dort angekommen sein, wohin er jetzt unterwegs ist. Und es wird eben dieses Angekommensein doch nichts Anderes sein, als die Offenbarung des Geheimnisses seines Unterwegsseins, seiner Geschichte in der Zeit. Es wird sein ewiges Leben in der Enthüllung der Rechtfertigung eben dieses seines diesseitigen Lebens bestehen. Es wird sein: dieses sein diesseitig zeitliches Leben selbst in der ihm in Gottes Gericht und Urteil schon zugesprochenen Neuheit, in der ihm durch Gottes Freispruch schon verliehenen gerechten Gestalt, hinter der dann das Alte, seine sündige Gestalt, endgültig, nicht mehr in die Gegenwart hineinreichend, zurückgeblieben sein wird. Es wird reine Gegenwart sein: Gegenwart, die ganz, ausschließlich, ohne alles Zugleich mit seiner Vergangenheit, durch die
-- 674 --
ihm in Gottes Verheißung zugesprochene Zukunft bestimmt und erfüllt sein, in der außer dem: totus iustus! nichts, gar nichts mehr von ihm zu sagen sein, in der er auch sich selbst nur noch als diesen kennen wird. Aber eben so wird sie die volle Gegenwart des Lebens, des Dienstes, des Heils, der Herrlichkeit sein, die das Verborgene schon jeder Gegenwart ist, die er jetzt und hier, die er als zeitliche Gegenwart, eine nach der anderen zu durchlaufen hat: zuversichtlich und freudig durchlaufen darf, eben weil ihr Verborgenes immer schon dieses Künftige, die reine Gegenwart des ewigen Lebens ist.
«Sind wir nun Kinder, so sind wir auch Erben» heißt es Röm. 8, 17 und nochmals 1. Petr. 1, 3: «wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung». Die «Erbschaft» ist eben die Entscheidung, die das Verborgene aller der Entscheidungen ist, in denen der Gerechtfertigte jetzt und hier schon die volle Vergebung aller seiner Sünden haben, ganz und gar Gottes Kind sein darf. Die «Erbschaft» ist das Sein, das das Verborgene eben des gerechten Seins ist, das ihm in Gottes Verheißung jetzt und hier schon ohne Vorbehalt zugesprochen ist. Die «Erbschaft» ist eben die Gegenwart des ewigen Lebens, die das Verborgene jeder zeitlichen Gegenwart ist, in der er sich in jenem Übergang befindet. Der Antritt und die Besitznahme der «Erbschaft» aber wird sein: die Offenbarung dieses Verborgenen und also die Entfernung der Hülle, unter der es jetzt und hier verborgen ist: die Beseitigung des Widerspruchs, die Auflösung des Rätsels, die Lüftung des Geheimnisses seiner zeitlichen Geschichte. Vergebung der Sünden haben und ein Kind Gottes sein, heißt: ein Anwärter dieser Erbschaft sein, ihrem Antritt entgegengehen. Gerechtfertigt werden und sein heißt ( Kol. 1, 12): «zubereitet werden zum Anteil an dem Erbe, das den Heiligen bestimmt ist im Lichte». Eben in der Zubereitung zu dieser Anteilnahme vollendet sich des Menschen Rechtfertigung. Der Gerechte wird sein: dieser Anwärter, dieser Anteilhaber, dieser unwiderruflich und mit allen Konsequenzen zum Erben Eingesetzte, der jetzt schon als dieser Erbe Lebende, d. h. der Offenbarung seiner Rechtfertigung und in ihr dem ewigen Leben Entgegengehende. Er wird in und von dieser ihm als solchem gegebenen großen Hoffnung leben. Er wird eben als solcher die Verheißung nie aus den Augen lassen, in ihrem Ergreifen nie zaghaft werden, im Gehorsam gegen ihre Weisung nie nachlassen und zurückweichen. Er wird ja eben um das in jeder Zeit Verborgene wissen als um das Ewige, um die Tiefe jeder Gegenwart, in der er doch schon der Zukunft der reinen Gegenwart entgegeneilt. Er wird ihrer Offenbarung in Geduld harren und, eben indem er das tut, immer wieder auffahren mit Flügeln wie ein Adler: ein bedrängter, aber kein bedrückter, ein oft müder, aber nie erschöpfter, ein oft betrübter, aber nie verzweifelnder, ein oft irrender, aber nie sich verirrender, ein suchender, aber auch findender, ein bittender, aber auch empfangender, ein im letzten Grunde – weil im Blick
-- 675 --
auf sein letztes Ziel! – fröhlicher Wandersmann. Des Menschen Freispruch, die Vollendung seiner Rechtfertigung ist seine Ernennung zu einem solchen Wandersmann, seine Einsetzung in den Stand der großen Hoffnung. Dazu sind ihm seine Sünden vergeben, darin besteht in der Tat sein höchstes Kindesrecht: daß er dieser Wandersmann sein darf. Es ist klar, daß auch das Verheißung, immer neu zu begreifende und zu ergreifende Zukunft ist, immer vor ihm steht, immer aufs neue gelebt sein will. Es ist aber wiederum klar, daß die Verheißung auch in dieser Gestalt als konkrete Möglichkeit in jede Gegenwart des gerechtfertigten Menschen hineinreicht. Heute, heute steht sie als Zukunft vor ihm. So kann, darf und soll sie auch heute, heute als solche bejaht, begriffen, ergriffen, fruchtbar gemacht, kann, darf und soll auch ihr Inhalt, die große Hoffnung, heute, heute gelebt werden: die Kraft des Jenseits als die Kraft des Diesseits. Das gerechte Urteil Gottes tut dem sündigen Menschen gerade im Diesseits gerade die Pforte des Jenseits weit auf. Unterwirft er sich seinem Urteil, verzichtet er also auf allen Eigendünkel seiner Verzagtheit, gibt er Gott recht gegen sich selber – dem Gott, der gerade damit so gewaltig für ihn in die Schranken tritt – was bleibt ihm dann übrig, als durch diese Pforte einzugehen, der in der großen Hoffnung Hoffende zu sein, der zu sein ihm von Gott erlaubt und geboten, zu dem er durch Gottes Urteil schon geworden ist?
Wir hören nun auch zum Abschluß dieser Erwägung einige Stimmen aus dem alttestamentlichen Psalter. Ihn hat ja zweifellos auch Paulus vor Augen gehabt, wenn er Röm. 7 vom Anheben der Rechtfertigung mitten in des Menschen Sünde und Verlorenheit, und erst recht, wenn er Gal. 2 oder Röm. 8 oder Phil. 3 von ihrer Vollendung in des Menschen Freispruch redete. Und mit den Worten des Psalters antwortete ja auch die erste Gemeinde auf die evangelische Nachricht vom Gehorsam, von der Demut, von der Erniedrigung, vom Kreuzestod des Herrn, antwortete sie auf die ihr in und mit dieser Nachricht verkündigte Geschichte ihrer – und nicht nur ihrer! – anhebenden und vollendeten Rechtfertigung. Auch das ist bedenkenswert, daß es das Buch der Psalmen war, aus dessen Studium und Meditation heraus Luther zu seiner denkwürdigen Wiederentdeckung der Rechtfertigung vorgestoßen ist: von da aus zum Römer-, zum Galater- und zum Hebräerbrief, nicht umgekehrt! Es ist aber nicht zu übersehen, daß der Psalter selbst als Selbstzeugnis des von der Verheißung und also von des sündigen Menschen Freispruch durch den gnädigen Gott lebenden alttestamentlichen Gottesvolkes im Ganzen wie im Einzelnen die unumkehrbare Richtung jener Geschichte hat, daß sein Nachdruck und sein beherrschender Ton darum auf dem Aufdecken dessen liegt, was der israelitische Mensch; indem Gott sein gerechter Richter und als solcher am Werk ist, als seine Zukunft, aber eben darum auch schon als seine Gegenwart kennt. Es gibt in aller Mannigfaltigkeit so etwas wie einen Tenor des Psalters: seine Bezeugung dessen, woran der israelitische Mensch sich als Glied seines Volkes wie für seine eigene Person im Vertrauen auf Gottes Urteil und Verheißung zu halten gedenkt und tatsächlich hält: die Bezeugung seines seiner Sünde und seiner ihr folgenden Verlorenheit zum Trotz von Gott nicht nur aufrecht erhaltenen und bestätigten, sondern triumphal erneuerten Rechtes, seiner Hoffnung, in der er doch schon in der Gegenwart zu leben, seines heiligen und zürnenden Gottes inmitten aller Anfechtung sich zu trösten, ja zu freuen wagt. Kein Zufall, daß der Psalter, ob seine Aussagen in direkten Anreden an Gott verlaufen oder in der dritten
-- 676 --
Person von Gott reden, ein Gebetbuch ist. Der Hintergrund, von dem der in ihm redende Mensch herkommt, ist ja nicht zu vergessen. Seine Dichter haben ihn meistens auch explizit sichtbar gemacht, und wo sie es nicht tun, wird man ihn, um sie zu verstehen, ergänzend hinzudenken müssen: dieses Volkes und seiner Menschen in ihrer Schuld begründete Bedrängnis, Not und Verlorenheit inmitten der sie umgebenden Welt: die in ihre Gegenwart hineinreichende, sie völlig verdunkelnde Vergangenheit ihrer Untreue und also ihres Unheils. Aus diesem Dunkel heraus und weithin noch ganz in dieses Dunkel gehüllt, treten die Psalmisten betend vor Gott. Und eben darin wird nun der Übergang sichtbar: die Rechtfertigung als Geschichte. (Ist wohl der Psalter als Reflex der Geschichte Israels schon einmal zusammenhängend untersucht und gewürdigt worden?) Man muß also etwa neben die Psalmen 78 und 106, in denen Israels Schuld und Strafe in großem Maßstab in Erinnerung gerufen werden, Ps. 136 halten, wo doch auch schon diese Vergangenheit, die dort so negativ beurteilte Geschichte Israels, vorbehaltlos in das Licht der ewig währenden Güte Gottes gestellt wird. Und wir bemerkten ja auch in den Psalmen 32 und 51 mit ihrem so schmerzlichen und entsetzten Rückblick auf die Herkunft des einzelnen israelitischen Menschen jene Tendenz, die es dem Leser schwer macht, sie eindeutig als «Bußpsalmen» und nicht vielmehr als eine freilich sehr besondere Art von Dank- und Lobpsalmen zu verstehen. Der Psalter als Ganzes endigt – es muß das in der Zeit seiner Redaktion ein gewaltiges Trotzdem! bedeutet haben – auf diesen Ton, nicht im Rückblick, sondern im Ausblick nach vorne. – Aber lassen wir einige einzelne von seinen Stimmen für sich selber reden!
In Entsprechung zu der schon die Gegenwart erfüllenden und bestimmenden großen Hoffnung des Gerechtfertigten, von der wir zuletzt sprachen, zunächst Ps. 116, 5 f.: «Gnädig ist der Herr und gerecht, und unser Gott ist barmherzig . . . Kehre wieder, meine Seele, zu deiner Ruhstatt; denn der Herr erweist dir Gutes. Ja, du hast mein Leben vom Tode errettet, meine Augen vor Tränen bewahrt, meinen Fuß vor dem Falle. Ich darf vor dem Herrn wandeln im Lande der Lebenden. Ich behielt den Glauben, auch wenn ich sprach: ich bin tief gebeugt . . . Wie soll ich dem Herrn vergelten alles Gute, das er mir getan? Ich will den Becher des Heils erheben und den Namen des Herrn anrufen . . . Teuer ist in den Augen des Herrn das Leben seiner Frommen – ach ja, o Herr, ich bin doch dein Knecht, der Sohn deiner Magd; du hast meine Bande gelöst. Dir will ich ein Opfer des Dankes bringen und den Namen des Herrn anrufen . . . in den Vorhöfen am Hause des Herrn, in deiner Mitte, Jerusalem! Hallelujah!» Dazu Ps. 118, 14 f.: «Meine Stärke und mein Loblied ist der Herr, und er ward mein Heil. Frohlocken und Siegesjubel erschallt in den Hütten der Gerechten: Die Rechte des Herrn schafft Sieg! Die Rechte des Herrn erhöht! Die Rechte des Herrn schafft Sieg! Ich werde nicht sterben, ich werde leben und die Taten des Herrn verkünden. Gezüchtigt hat mich der Herr, aber dem Tod mich nicht übergeben. Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, daß ich durch sie einziehe, dem Herrn zu danken. Dies ist das Tor des Herrn, da die Gerechten einziehen dürfen. Ich danke dir, daß du mich erhöht hast und mir zum Retter geworden bist. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist das gewirkt, es ist ein Wunder vor unseren Augen. Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; laßt uns frohlocken und seiner uns freuen!» Und auf gleicher Höhe Ps. 16, 5 f.: «Der Herr ist mein Erbe und mein Teil; du lenkst mein Geschick. Mein Los ist mir an lieblicher Stätte gefallen; ja, mein Erbe gefällt mir wohl . . . Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele, auch mein Leib wird sicher wohnen. Denn du gibst mein Leben dem Tode nicht preis und lässest deinen Frommen nicht die Grube schauen. Du weisest mir den Pfad des Lebens: Fülle der Freuden vor deinem Angesicht und Wonnen in deiner Rechten ewiglich.» Das sind nun freilich Spitzensätze – auf der Höhe der Worte in jenem Preislied Jes. 26, 2 f.: «Tut auf die Tore, daß einziehe das gerechte Volk, das die Treue bewahrt! Bewährten Sinn bewahrst du in Frieden, weil er auf dich vertraut. Vertraut auf den Herrn immerdar, denn der Herr ist ein ewiger Fels.»

-- 677 --
Wir müssen, um sie zu würdigen, zunächst wieder einige Schritte zurück: in den Schatten der Gegenwart treten, in der der Mensch eben nur die Verheißung als solche ergreifen kann, von der erleuchtet und getröstet er aber schon in die Höhe, in die Zukunft blickt, deren Licht dann umgekehrt seine Gegenwart so hell machen kann. In dieser Distanz redet der in Luthers Umdichtung so bekannte Ps. 130: «Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, höre auf meine Stimme! Laß deine Ohren merken auf mein lautes Flehen! Wenn du die Sünden anrechnest, Herr, wer kann bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, auf daß man dich fürchte. Ich hoffe auf dich, o Herr, meine Seele hofft auf dein Wort. Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen, harre, Israel, auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade, bei ihm ist reichlich Erlösung. Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.» Gewissermaßen rückwärts buchstabierend, aber ohne Preisgabe der Ausrichtung nach vorne Ps. 25, 10 f.: «Alle Pfade des Herrn sind Huld und Treue denen, die seinen Bund und seine Gesetze halten. Um deines Namens willen, Herr, verzeihe meine Schuld, denn sie ist groß. Wer ist der Mann, der den Herrn fürchtet? Ihm zeigt er den Weg, den er erwählen soll . . . Der Herr zieht die, die ihn fürchten, ins Vertrauen, und seinen Bund läßt er sie wissen. Meine Augen sehen stets auf den Herrn; denn er wird meine Füße aus dem Netze ziehen. Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. Erlöse mich von den Ängsten meines Herzens, führe mich heraus aus meinen Nöten! Nimm hinweg meinen Jammer und mein Elend, und vergib mir alle meine Sünden! . . . Bewahre meine Seele und errette mich; laß mich nicht zuschanden werden, denn dir vertraue ich! . . . O Gott, erlöse Israel aus allen seinen Nöten!» Noch weiter zurückgehend, aber immer in derselben Ausrichtung Ps. 143, 1 f.: «O Herr, höre auf mein Gebet, vernimm mein Flehen, in deiner Treue, in deiner Gnade erhöre mich! Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht; kein Lebender ist ja vor dir gerecht.» Und v 5 f.: «Ich gedenke vergangener Tage, ich sinne nach über all dein Tun und erwäge das Werk deiner Hände. Ich breite meine Hände aus zu dir; meine Seele verlangt nach dir wie lechzendes Land. Erhöre mich bald, o Herr, mein Geist verzehrt sich; verbirg dein Angesicht nicht vor mir, daß ich nicht denen gleich werde, die zur Grube fahren! Laß mich früh deine Gnade hören, denn ich vertraue auf dich. Tue mir kund den Weg, den ich gehen soll, denn zu dir erhebe ich meine Seele.» Und v 10 f.: «Lehre mich deinen Willen tun, denn du bist mein Gott! Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn. Um deines Namens willen, o Herr, erhalte mich; in deiner Treue führe meine Seele aus der Not!»
Dann aber und von da aus der neue Vorstoß des so an die Wand Gedrängten und doch nicht Verzagenden, der neue Griff und Sprung in die Zukunft Ps. 142, 6: «Ich schreie zu dir, o Herr, ich spreche: Du bist meine Zuversicht, mein Teil im Lande der Lebenden.» Und v 8: «Führe mich hinaus aus dem Kerker, daß ich deinen Namen preise! Die Gerechten werden sich um mich scharen, wenn du mir Gutes erweisest.» Und in noch größerer Dramatik Ps. 18, 2 f.: «Ich liebe dich, Herr, meine Stärke! Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich mich verlasse, mein Schild und meines Heiles Horn und meine Zuflucht.» Denn v 7: «Als ich in Angst war, rief ich den Herrn an und schrie zu meinem Gott; da hörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien drang an sein Ohr.» Damit aber ist Alles anders geworden, scheint der Bedrängte und Geängstigte sich fast in Überlebensgröße zu erheben v 29 f.: «Ja, du lässest meine Leuchte strahlen; der Herr, mein Gott, erhellt meine Nacht. Ja, mit dir zerbreche ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Gottes Weg ist unsträflich, und das Wort des Herrn ist lauter; Schild ist er Allen, die auf ihn vertrauen. Denn wer ist Gott als nur der Herr? Wer ist Fels außer unserem Gott? – dem Gott, der mich mit Kraft umgürtet und ebene Bahn mir schafft, der meine Füße gleich den Hinden macht und mich auf Höhen stellt, der meine Hände den Streit lehrt und meinen Arm den ehernen Bogen zu spannen. Du reichst mir den Schild deiner Hilfe, deine Rechte stützt mich, deine Güte macht mich groß. Weiten Raum schaffst du meinen Schritten, und meine
-- 678 --
Knöchel wanken nicht.» Dieselbe Bewegung Ps. 17, 6 f.: «Ich rufe dich an, denn du erhörst mich, o Gott; neige dein Ohr zu mir, vernimm meine Rede! Beweise deine wunderbare Güte, du Heiland derer, die vor den Widersachern sich deiner Rechten vertrauen! Behüte mich wie den Stern im Auge, im Schatten deiner Flügel wollest du mich bergen!» Und dann schon die Stimme des Erlösten v 15: «Ich aber will in Gerechtigkeit dein Angesicht schauen, will mich sättigen, wenn ich erwache, an deinem Bilde.» So Ps. 73, 21 f.: «Als mein Herz erbittert war und es mich stach in meinen Nieren, da war ich dumm und ohne Einsicht, war wie ein Tier vor dir. Nun aber bleibe ich stets bei dir, du hältst mich bei meiner rechten Hand. Du leitest mich nach deinem Ratschluß und nimmst mich hernach in die Herrlichkeit. Wen hätte ich im Himmel außer dir? Und wenn ich dich habe, so wünsche ich nichts auf Erden. Mag Leib und Sinn mir schwinden, Gott ist ewiglich mein Fels und mein Teil. Denn siehe, die dir fern bleiben, kommen um; du vernichtest alle, die dir untreu werden. Mir aber ist es köstlich, Gott nahe zu sein; ich setze meine Zuversicht auf Gott den Herrn und verkünde alle deine Werke.»
Und nun wird in Ps. 103 offenkundig schon wieder vom Ziel her auf den ganzen Weg und seinen Ausgangspunkt zurückgeblickt in jenem unvergeßlichen Lob des Herrn, zu dem der Psalmist seine Seele, sich selber aufruft, weil aufgerufen findet: des Herrn (v 3 f.), «der dir alle deine Schuld vergibt und alle deine Gebrechen heilt, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der mit Gutem dein Verlangen stillt, daß deine Jugend sich erneuert gleich dem Adler». Denn (v 8 f.): «Barmherzig und gnädig ist der Herr, langmütig und reich an Güte. Er hadert nicht immerdar und verharrt nicht ewig im Zorn. Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Schuld. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch ist seine Gnade über denen, die ihn fürchten. So fern der Aufgang ist vom Niedergang, so fern tut er unsere Übertretungen von uns. Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.» Wozu dann Ps. 85 zu vergleichen ist, wo dasselbe ausdrücklich vom Volk Israel als solchem zu sagen gewagt wird: «Du hast, o Herr, dein Land begnadet, hast Jakobs Geschicke gewendet. Du hast deinem Volke die Schuld vergeben, hast alle ihre Sünden bedeckt. Du hast hinweggenommen all deinen Grimm, hast abgewendet die Glut deines Zorns» (v 2 f.). «Ja, seine Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten, daß die Herrlichkeit wohne in unsrem Lande. Gnade und Treue begegnen einander, Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Treue sproßt auf aus der Erde, und Gerechtigkeit schaut hernieder vom Himmel» (v 10 f.). Es müßte schließlich der unter allen Psalmen bekannteste und unerschöpflichste, Ps. 23 nämlich, Wort für Wort angeführt werden: das Bekenntnis des Mannes, dessen Hirte der Herr ist, dem darum nichts mangeln wird, den er auf rechtem Pfade leitet, der im finsteren Tal wandernd kein Unglück fürchtet, sondern getröstet ist, dem im Angesicht seiner Feinde der Tisch gedeckt und voll eingeschenkt, sein Haupt mit Öl gesalbt ist, der von Glück und Gnade alle seine Tage begleitet zu werden und sein Leben lang im Hause des Herrn zu weilen erwartet – das und nur noch das! Von der Vollendung der Rechtfertigung des sündigen Menschen, von seinem Freispruch, redet da jeder Satz. Und so ist jeder im strengen Sinn «eschatologisch», blickt jeder in die fernste, letzte Zukunft, aber eben von daher zurück in die Gegenwart, jeder als der Ruf eines von jenen auf den Morgen harrenden Wächtern von Ps. 130, 6 f., aber gerade darum auch als Wort des Dankes und Lobes eines Mannes, der heute, heute, des kommenden Morgens froh sein darf. Ps. 23 ist ein Summarium des ganzen Psalters und darum die Erklärung jener eindeutigen Triumphlieder, in denen das Buch von Ps. 145 ab zum Abschluß kommt: in nuce die Selbstdokumentierung der Existenz des durch den gnädigen Gott gerechtfertigten Sünders.
4. DIE RECHTFERTIGUNG ALLEIN DURCH DEN GLAUBEN

-- 679 --
Der in Gottes Gericht freigesprochene und so gerechtfertigte Mensch, der Mensch jener Geschichte, jenes Übergangs, der von seinem Unrecht seinem Recht, von seinem Tode seinem Leben entgegeneilt – von wem sprachen wir nun eigentlich? wer ist, welcher Mensch ist das?
Der Mensch irgend eines von religiöser Revolution und Erneuerung besonders bewegten Zeitalters, etwa des 16. oder des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung? Oder der der Erde, dem Meer, dem Wald, dem Raubtier noch so nahe, dem unmittelbaren Kampf ums Dasein noch so ausgelieferte, dem Tode noch so vertraute, auch im Heidentum seiner Väter noch so munter weiterlebende und darum für Mystik, Magie und Mythologie aller Art noch so selbstverständlich offene Mensch des europäischen Mittelalters? Oder der leidlich zivilisierte Mensch im Rahmen fester Traditionen, wie sie sich im 17. Jahrhundert noch einmal gebildet und von da ab noch das 19., noch den Anfang unseres Jahrhunderts bestimmt haben: der Mensch des konservativen Liberalismus, für den mit der Staats- und Gesellschaftsordnung auch das Christentum eine zwar mannigfach diskutierte, aber doch selbstverständlich wirksame Gegebenheit war, der, wenn er nicht gerade ein Strolch oder ein radikaler Aufklärer war, wenigstens nicht ganz abseits von der Kirche leben wollte («von Zeit zu Zeit seh‚ ich den Alten gern und hüte mich, mit ihm zu brechen . . .»), für den dafür Mission, Evangelisation und Gemeindeleben, aber auch Lebensreform, Justizreform, Pazifismus, Frauenemanzipation, Rassenfrage, soziale Frage oder gar Sozialismus – bis tief ins 19. Jahrhundert hinein sogar die Sklavenbefreiung! – noch Neuigkeiten waren, für die er durch besondere Propheten und «Bewegungen» interessiert werden mußte und weithin nur widerwillig und unter allerlei Reaktionserscheinungen sich interessieren ließ? Oder der Geistesmensch derselben Neuzeit, den seine Aufgeschlossenheit für den rapiden Fortschritt der Naturwissenschaft und Technik nicht nur nicht verhindert, sondern angetrieben hat, sich als Idealist oder Romantiker (mit oder ohne «christliche» Einflüsse, vielleicht auch unter Fruchtbarmachung neu entdeckter uralter asiatischer Weisheit) ein mehr oder weniger solides Gegengewicht oder doch eine «Insel der Seligen» in Gestalt ästhetischer Kultur und eines entsprechenden stoischen oder auch enthusiastischen Ethos zu verschaffen? Oder der tief mißvergnügte Mensch jener heimlich Verschworenen am Anfang unseres Jahrhunderts, die von Schopenhauer und Nietzsche, von Ibsen, Björnson und Strindberg (diesen merkwürdigen nordischen Nachfahren Kierkegaards!), von Tolstoi und Dostojewskij gelernt hatten, daß mehr oder weniger Alles wert sei zugrunde zu gehen, daß es wohl das Beste wäre – wüßte man nur wohin! – aus der Welt auszutreten wie aus einem Klub, an dessen Leistungen man keine Freude mehr haben kann. die wohl gelegentlich auch zum Neuen Testament griffen, um sich dort wenigstens in dieser Stimmung bestätigen zu lassen? Oder endlich wir selbst: die Väter und Söhne des Zeitalters der drohenden Überbevölkerung unserer alten Erde, ihrer Auspowerung durch offenkundigen Raubbau, des Erwachens Asiens und Afrikas – der Mensch des ersten, des zweiten und des befürchteten dritten Weltkriegs? Der Mensch, der nach so viel Individualismus, Kritik und Skepsis, von der er herkam, nichts Gescheiteres zu erfinden wußte, als das Leben im eingestandenen Freund-Feind-Verhältnis der Nationen, der Klassen, der Rassen, der weltwirtschaftlichen Ansprüche und Interessen? Der Mensch, der dann dieses unerfreuliche Verhältnis nicht besser zu korrigieren wußte als durch die Ideologie und Aufrichtung totalitärer Staaten und der wiederum aus dem geschwinden Zusammenbruch einer ersten Gestalt dieses Totalitarismus nicht mehr als das gelernt zu haben scheint, was nun im Entstehen und Wachstum zweier unter sich sehr ungleicher und darum rivalisierender, aber im Innersten tief zusammengehöriger neuer
-- 680 --
Totalitarismen sichtbar wird? Der Mensch, der augenblicklich im Existentialismus sein eigenes Gesicht zu erkennen meint und vorgibt, wobei es nur noch nicht ausgemacht ist, ob es das Gesicht seiner eigenen Scheusäligkeit oder das seiner eigenen Göttlichkeit oder schließlich doch wieder das milde und weise Menschengesicht nach dem Bilde eines zu erneuernden klassischen Humanismus sein soll? Oder auch der Mensch, der sich mit Hilfe einer verfeinerten Psychologie und Pädagogik gesund zu erhalten oder doch der Destruktion fernzuhalten oder doch am Rande des Wahnsinns zur Not festzuhalten versucht? Oder auch einfach: der innerlich und äußerlich entwurzelte, heimatlos gewordene, an Allem irregemachte und irregewordene Mensch, der heute in so vielen bekannten und noch mehr unbekannten Gestalten unser Mitmensch ist? Wobei auch die merkwürdige, aber nicht zu leugnende Tatsache nicht zu übersehen ist, daß eben dieser heutige Mensch dem Phänomen – wenn nicht des Evangeliums, so doch der das Evangelium angeblich oder wirklich verkündigenden Kirche, ihrer faktischen Macht (wie man diese auch deuten mag!) in einer Weise konfrontiert ist, sich wenigstens in Enttäuschung, Aufregung, Protest und Abwehr in einer Weise mit ihr auseinandersetzen muß, wie man es noch vor 40 Jahren bestimmt nicht hätte voraussehen können. In allen jenen vergangenen Phasen und Entfaltungen existierte und mitten in unserer Gegenwart existiert ja im Rahmen der großen Kirchen oder in allerlei Sondergemeinschaften oder als Einsiedler in den mannigfaltigsten positiven und negativen Verhältnissen zum jeweiligen Geist und Zug der Zeit mit mehr oder weniger Entschlossenheit und Glaubwürdigkeit auch der bewußt und aktiv christliche Mensch! Wir werden in den beiden letzten Paragraphen auf ihn im besonderen zu reden kommen: auf die in der Welt existierende Gemeinde, auf das in ihr lebende christliche Individuum als solches.
Wir fragen hier nach dem von Gott gerechtfertigten Menschen: nach dem Menschen, von dem das Alles gilt und zu sagen ist, was wir nun von dem über ihn ergehenden Gericht Gottes, von dem ihn angehenden und für ihn gültigen Freispruch gehört haben. Ist er, existiert er überhaupt? Hat er jemals existiert? wird er jemals existieren? Der Christ braucht wirklich nicht erst auf die Heiden, die Ungläubigen, die Indifferenten zu blicken, um zu dieser Frage gezwungen zu sein: Ist er selbst, ist denn der Christ der von Gott gerechtfertigte Mensch? Kennt er sich selbst als solchen, der wirklich von Röm. 7 her zu Röm. 8 hin unterwegs wäre und dem nun in dieser Ausrichtung, als Subjekt dieser Geschichte etwa der 23. Psalm aufrichtig aus dem Herzen und dann auch legitim über die Lippen käme?
Und es hätte auch keinen Sinn, die Frage: Wo, wer ist dieser Mensch? für eine erst gerade im Blick auf unsere Gegenwart, den Menschen und die Menschen von heute – wir nehmen uns als solche wahrscheinlich zu ernst! – brennend gewordene Frage zu halten. Wir würden ihn wohl auch, wenn wir uns in das Wittenberg oder Genf des 16. Jahrhunderts oder in die Straßen, Dome und Klöster des deutschen Mittelalters, oder in das Italien des Franz von Assisi oder in das so plötzlich christlich gewordene Reich Konstantins, in die Versammlungen der ältesten Christengemeinden oder sogar in die Katakomben zurückversetzen könnten, mit derselben Unsicherheit und Verlegenheit gesucht haben. Um von der Umwelt, in der das Licht der Christenheit nun schon so lange geleuchtet hat und noch leuchtet, gar nicht zu redenl
Die Geschichte des theoretischen Atheismus im Abendland, die Fritz Mauthner (1920 f.) in vier großen Bänden zu schreiben sich die Mühe genommen hat, zeigt jedenfalls (zusammen mit dem älteren Werk von H. Reuter «Geschichte der religiösen
-- 681 --
Aufklärung im Mittelalter» 1875), daß, was sich als theoretische Gottlosigkeit in der Neuzeit breit gemacht hat (heute übrigens schon wieder mit sehr viel geringerem Mut breit macht als noch vor einem halben Jahrhundert), doch nur das Aufbrechen desselben Denkens war, das in einer verborgeneren Schicht des europäischen Geistes schon durch alle die vorangegangenen angeblich christlichen Jahrhunderte – und das bis tief in die Blüte der angeblich christlichen Mystik hinein – kräftig genug gelebt hatte. Und was wird erst an den Tag kommen, wenn einmal eine Geschichte des praktischen Atheismus geschrieben werden wird: z. B. über das reale Verhältnis zwischen der generellen Religionsfeindschaft des heutigen Ostens und der Christlichkeit des heutigen Abendlandes diesseits und jenseits des Ozeans? Gerade im Blick auf den praktischen Atheismus alter und neuer Zeit springt die Frage: Wo, wer ist nun eigentlich der von Gott gerechtfertigte Mensch? unübersehbar in die Augen.
Was ist er nun eigentlich, gemessen an der Wirklichkeit des heutigen Menschen nicht nur, sondern der ganzen bisher sich darstellenden Menschenwelt, von der ja schwerlich zu erwarten steht, daß sie in Zukunft wesentlich anders aussehen werde als gestern und heute? Sollten wir hier die ganze Zeit von einer Idee geredet haben, ein bloßes Gedankengebilde ausgezeichnet oder eben: ein Märchen, einen Mythus, erzählt haben – den Mythus von des Menschen allenfalls denk- und vorstellbarer Wendung und Wandlung, von der Geschichte, als deren Subjekt er sich wohl gerne träumen würde, dem dann zwar an Tiefsinn und Schönheit nichts, nur eben, weil sich solches «nie und nirgends hat begeben», die Realität fehlen möchte, an dem man sich als an einer Illusion abwechselnd interessieren oder auch desinteressieren, freuen oder auch ärgern könnte? Wir halten nicht dafür, daß der von Gott gerechtfertigte Mensch Idee, Gedankengebilde, Mythus, Illusion ist. Wir meinen seine Realität zu erkennen und bekennen zu sollen. Wir werden uns aber, wenn das kein bloßes Meinen sein soll, dem gegenüber auch wir selbst wieder anderer Meinung werden könnten, genaue Rechenschaft darüber ablegen müssen, auf welchen Grund wir uns dabei stellen sollen.
Die Anfechtung hinsichtlich der Existenz oder Nicht-Existenz des von Gott gerechtfertigten Menschen ist nämlich nicht gering. Und sie würde sich da sofort potenzieren und tödlich werden, wo sie etwa nicht bemerkt würde. Sie besteht in ihrer harmloseren, im Vordergrund immerhin wohl zu beachtenden Gestalt darin, daß die Existenz dieses Menschen auf dem ganzen Feld der Welt- und Kirchengeschichte tatsächlich überall, und zwar sehr ernsthaft in Frage gestellt ist. Es spricht leider im Blick auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart doch nicht wenig, sondern sehr viel für die ärgerliche Vermutung, wir möchten es in ihrer Behauptung mit einer Ideen- oder Mythenbildung und also mit einer Illusion zu tun haben.
Wer sie zu bestreiten unternimmt, wird einmal Sorge tragen müssen, daß seine Argumentation nicht etwa ungewollt und umso wuchtiger auf
-- 682 --
ihre Bestätigung hinauslaufe. Das würde dann notwendig geschehen, wenn Einer die Existenz jenes Menschen nun doch in irgend eine Transzendenz verlegen, ihn doch nur als eine Art intellektuales Leitbild ausgeben und beschreiben, auf die Behauptung und den Nachweis seines wirklichen Seins also heimlich verzichten würde. Was würde das Anderes bedeuten, als daß er nicht nur jene Infragestellung seinerseits bejahte, sondern offenbar als selbstverständlich unterstellte, daß hier nur mit einer einfachen Negation des Gefragten geantwortet werden könne? Und was würde er damit Anderes tun, als daß er die ganze Rechtfertigungslehre – man bedenke: die ganze Antwort auf die Frage nach dem dem Menschen gnädigen Gott! – zum Gegenstand einer mit irgendwelcher religiöser, denkerischer und poetischer Kraft in die Luft gebauten Hypothese machte? Wir werden uns schon darüber klar sein müssen: haben wir es in der Rechtfertigungslehre nicht mit einer solchen Hypothese, sondern mit einer begründeten Antwort auf jene Frage zu tun, dann kann es bei jener Infragestellung des gerechtfertigten Menschen nicht sein Bewenden haben, dann muß diese durchbrochen, dann muß mit ihr auch jene einfache Negation und also jene ärgerliche Vermutung gänzlich hinweggefegt werden.
Aber nun kommt die eigentliche, die große Anfechtung gar nicht von jener Infragestellung her. Sie ergibt sich vielmehr gerade aus der Natur des Selbstbeweises des von Gott gerechtfertigten Menschen, durch den jene Infragestellung faktisch schon durchbrochen, jene Vermutung schon hinweggefegt ist. Es geht tatsächlich um seinen Selbstbeweis. Er hat tatsächlich die Macht dazu, und er führt ihn tatsächlich. Das bedeutet aber: Wer ihn bejaht, wer sich auf seinen Boden stellt, wer angesichts der ganzen Welt- und Kirchengeschichte mit Einschluß der Gegenwart und seiner eigenen Lebensgeschichte mit der Existenz dieses Menschen rechnet und auch Anderen gegenüber ruhig und offen zu rechnen wagt, der muß zum vornherein und grundsätzlich darauf verzichtet haben, sich seiner selbst versichern, ihn selbst beweisen zu wollen, sich selbst als den Mann auszugeben und darzustellen, der jene Infragestellung durchbricht, jene Vermutung hinwegfegt. Er muß sich darüber klar sein und muß dazu stehen, daß er über die Realität und Existenz und über die Offenbarung dieses Menschen nicht verfügt, daß er nicht in der Lage ist, ihn auf den Plan zu führen oder auch nur mit dem kleinen Finger aufzuzeigen – nicht in der Lage, als sein Advokat aufzutreten, der für ihn argumentieren und fechten könnte. Er wird wissen müssen, daß er seine Sache, die der ganzen Rechtfertigungslehre damit – genau so wie der Andere, der die Existenz dieses Menschen in die Transzendenz verlegt und sogar noch schlimmer als dieser! – nur verraten und verderben könnte, wenn er sich hier auch nur im Geringsten als Besitzer, Herr und Meister ausgeben und benehmen würde. Er wird jeden Anspruch, in dieser Sache selbst etwas leisten zu
-- 683 --
können, fallen lassen müssen. Er wird in keinem Sinn auf Wirkung und Erfolg aus sein und warten dürfen. Warum nicht? Nicht etwa, weil die historische Frage, das Problem der Erfahrung, dem er konfrontiert ist, so schrecklich schwer, die Infragestellung des gerechtfertigten Menschen durch das, was wir vom Menschen sonst wissen, so ernsthaft, die ärgerliche Vermutung von wegen Mythus und dergleichen so schwer zu beseitigen ist. Das sind lauter Kindereien gegenüber dem, daß das, bzw. der, der hier zu erkennen und zu bekennen ist, von sich aus und als solcher, seiner souveränen Natur gemäß, gerade nur in Beantwortung und auf Grund seines Selbstbeweises erkannt und bekannt werden will und kann, daß gerade er keine Advokaten zuläßt und denen, die als solche auftreten möchten, alle Argumente aus den Händen schlägt. Das ist die große Anfechtung von der Sache selbst her, der man hier ins Gesicht sehen muß, weil man in ihr bestimmt erliegt, wenn man sie nicht sehen und erkennen will – aber auch auf die Gefahr hin, daß man sich ihr, indem man sie sieht und erkennt, durchaus nicht gewachsen finden wird. Sie besteht darin, daß man mit der Existenz des gerechtfertigten Menschen, gerade indem sie sich selbst so souverän als real beweist, behauptet, durchsetzt, gerade indem sie realer ist als alle Menschenbilder der ganzen Welt- und Kirchengeschichte, nicht umgehen, sich ihrer nicht bemächtigen, sich ihrer nicht bedienen, sie nicht gebrauchen, mit ihr nichts anfangen, daß man gerade nur (sich selbst ein Rätsel und ein Wunder!) in tiefster Anspruchslosigkeit und Dankbarkeit um sie wissen und wieder nur in derselben tiefsten Anspruchslosigkeit und Dankbarkeit ihr Zeuge sein kann: darum eben unter Verzicht auf jede Advokatur seiner Sache. Jawohl: dann und so in schlechthin unbedingter und fröhlicher Gewißheit. Aber dann und nurdann! Sonst nämlich gar nicht. Sollten wir uns nämlich nicht dahin – ganz unten hin! – stellen wollen, sollte es uns zu gering sein, in dieser Sache bloß demütig Wissende, bloß demütige Zeugen zu sein, wären wir der Meinung, daß es hier doch noch einen besseren – einen am bloßen Selbstbeweis des hier zu Beweisenden vorbeiführenden – Weg geben müsse, sollten wir das Ausschauen nach einem solchen nicht unterlassen können, dann würden wir ja damit nur beweisen, daß wir das bzw. den hier zu Beweisenden selbst noch gar nicht gesichtet haben, zum Mitreden an dieser Sache noch gar nicht qualifiziert sind. Mehr noch: wir würden damit den hier allein möglichen und wirksamen Beweis – den Selbstbeweis des von Gott gerechtfertigten Menschen – kompromittieren, weil in unserer eigenen Person als unglaubwürdig, als unkräftig hinstellen. Aber eben: wer wollte sich dorthin begeben? wer sich damit abfinden, daß das unsere Situation bei der Frage nach jenem Menschen ist? wer würde dieser Situation nicht irgendwie auszuweichen und zu entkommen suchen? Es liegt so unendlich nahe, sie als unmöglich zu empfinden und sich demgemäß zu verhalten. Das ist
-- 684 --
die große Anfechtung: daß das Erkennen und Bekennen der Realität des gerechtfertigten Menschen anders als gegen Bezahlung dieses Preises, d. h. anders als unter Rücktritt von allem Anspruch eigenen menschlichen Behauptens nicht möglich – oder eben nur in eitlen, hohlen, unnützen Surrogaten möglich ist, und daß sich das Bezahlen dieses Preises wirklich nicht von selbst versteht. Warum eigentlich nicht? Darum nicht, weil es sich ja eben nicht von selbst versteht, daß irgend Jemand das hat, was da zu bezahlen ist, daß irgend Jemand sich dahinstellen kann, wohin er treten müßte, um zum Mitreden in dieser Sache, zum Zeugen des von Gott gerechtfertigten Menschen qualifiziert zu sein. Niemand ist es von Haus aus, niemand etwa auf Grund seiner religiösen Veranlagung, niemand, weil und indem er in und von irgend einer bestimmten kulturellen oder kirchlichen Überlieferung, von ihren Anregungen und Kräften lebt, niemand von irgend einem Sakramentsempfang her, niemand, weil er ein Genie oder weil er ein braver Mann oder weil er ein – vielleicht sogar im Glauben! – getaufter, ein bekehrter oder sonstwie leidlich guter Christ ist: niemand! Und das ist natürlich die große Versuchung in der großen Anfechtung: sich dabei zu bescheiden, das könne man nicht, und also die Hände in den Schoß zu legen, von dem, was hier zu tun wäre, abzustehen – als ob das Können, das hier in Frage kommt, nicht jeden Augenblick jedermanns Können werden könnte! In der Tat: Das Können, das hier in Frage kommt, ist wohl ein echt und konkret menschliches Können, aber daß ein Mensch es hat, das kann sich nur erweisen, indem er davon Gebrauch macht, und wenn er das tut, dann erweist es sich als ein Können, das er keineswegs als Voraussetzung, in Gestalt eines eigenen Vermögens irgendwelcher Art mitgebracht und in die Tat umgesetzt hat. Er ist dann vielmehr gerade nur faktisch der Mann, der das tut und also offenbar auch kann. Er steht dann an einem neuen Anfang, den er nicht gemacht hat, sondern der mit ihm gemacht ist. Und wann immer er dasselbe wieder tun und also können sollte, wird es in solcher Voraussetzungslosigkeit geschehen, wird es ein solcher neuer Anfang sein. Und das wird das Wesen jedes solchen neuen Anfangs sein: der Beweis, in welchem der von Gott gerechtfertigte Mensch sich selber als real und existent erweist. Wer so und daraufhin um ihn weiß, so und dadurch zu seinem Zeugen gemacht wird, der wird sich ganz von selbst an den Ort gestellt finden, wo er als solcher hingehört: zu dem Tun der Demut aufgefordert, fähig und willig gemacht, das dieser Erkenntnis und diesem Bekenntnis angemessen ist. Keiner wird sich diese Einweisung in die Demut und also die Eignung zu diesem Tun schaffen oder nehmen oder als seinen eigenen Besitz erhalten können. Wiederum ist Keiner, der sie, indem der gerechtfertigte Mensch sich selbst offenbart und beweist, indem er sich an seine Realität und Existenz hält, nach ihr sich richtet, nicht sofort haben und betätigen könnte: in der Entdeckung und im Geschenk dieser Begegnung, in der
-- 685 --
Willigkeit des Dankes, zu dem er sich in dieser Begegnung bestimmt aufgerufen finden wird.
Wir reden von dem, was in der echt und konkret menschlichen Situation des Glaubens Ereignis wird. Der Glaube kann, was hier zu können ist, und was noch niemand von Haus, von sich selbst aus, kann. Im Glauben durchschreitet der Mensch die große Anfechtung, die darin besteht, daß er sich selbst niemals geeignet finden wird, dem souveränen Selbstbeweis des gerechtfertigten Menschen Genüge zu tun – nicht zu reden von der kleinen Anfechtung, die ihm durch dessen historische Infragestellung, durch die Sorge, ob er nicht Mythus und Illusion sein möchte, bereitet ist: er wird sich, durch jene erste verschlossene Türe hindurchgegangen, durch diese zweite keinen Moment mehr aufgehalten finden. Im Glauben hat er den Preis der Demut, der hier zu bezahlen ist, und bezahlt er ihn auch. Der Glaube ist selbst schon die schlechthin demütige, aber auch schlechthin positive Antwort auf die Frage nach der Realität und Existenz des von Gott gerechtfertigten Menschen, auf die Frage: wer und wo dieser Mensch nun eigentlich sein möchte? Wer glauben darf und wirklich glaubt, der kennt diesen Menschen sehr wohl, der wird sich auch zu ihm und also zu Gottes Gericht und Freispruch, zu der Wirklichkeitjener Geschichte, jenes Übergangs des Menschen aus seinem Gestern in sein Heute, bekennen. Für seine eigene Person? Gewiß, das auch, aber für seine eigene Person in ihrer Solidarität mit allen anderen Menschen und also virtuell und prospektiv auch für sie: weil und indem er ihn in seiner eigenen Person erkennen und bekennen darf, darum auch im Rätselbild des Menschen aller Zeiten und Zonen, darum seine unendlich viel größere Realität gegenüber den ihm so widersprechenden anderen Menschenbildern. Er wird ja doch sein eigenes Sein im Widerspruch gegen seine Realität und also das Rätselbild seiner eigenen Person nicht für geringer, sondern für noch viel bedenklicher halten als alle Bedenklichkeiten, die ihm in der übrigen Welt- und Kirchengeschichte der Vergangenheit und der Gegenwart begegnen mögen. Ist sein Glaube die Hinwegnahme dessen, was ihn selbst von dem von Gott gerechtfertigten Menschen trennt, wie sollte er dann im Blick auf die Anderen versagen, wie sollte er dann nicht virtuell und prospektiv auch Glaube für diese Anderen sein – auch wenn er die Realität und Existenz des von Gott gerechtfertigten Menschen dort noch so sehr in Frage gestellt sähe, auch wenn er sich im Blick auf sie zu jener ärgerlichen Vermutung noch so versucht fühlte. Der Glaube durchbricht jene Infragestellung und diese Vermutung grundsätzlich und darum auf der ganzen Linie.
Wir sind jetzt so weit, daß wir das große Wort und den in der Theologie so berühmt gewordenen Begriff in unsere Überlegung aufnehmen
-- 686 --
können und müssen, den wir bis jetzt wohlweislich ausgespart und zurückgestellt haben: des sündigen Menschen Rechtfertigung als seine Rechtfertigung allein durch den Glauben.
Die Verbindung der Worte δικαιοσύνη und πίστις ist bekanntlich ein besonderes Element der Theologie des Paulus. Er hat von δικαιοσύνη πίστεως ( Röm. 4, 13) oder τῆς πίστεως ( Röm. 4, 11) geredet, von δικ. ἐκ πίστεως ( Röm. 9, 30; 10, 6) und Phil. 3, 9 von δικ. διὰ πίστεως und ἐπὶ τῇ πίστει. Alle diese Verbindungen bezeichnen bei Paulus den Ort, wo, – die Art, wie – das menschliche Verhalten, in dem das in Gottes Gericht und Urteil sich vollziehende Heilshandeln, sein δικαιοῦν , die δικαιοσύνη θεοῦ in ihrer Wirklichkeit erkannt, aufgenommen, begriffen, auf Seiten des Menschen «realisiert» wird. Die Verbindung δικ. διὰ τὴν πίστιν kommt nicht vor. Damit dürften alle diejenigen späteren Konzeptionen, die dem Glauben des Menschen ein Verdienst zur Erlangung seiner Rechtfertigung oder eine Mitwirkung bei deren Vollzug zuschreiben, oder die ihn, seine Entstehung, seine Bewährung, sein inneres oder äußeres Werk wohl gar mit der Rechtfertigung identifizieren wollten, biblisch-theologisch in der Wurzel abgeschnitten sein. Des sündigen Menschen Freispruch im Gericht ist Gottes Werk, sein δικαιοῦν , seine δικαιοσύνη . Paulus hat diese von aller vermeintlichen und angeblichen δικ. ἐκ νόμου oder ἐν νόμῳ oder ἐξ ἔργων, von aller ἰδία δικ. ( Röm. 10, 3) oder ἐμὴ δικ. ( Phil. 3, 9), d. h. aber von aller Rechtfertigung des Menschen durch sein eigenes Verhalten und Tun nicht dazu so scharf abgegrenzt, um als das wahre Mittel zur Beschaffung des menschlichen Rechtes nun eben dieses andere menschliche Verhalten und Tun, das Werk des Glaubens, zu empfehlen. Eben als menschliches Verhalten und Tun steht der Glaube dem als δικαιοῦν beschriebenen Verhalten und Tun Gottes gegenüber, ohne es zu konkurrenzieren oder vorzubereiten oder es zu antizipieren und ohne ihm nachzuhelfen, geschweige denn, um mit ihm eins und dasselbe zu sein. Daß auch es nur auf Grund eines Werkes und Geschenkes Gottes Ereignis wird, hat Paulus, soweit ich sehe – die Stelle 1. Kor. 12, 9, wo πίστις als eines von den Charismen des Heiligen Geistes bezeichnet wird, dürfte nicht hieher gehören – nirgends explizit gesagt: offenbar gerade darum nicht, weil das für ihn selbstverständlichste Voraussetzung war. Es ist und bleibt aber das Werk des Glaubens, auch in seiner Begründung im Werk und Geschenk Gottes, ein menschliches Werk, das an des Menschen Rechtfertigung nur eben den Anteil hat, daß es und es allein – das allerdings ist im Sinn des Paulus mit aller Bestimmtheit zu sagen – das seiner göttlichen Rechtfertigung faktisch angemessene, das ihr auf Seiten des Menschen faktisch entsprechende Werk ist. Aber auch das nicht wegen seines inneren Wertes, wegen seiner besonderen Tugendhaftigkeit etwa oder wegen einer besonderen ihm eigenen Kraft, sondern deshalb, weil Gott es als das seinem Werk angemessene menschliche Werk gelten läßt, weil es dem Menschen nach dem aus Gen. 15, 6 übernommenen Ausdruck ( Gal. 3, 6, Röm. 4, 3 f.) von Gott als δικαιοσύνη, als gerechtes, d. h. eben seiner Gerechtigkeit entsprechendes menschliches Werk «angerechnet» wird (ἐλογίσθη ). Gott anerkennt – nicht daß der Mensch in diesem Tun eine Bedingung erfüllt, eine Vorleistung vollzogen hat, die ihn seines Freispruchs würdig machen würde, sondern daß sein Freispruch faktisch in diesem und nur in diesem Tun des Menschen zu seinem Rechte, in ihm aber zu seinem vollen Rechte kommt. Gott anerkennt, daß sein Werk und Wort vom Menschen so und nur so, so aber ernstlich und gänzlich, vernommen, «realisiert» wird, daß sein eigenes Tun in diesem Tun des Menschen, zu dem er ihn erweckt und aufruft, sein Gegenbild, seine Analogie hat – das eine Wort πίστις kann ja nach Röm. 3, 3 das Tun Gottes wie dieses ihm analoge Tun des Menschen bezeichnen! Gott anerkennt, daß er in dem in diesem Tun begriffenen Menschen dem seiner Treue «treu», authentisch, sachgemäß antwortenden Menschen begegnet: daß er den Menschen, der das tut, der glaubt, zum Hörer seines Freispruchs und damit zu dessen Zeugen geeignet findet. Es ist das Wohlgefallen Gottes, das dieses menschliche Tun vor allem sonstigen auszeichnet. Eben damit ist es nun
-- 687 --
freilich auch radikal vor allem seinem sonstigen Tun ausgezeichnet. Es ist Abrahams Erwählung und Berufung, die darin sichtbar wird, daß er glaubt und daß ihm sein Glaube als Gerechtigkeit «angerechnet» wird. So Paulus.
Eben als «Lehre von der Rechtfertigung (allein!) durch den Glauben» ist diese paulinische Konzeption im Reformationsjahrhundert neu entdeckt, offensiv und defensiv vertreten, schon damals hüben und drüben und in der Mitte in der mannigfaltigsten Weise verstanden oder auch mißverstanden und schließlich zu einer der wichtigsten (in der lutherischen Kirche zu der wichtigsten von allen) Lehrgrundlagen des evangelischen Christentums geworden. Wir haben im Bisherigen unsere ganze Aufmerksamkeit auf den «objektiven» Gehalt der Rechtfertigungslehre gerichtet. Es ist nun aber an der Zeit, daß wir uns auch dieser ihrer damals so wichtig gewordenen «subjektiven» Seite zuwenden.
«Rechtfertigung durch den Glauben» kann jedenfalls nicht heißen, daß der Mensch, indem er statt seiner gewohnten bösen und an Stelle von allerhand vermeintlich guten Werken dieses, das Werk des Glaubens, wählt und vollbringt, sich selber freispräche und also rechtfertigte. Das kann des Menschen Glaube, so gewiß er eben sein, des sündigen Menschen Tun ist, nicht leisten: gleichviel, ob unter Glauben sein bloßes Kennen und intellektuelles Verstehen von Gottes Werk, Gericht, Offenbarung, Freispruch (eine notitia) oder eine denk- und willensmäßige Zustimmung dazu, sein Fürwahrhalten dessen, was ihm als Wahrheit dieses Werkes Gottes verkündigt wird (ein assensus) oder endlich sein herzliches Vertrauen auf die Bedeutsamkeit dieses Werkes gerade für ihn (eine fiducia) verstanden werde. In dem und mit dem allem rechtfertigt er sich nicht, spricht er sich nicht frei, versetzt er sich nicht in jenen Übergang vom Unrecht ins Recht, vom Tode zum Leben, macht er sich nicht zum Subjekt jener Geschichte, seiner Heilsgeschichte. Es hat darum immer etwas Mißliches und Irreführendes, wenn man den Glauben des Menschen im Unterschied zu seinem Weg in den bösen Werken seines Unglaubens als seinen «Heilsweg» oder im Unterschied zu seinem Weg in den vermeintlich guten Werken seines Irrglaubens und Aberglaubens als seinen «wahren» Heilsweg bezeichnet. Der Glaube ist keine Alternative zu diesen anderen Wegen: nicht der Weg, den der Mensch – wieder einmal Herkules am Scheidewege! – ebenso gut wählen und einschlagen könnte, und in Anwendung desselben Vermögens, kraft dessen er auch dahin oder dorthin gehen könnte, allenfalls wählen und einschlagen würde. Er ist ja auch im Tun seines Glaubens der sündige Mensch, der sich selbst zu rechtfertigen als solcher nicht in der Lage ist, der sich mit jedem Versuch, sich selbst zu rechtfertigen, nur tiefer und tiefer in seine Sünde verwickeln kann. Er bestätigt und wiederholt doch auch in diesem Tun, sofern es eben – und das muß es ja sein! – das seinige ist, auch wenn er durch Gottes Werk (anders wird er es ja bestimmt nicht tun!) dazu erweckt und aufgerufen ist, gerade dies zu wollen und zu vollbringen – er bestätigt und wiederholt auch in seinem Glauben sich selbst. Er kann sich auch als Glaubender Gott nur darstellen als der, der er von seiner Vergangenheit her ist, nur
-- 688 --
mit der Bitte: «Gott sei mir Sünder gnädig!» Ist sein Glaube seine Rechtfertigung, sein Freispruch, darf er im Glauben in seiner eigenen Person den von Gott gerechtfertigten Menschen und darf er, weil in seiner Person, darum diesen gerechtfertigten Menschen als das göttliche Gnadengeheimnis der Existenz auch aller seiner Mitmenschen erkennen, so verdankt er dies nicht dem, was er als glaubender Mensch ist, fühlt, denkt, sagt und tut. Darin ist er vielmehr so wenig gerechtfertigt wie in seinen sonstigen bösen und guten Werken, darin ist er der Rechtfertigung so bedürftig, wie er es sonst, wie er es in der Totalität seines Daseins ist. Im Blick darauf – sich selbst als Glaubenden im Spiegel betrachtend – wird er sich also auch nicht als gerechtfertigt erkennen, seiner Rechtfertigung, des Menschen Rechtfertigung überhaupt und als solcher nicht gewiß werden können. Darin wird er seiner Übertretung, Not und Schande nicht weniger gewahr sein müssen als in seinen übrigen Zuständen und Vollbringungen. Es wird ihn auch das Spiegelbild seiner selbst als glaubender Mensch – sofern er überhaupt Zeit und Lust hat, sich mit diesem Spiegelbild zu beschäftigen – nur zu der anderen Bitte anregen und treiben können: «Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!» ( Mr. 9, 24). Es gibt einen «Ruhm» des Menschen auf Grund seines Glaubens so wenig wie auf Grund seiner Werke. Denn es gibt eine Rechtfertigung des Menschen «durch» – nämlich durch das von ihm auf den Plan geführte Mittel des von ihm aufgebrachten Glaubens, durch sein Begehen des Glaubensweges, durch seinen Vollzug von Glaubensempfindungen, Glaubensgedanken, Glaubenstaten, durch sein ganzes Glaubensbewußtsein und Glaubensleben ebenso wenig wie eine Rechtfertigung «durch» seine sonstigen Werke. Der Glaube ist alles Andere als die höchste, die «wahre», die endlich erfolgreiche Form seiner Selbstrechtfertigung. Wollte er das sein, wollte und würde der Mensch in dieser Meinung und Absicht, mit diesem Anspruch glauben, dann würde sein Glaube – auch wenn er gar kein «toter», sondern der herzlichste und überdies in der Liebe tätigste Fiduzialglaube wäre – vielmehr die höchste, die eigentlichste Form seiner Sünde in Gestalt seines Hochmuts sein. Einen Glauben, in welchem ein Mensch sich selbst freisprechen, rechtfertigen zu können und zu sollen meint, gegen das Gerechtigkeitsstreben anderer Menschen in Form von allerlei Gesetzestreue und guten Werken auszuspielen, wäre nicht nur Unsinn, sondern das Unternehmen und Gehaben des Pharisäismus, der unter allen Pharisäismen der übelste ist: des Pharisäismus des Zöllners. Ihm gegenüber möchte es dann wohl geschehen, daß der erste beste brave Werkmann, Pietist oder Aktivist christlicher oder auch säkularer Farbe, gerechtfertigt hinabginge in sein Haus: gerechtfertigt nicht durch seine Werkelei, wohl aber vielleicht dadurch, daß – wer will denn das wissen? – hinter seinem ganzen Werkeln nun doch in irgend einer verborgenen Gestalt der wirkliche Glaube stehen könnte, der dem in seiner
-- 689 --
ganzen Glaubensgerechtigkeit doch nur sich selbst Rechtfertigenden bestimmt gänzlich abgeht. Ist das, dessen ein Christ sich rühmen darf und soll, seine wirkliche Glaubensgerechtigkeit, dann muß gerade er es besser wissen, dann darf und kann er sie nicht für seine eigene halten, dann darf und kann. er sich gerade als der durch den Glauben Gerechte auf keinen Fall auf dem Weg der Selbstgerechtigkeit, sondern nur auf dem Weg des wirklichen Zöllners betreffen lassen.
In dieser Abgrenzung ist unter den Reformatoren besonders Calvin unerbittlich scharf gewesen: Der Glaube als solcher könne zu unserer Rechtfertigung einfach nichts beitragen: nihil afferens nostrum ad conciliandam Dei gratiam (Inst. III, 13, 5). Er sei kein habitus und keine dem Menschen eingegossene Gnadenqualität (zu Gal. 3, 6 CR 50, 205). La foi ne justifie pas entant que c'est une æuvre que nous faisons. Glauben wir, so kommen wir ganz leer (vuides) zu Gott, non pas en apportant aucune dignité ni mérite à Dieu. Gott müsse dann die Augen schließen gerade vor der Schwachheit unseres Glaubens und tue das auch. Er rechtfertige uns nicht pour quelque excellence qu‚elle ait en soy, sondern: tellement que d'autant qu‚elle défaut; gerade nur kraft dessen, was ihm als einem menschlichen Werk fehle, rechtfertige er den Menschen! (Pred. üb. Gen. 15 CR 23, 723 f.). Eben darum hätte es auch keinen Sinn, nach der Vollkommenheit unseres Glaubens zu fragen. Ausleger, die das ἐλογίσθη von Gen. 15, 6 dahin verstanden: Abram a esté reputé preud'-homme et que c‚a esté une vertu à luy de croire à Dieu bekommen von Calvin frank und frei zu hören: ces chiens-là nous doivent bien estre abominables. Car voilà les blasphèmes les plus énormes que Satan puisse dégorger (ib. 688). Wie wenn es nichts Schlimmeres gäbe als diese Verwechslung! Es konnte tatsächlich nach dem reformatorischen Neuverständnis der paulinischen «Rechtfertigung durch den Glauben» nichts Schlimmeres geben als gerade diese Verwechslung! Es ist ja klar: sollte der Glaube eine Tugend, Kraft und Leistung des Menschen sein und sollte er als solche als der Heilsweg bezeichnet werden, dann war dem antinomistischen, dem libertinistischen Mißverständnis, d. h. der vermeintlich erlaubten und gebotenen Dispensierung des Menschen von allen anderen Werken Tür und Tor geöffnet, dann war aber auch der römischen Kritik der Einwand nur zu leicht gemacht: daß es sich in dem reformatorischen sola fide offenbar um eine tolle Überschätzung nun gerade dieser einen menschlichen Tugend, Kraft und Leistung zuungunsten aller anderen handle. Und wir haben bis heute allen Anlaß, von dieser Mißdeutung, an der die paulinische Vorlage nun wirklich keine Schuld trägt, aufs Bestimmteste Abstand zu nehmen.
Was aber ist der Glaube? Was heißt Glauben als dasjenige menschliche Tun, das der Treue Gottes treue, authentische, sachgemäße Antwort gibt, das der Realität und Existenz des durch Gottes Freispruch geschaffenen gerechtfertigten Menschen gerecht wird, das in dieser seiner Angemessenheit diesem Gegenstand gegenüber Gottes Wohlgefallen findet, von ihm als Recht anerkannt, beurteilt und angenommen wird, in welchem also die Erkenntnis der Rechtfertigung ein echt und konkret menschliches Ereignis wird? Schicken wir gleich voraus: es ist vom Glauben noch mehr zu sagen als dies, daß der Mensch in ihm und durch ihn zu seiner Rechtfertigung, zur Rechtfertigung überhaupt und als solcher kommt, d. h. ihrer, ihres Geschehens als Gottes Werk gewahr und gewiß wird: ihrer Geltung für seine Person, pro me, aber für seine mit allen seinen Mitmenschen solidarische Person, so auch für diese, pro nobis.
-- 690 --
Der Glaube ist ja, unter einem besonderen Aspekt gesehen, das Leben der christlichen Gemeinde und das individuelle christliche Leben inmitten der Welt und der Menschheit in seiner Ganzheit. Die Frage nach der Rechtfertigung des sündigen Menschen, nach der Herstellung seines Friedens mit Gott ist aber nur eines von den Problemen des christlichen Lebens. Und so hat der Glaube noch andere Dimensionen als die in seiner Beziehung zu des Menschen Rechtfertigung, noch andere Formen als die, in der er die Erkenntnis, das Ergreifen, das «Realisieren» des dem Menschen in Gottes Gericht und Urteil zugesprochenen neuen Rechtes ist. Er hat hier sein Zentrum. Er ist hier als Glaube in seinem Eigentlichen. Dieses Zentrum hat aber auch einen Umkreis. Wir werden im letzten Paragraphen dieses ersten Teils der Versöhnungslehre darauf zurückkommen: wir fragen aber hier nach seiner Beziehung zu des Menschen Rechtfertigung – kurz und etwas mißverständlich ausgedrückt: nach seinem Charakter als «rechtfertigender Glaube».
Und nun ist es gar nicht zu vermeiden, daß wir, um auf diese Frage Antwort zu bekommen, auf der kritischen Linie, von deren Andeutung wir eben herkommen, noch einige Schritte weitergehen müssen. Wenn «Entmythologisierung» irgendwo nötig und geboten ist, dann gerade an dieser Stelle! Wir hatten zunächst, um ein Grundmißverständnis gleich a limine zu beseitigen, die Vorstellung abzuwehren, daß der Glaube vermöge irgend einer inneren Qualität dessen, was der glaubende Mensch tut, das wahre Mittel sein möchte, durch dessen Anwendung der Mensch sich selber rechtfertigen, den göttlichen Freispruch zu seinem eigenen Spruch machen könnte. Gerade um das Wesen des Glaubens, in welchem der Mensch zur Rechtfertigung kommt, zu erfassen, ist es zunächst nötig, den prinzipiellen Sinn dieser Abwehr zu entfalten.
Der Glaube ist ganz und gar Demut, haben wir bereits gesagt. Negativ ausgedrückt: im Glauben geschieht es, daß des Menschen Bejahung und Gutheißung seines Hochmuts, sein Wohlsein in ihm, ganz und gar in Wegfall kommt. Nicht daß er sich im Glauben endlich bessern würde! Es ist ja der sündige, es ist also schon der hochmütige Mensch, der glaubt. Nur daß er eben, indem er glaubt, mit seinem Hochmut, mit sich selbst als dem hochmütigen Menschen, der er ist, nichts mehr anzufangen weiß. Er hat für sich selbst in dieser Bestimmung keine Verwendung mehr. Also auch nicht – das zuerst und zuletzt nicht! – für irgend einen Glaubenshochmut! Der Glaube ist des selbstherrlichen Menschen Resignation seiner Selbstherrlichkeit gegenüber. Sagen wir ja nicht: seine Befreiung von ihr, ihre Überwindung und Beseitigung! Das wäre ja des selbstherrlichen Menschen höchster Triumph, wenn er über seine Selbstherrlichkeit einfach verfügen, sie jetzt betätigen, jetzt plötzlich oder allmählich von sich abschütteln könnte wie den Schnee, der auf seinen Hut gefallen ist. Das
-- 691 --
wäre ja eben der neue Hochmut, in welchem der Mensch nur beweisen würde, daß er zu glauben noch gar nicht begonnen hat. Nein, es geht schon auch im Glaubenden um den gar sehr selbstherrlichen Menschen. Nur daß er eben an seiner Selbstherrlichkeit – indem er sie noch und noch betätigt! – den Verleider, und zwar den gründlichen und gänzlichen Verleider bekommen hat. Nur daß er sich eben in dem, was er als selbstherrlicher Mensch tut, schlechterdings nicht mehr gefallen kann, an sich selbst als diesem Menschen verzweifelt ist. Er erwartet nichts mehr von dem, was er als solcher tut. Er sieht die Verkehrtheit seines auf der ganzen Linie hochmütigen Tuns, er sieht, daß er das, was er sich bei diesem seinem Tun fort und fort verspricht, nicht erreichen wird. Er sieht, was er sich damit einbrockt: daß am Ende aller seiner selbstherrlichen Wege – der selbstherrlichen Wege aller Menschen – die Enttäuschung wartet, die Lächerlichkeit, die Niederlage, die Sinnlosigkeit, mehr noch: der Unsinn und Widersinn, die Zerstörung, das Nichtige, der Tod. Er täuscht sich nicht darüber, daß er faktisch immer wieder, in immer neuen offenen und versteckten Windungen – diese Wege geht. Nur daß er sie und sich selbst als den, der sie geht, nicht mehr bejahen, nicht mehr gutheißen kann. Daß er glaubt, bedeutet für ihn – man muß es schon so sagen: er ist ein geknickter Sünder, konkret: ein gedemütigter Hochmütiger geworden – ein Hochmütiger, der der Grenzen seines Hochmuts und eben damit der Grenzen seines ganzen Seins und Tuns, seiner eigenen Grenzen mit schrecklicher Gewißheit gewahr geworden, der genötigt ist, zu seinem Hochmut, damit zu seinem ganzen Sein und Tun und damit zu sich selbst Nein zu sagen. Es ist ein Nein, das er selbst nicht vollziehen, d. h. nicht in die Tat umsetzen kann und auch nicht vollziehen wollen wird – wie wäre er sonst an sich selbst verzweifelt? eben damit würde er sich selbst ja aufs Neue für unbegrenzt halten! – das zu sagen er aber auch nicht vermeiden kann, mit dem er nun eben einfach als der, der er innerhalb seiner Grenzen ist, leben, sich selbst gegenüber standhalten muß. Das ist, allgemein und noch etwas formal beschrieben, das kritische Werk des Glaubens. Es ist klar, daß der Mensch, der es tut, sich selbst gegenüber auch im Blick auf dieses Tun nicht unkritisch werden und also als Glaubender nur – sei es denn: angesichts seines Hochmuts – demütig auch von diesem seinem Werk selbst und als solchem denken kann.
Der Glaube ist ja keine selbsterwählte Demut wie die der kolossischen Irrlehrer ( Kol. 2, 23). Er ist also nicht die Demut des Pessimismus, der Skepsis, des Defaitismus, der Misanthropie, des Welt-, Selbst- und Lebensüberdrusses. Das sind ja lauter Möglichkeiten, die der Mensch durchaus selbst wählen kann und faktisch auch gar nicht selten wählt. Die Demut des Glaubens ist mit ihnen nicht zu verwechseln. Sie unterscheidet sich von jenen dadurch, daß man sich ihr nicht überlassen oder auch nicht überlassen, sich gegen sie ermannen, sich ihnen gegenüber gut zureden
-- 692 --
lassen, sich mit oder ohne Hilfe kluger Psychologie auch wieder von ihnen befreien oder eben ihnen ihren Lauf lassen kann. Sie unterscheidet sich von jenen auch dadurch, daß es gerade mit der Demut des Menschen, der jene ergreift, nicht eben weit her zu sein pflegt, daß sie vielmehr nur etwas sonderbare Kostümierungen eben desselben Stolzes sind, in welchem er auch ganz andere entgegengesetzte Möglichkeiten wählen könnte. Wogegen die Demut des Glaubens zu wählen keine Sache ist, die der Mensch tun oder auch lassen könnte. Und wenn er sie wählt, dann kostümiert er seinen Stolz weder so noch so, sondern er gibt es sich zu, daß er ein Stolzer ist und – schämt sich dessen.
Der Glaube ist aber auch keine erzwungene Demut, kein dem Menschen durch Schicksal und Umstände aufgedrängtes Sichbescheiden, Zurücktreten und Verzichten. Wieder garantierte solche Nötigung noch lange nicht, daß das, wozu sie den Menschen nötigen mag, wirkliche Demut ist und nicht doch bloß ein auf Zeit ein wenig eingeschüchterter und zurückgedrängter Stolz. Und sicher hat solche Nötigung nur den Charakter einer Negation, einer dem Menschen widerfahrenden Beraubung oder doch Einschränkung, sicher ist darum das, was als scheinbare Demut aus ihr erwachsen mag, eine leidende, eine widerwillige und darum freudlose Demut. Die Demut des Glaubens aber ist, indem sie dem Menschen zur Notwendigkeit wird und gar nicht eine Sache seines Verfügens ist, Sache einer freien und darum im tiefsten Grunde auch einer freudigen Entscheidung: obwohl und indem sie doch darin besteht, daß der Mensch sich selbst in seinem Tun mißfällig wird, seiner Selbstherrlichkeit gegenüber von Grund aus mißtrauisch, über seine ganzen Wege ausgesprochen mißvergnügt. Ein Unglück ist ihm damit doch nicht widerfahren – im Gegenteil! Mit Entmutigung hat seine Demütigung nichts zu tun – im Gegenteil! Sich selbst bedauern wird der im Glauben demütig Gewordene nimmermehr – im Gegenteil! Und wenn ihn Andere um seiner Demütigung willen bedauern sollten, so würden sie damit nur zeigen, daß sie ihn gänzlich mißverstanden haben: sie sollten lieber sich selbst als ihn bedauern, wenn sie um solche Demütigung ihrerseits nicht wissen sollten. Die Demut des Glaubens ist nämlich wohl eine ernstliche, sie ist aber eine getroste Verzweiflung. Und es ist besser, in der Getrostheit dieser Demut zu verzweifeln, als ohne die Verzweiflung dieser Demut getrost zu sein!
Der Glaube ist die Demut des Gehorsams. Es wird kein Zufall sein, daß wir hier gerade nach dem Begriff greifen müssen, der für den christologischen Gesichtspunkt, von dem wir uns in diesem ganzen Zusammenhang leiten lassen, entscheidend ist: dem Demutsgehorsam des Herrn, der für uns ein Knecht wurde. Aber wir stellen jetzt diese Beziehung noch etwas zurück. Bringen wir diese vorläufige Beschreibung zu Ende. Der Glaube unterscheidet sich von allem bloßen Meinen, Fürwahrhalten, Wissen – auch von allem andersartigen Vertrauen dadurch, daß er ein
-- 693 --
Gehorchen ist. Eben darum ist seine Demut weder eine Sache eigener Wahl, noch die Sache eines äußeren Zwanges. Sie ist freie, aber in der echten Notwendigkeit des Gehorsams freie – umgekehrt ausgedrückt: sie ist notwendige, aber in der Notwendigkeit eines echten und also freien Gehorsams vollzogene Entscheidung. Eben darum ist die Verzweiflung, ohne die der Glaube nicht Glaube wäre, eine getroste Verzweiflung. Sie ist ja einerseits des glaubenden Menschen eigene, von ihm selbst bejahte Verzweiflung an sich selbst: Er möchte und wollte sie durchaus nicht los sein. Er dankt für alle guten Ratschläge, wie er sich etwa von ihr befreien könnte. Er verbittet sich auch alle Beschwichtigungen, daß es so schlimm mit ihr nicht sein möchte. Er gehorcht in eigener Freiheit, wenn er sich zu ihr bekennt, wenn er es wagt, in und mit ihr zu leben. Und sie ist andererseits nicht seine Willkür und Erfindung: sie ist ihm auferlegt, er muß sie also nicht verantworten, sich ihretwegen weder vor sich selbst noch vor Anderen rechtfertigen. Sie ist nicht seine Schuld; sie gehört auch nicht zu ihr. Sie ist Verzweiflung über seine Schuld: eine Verzweiflung, in der er insofern – nicht in eigener Kunst und Anstrengung, sondern eben indem sie ihm auferlegt ist – schon über seine Schuld hinausgehoben ist. Er kann sie sich auch darum nicht ausreden, nicht abnehmen lassen. Er ergibt sich ihr, er verharrt in ihr, indem er gehorcht: von diesem Gehorsam kann er sich nicht – kann ihn auch sonst niemand freisprechen. Von diesen beiden Seiten gesehen, ist sie eben – die Demut des Glaubens ist die Demut des Gehorsams – nicht irgend eine wild gewachsene und darum trostlose, sondern getroste Verzweiflung, desperatio fiducialis (Luther).
Das Alles muß man sich vor Augen halten, wenn man die große Negation der paulinischen und dann wieder der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben und insbesondere Luthers sola fide verstehen will: die Entgegensetzung des Glaubens gegen alle und jede Werke, die beiden Sätze, (1) daß kein Werk des Menschen als solches seine Rechtfertigung sei oder in sich schließe (auch nicht das Werk seines Glaubens als solches!), daß aber (2) der Glaubende faktisch der von Gott gerechtfertigte Mensch sei. Dieser zweite, der positive Satz, bedarf offenbar einer positiven Füllung und Begründung, auf die wir jetzt noch nicht eintreten. Das aber ist sicher, daß er nur sinnvoll sein kann, wenn ihm durch den ersten, den negativen Satz, Raum geschaffen ist, d. h. aber, wenn der Glaube des von Gott gerechtfertigten Menschen seinen sämtlichen Werken (auch dem Werk, das er damit tut, daß er glaubt!) entgegengesetzt, und zwar so entgegengesetzt ist, daß es auf die Vorstellung, daß sie des Menschen Rechtfertigung sein oder in sich schließen möchten, kein Zurückkommen gibt. Der durch den Glauben Gerechte kann nur in einer Luft leben, die von den Gi ftmiasmen des Traumes von irgendwelchen
-- 694 --
anderen Rechtfertigungen gereinigt, und zwar gänzlich gereinigt ist. Das haben Paulus und die Reformatoren mit ihrem negativen Satz gesagt.
Die «Werke», von denen sie in diesem Zusammenhang redeten, sind die Gedanken, Worte und Vollbringungen des sündigen Menschen: mit Einschluß der Werke, die er als solcher in seinem Verhältnis zu Gottes Offenbarung, auch im Gehorsam gegen sein Gesetz, zu tun und ins Feld zu führen in der Lage, willig und bereit ist. Der negative Satz des Paulus und der Reformatoren lautet dahin: daß keine menschlichen Werke, auch nicht die vom Gesetz gebotenen und also ernstlich von ihm zu fordernden und «gut» zu heißenden Werke des Menschen seine Rechtfertigung sind oder in sich schließen. Als Werke, die zu seiner Rechtfertigung dienen sollen, sind sie nicht von ihm zu fordern, sind sie gerade keine guten Werke.
Paulus hat unter den ἔργα in diesem Zusammenhang bekanntlich die besonderen Werke verstanden, die das alttestamentliche Gesetz von den Gliedern des von Gott erwählten Volkes Israel zur Kennzeichnung seiner Unterscheidung von den anderen Völkern, oder positiv: zur Bezeugung ihrer Zugehörigkeit zu dem von ihm mit diesem Volk geschlossenen Bunde forderte. Er hat diese «Werke des Gesetzes» nicht als solche verworfen oder auch nur gering geschätzt. Er hat sich vielmehr nach den vielleicht besser nicht zu verwerfenden Nachrichten der Apostelgeschichte auch noch als Christ und Apostel gelegentlich selbst an solchen «Werken des Gesetzes» beteiligen können. Er hat aber – nach seiner Meinung nicht im Widerspruch zu jenem Gesetz, sondern in Übereinstimmung mit ihm, in legitimer Interpretation gerade dieses Gesetzes – vorbehaltlos in Abrede gestellt, daß das Tun irgend eines der von ihm geforderten Werke die Rechtfertigung irgend eines sündigen Menschen sei oder in sich schließe. Und wenn die Erfüllung der Werke dieses Gesetzes, wie die galatischen Irrlehrer es wollten, als Werke, die den Menschen als solchen rechtfertigen sollten, dem Glauben an die Seite gestellt, als notwendige Ergänzung des Werkes des Glaubens empfohlen und also den Glaubenden aus den Heiden als auch von ihnen notwendig zu tuende Werke nahegelegt und aufgedrängt werden sollten, dann hat er das rundweg als einen Abfall vom Glauben, als dessen Verleugnung in der Wurzel beurteilt; er hat dann den Glauben den Werken jenes Gesetzes unerbittlich gegenübergestellt, er hat es dann den ehemals heidnischen Christen praktisch verboten, sich für das Tun dieser Werke: für die Einführung der Beschneidung, für das Halten des Sabbatgebotes, der Reinigungsordnungen usf. gewinnen zu lassen. Das war eine Antithese, die dem der Welt gerade dieser Werke nicht etwa fremden, sondern in ihr beheimateten, wenn auch nicht an sie gebundenen Mann nicht leicht fallen konnte. Wer ihn im Galater-, im Römer-, im Philipper-, auch im Kolosserbrief in einer eigenwilligen Emanzipations- und Freiheitsbewegung begriffen sieht – der Jude, der ihn deswegen bis auf diesen Tag haßt und der Liberale aller Zeiten, der ihn aus demselben Grund nicht genug rühmen kann – hat ihn bestimmt mißverstanden. Aber so, wie sie in jenen Briefen lautet, hat die Botschaft dieses konservativen, jedenfalls nicht revolutionären Diasporajuden allerdings lauten müssen, sobald es um eine Konkurrenzierung des Glaubens als des Ortes, an dem der Mensch zu seiner Rechtfertigung kommt, durch die Werke – die Werke jenes auch ihm, ihm erst recht heiligen Gesetzes Gottes – ging. Dazu ist dieses Gesetz nach seiner Erkenntnis nicht gegeben. Das, des Menschen Rechtfertigung, kann durch die Erfüllung seiner Werke nach ihm nicht vollzogen, nicht offenbart werden. Paulus konnte, wo das in Frage stand, zwischen dem Glauben und den Werken des Gesetzes gerade nur ein Entweder-Oder sehen. Und es konnte für ihn in dieser Alternative nur eine Auskunft geben: die Verwerfung aller seiner Werke zugunsten des
-- 695 --
Glaubens, für die Christen aus den Heiden also nur um den Glauben und seine Werke, die als solche als rechtfertigende Werke nicht in Frage kommen konnten. Das sola fide steht nirgends verbotenus in den paulinischen Texten. Es war aber keine Eintragung in diese Texte, sondern es geschah in genuiner Interpretation dessen, was Paulus auch ohne das Wörtlein «sola» tatsächlich gesagt hat, wenn Luther Röm. 3, 28 übersetzt hat: «So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.» Mag es mit der Möglichkeit, der Freiheit, dem Recht oder auch mit dem Gebotensein, mit der praktischen Notwendigkeit des Tuns von Werken – von Werken jenes Gesetzes oder von den Werken des Glaubens – stehen wie es will – gerechtfertigt wird der Mensch nach Paulus nicht dadurch, daß er diese Werke tut, insofern also: χωρὶς ἔργων νόμου, ohne sie. Und diesem «ohne» steht der Glaube, durch den der Mensch gerechtfertigt wird, obwohl und indem auch er nicht ohne Werke, sondern nach Gal. 5, 6 «in der Liebe tätig ist», als Glaube einsam gegenüber. Wird der Mensch auch durch die Werke des heiligen Gesetzes Gottes nicht gerechtfertigt, sondern durch den Glauben, dann offenbar nur durch ihn, dann allein durch den Glauben, sola fide. Die Reformatoren haben es gewagt, die Situation der Kirche ihrer Zeit in das Licht der Situation des Galaterbriefes zu rücken und also indirekt (oft auch sehr direkt!) gleichzusetzen: das Gesetz Israels mit der Kult- und Lebensordnung der römischen Kirche des Spätmittelalters, das Tun seiner Werke mit den Leistungen der jener Ordnung entsprechenden angeblichen und wirklichen Frömmigkeit ihrer Zeitgenossen, die galatischen Irrlehrer mit den Vertretern der in ihren Tagen gängigen kirchlichen Rechtfertigungslehre und schließlich den Apostel als Verkündiger des allein rechtfertigenden Glaubens – mit sich selber! Man lese schon die Römerbriefauslegung Lutliers von 1516 und dann vor allem seinen Galaterbriefkommentar in dessen letzter Form von 1535, um sich zu veranschaulichen, in welchem Maß ihm Auslegung und Anwendung – diese Auslegung! – fast von den ersten bis zu den letzten Versen dieser neutestamentlichen Texte durcheinandergegangen sind. Es verhält sich aber auch in den Kommentaren des exegetisch etwas sorgfältigeren und die Distanz der Zeiten wenigstens gelegentlich sichtbar machenden Calvin grundsätzlich nicht anders. Das Wagnis solcher explicatio und applicatio war gewiß groß. Die Stärke der reformatorischen Theologie: die Unmittelbarkeit, in der sie sich der Schrift unterstellen, auf sie hören, sie zum Sprechen bringen wollte, die Kraft, in der sie ihre verschüttete Mitte ans Licht stellte und in den Knäuel der Verderbnisse und Neuansätze, der Auflösung alter und der Entstehung neuer Bindungen ihrer Zeit hineinleuchten ließ, der Mut, sich von daher mit Gott zu entscheiden und im Namen Gottes zu Entscheidungen aufzurufen – das Alles mag auch ihre Schwäche gewesen sein: ein allzu kühnes Identifizieren der biblischen mit der eigenen Situation und darum von ihrer eigenen stürmischen Erkenntnis in der Gegenwart her ein Verfehlen mancher Nuancen, anderer Aspekte und auch anderer Bestandteile der biblischen Texte, und umgekehrt: von dem stürmischen Aufgehen dieser Texte her auch ein Verfehlen mancher Nuancen und Differenzierungen in ihrer Beurteilung der Gegenwart. Wer es je versucht hat, die Bibel und gerade den Paulus als Mensch seiner Zeit zu verstehen und auszulegen, und wer dann allen hier nach beiden Seiten (Auslegung und Anwendung!) drohenden «Gefahren» glücklich entronnen ist, der werfe den ersten Stein auf siel Gewiß war und ist auch im Galaterbrief (um von den anderen Bestandteilen des paulinischen und des sonstigen neutestamentlichen Schrifttums nicht zu reden) noch Anderes zu entdecken, als Luther damals in ihm entdeckt hat. Und gewiß war und ist auch von der römischen Kirche und Theologie jener Zeit und der ihr folgenden Zeiten noch Anderes zu sagen als das, was von den Reformatoren damals im Schema des Galaterbriefes über sie gesagt worden ist. Wir brauchen uns durch ihre Stellungnahme weder nach der einen noch nach der anderen Seite für festgelegt zu halten.
Es bleibt aber zunächst hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem ursprünglichen und dem reformatorischen Paulinismus Einiges, und zwar Wichtiges, was von den Bedenken, die man gegen die reformatorische Exegese erheben mag, nicht berührt wird.
-- 696 --
Man wird nämlich nicht wohl leugnen können, daß, wenn nicht das ganze Neue Testament und auch nicht der ganze Paulus, so doch Paulus in seinem Konflikt mit dem Judenchristentum in der Kirche zum erstenmal in der Reformation des 16. Jahrhunderts wieder einigermaßen adäquat, kongenial verstanden worden ist. Die katholische Kirche hat diesen Paulus schon in ihren Anfängen im 2. Jahrhundert nicht mehr verstanden (mit Ausnahme des einen Marcion – «und der hat ihn mißverstanden»). So wie ihn dann die Reformatoren in dieser Sache verstanden haben, hat ihn in der späteren Zeit auch Augustin – der Einzige, der hier in Frage kommen könnte – nicht verstanden: nicht den prinzipiellen Sinn der paulinischen Unterscheidung des Glaubens von den Werken, nicht den Zorn der Entgegensetzung, der gegenseitigen Exklusive, in welcher Paulus diese beiden gesehen hat, nicht die Tragweite ihres Gegensatzes für die Auslegung des Begriffes des Glaubens sowohl wie für den der Werke und vor allem für den der Rechtfertigung selber. Wie hätte Augustin – und wie hätte nach ihm die ganze katholische Exegese und Dogmatik – die Rechtfertigung als einen im menschlichen Subjekt sich vollziehenden Prozeß verstehen, ihn mit dem Glauben bloß anheben, sich in der eingegossenen Gnade der Liebe vollenden lassen können, wenn ihm die Antithetik des Galaterbriefes so vor Augen gestanden hätte, wie sie sich dann Luther ganz neu enthüllt hat? Es hatte sich aber schon die älteste nachapostolische Kirche zu weit von der Welt des Alten Testamentes entfernt, und sie war umgekehrt zu rasch selber zu einer Doublette der alttestamentlichen Gemeinde und ihrer Ordnung geworden, als daß sie in der Lage gewesen wäre, die paulinische Anschauung vom Gesetz als die offenbarte, die heilige und nun doch gerade zu des Menschen Rechtfertigung ganz untaugliche Lebensordnung nachzuvollziehen. Es bedurfte schon dessen, daß den Reformatoren – Luther hier voran! – eine ganz andere Lebensordnung zum Problem wurde: die nun in der Tat wieder mit dem Anspruch rechtfertigender Kraft existierende, gehandhabte und der mittelalterlichen Menschheit auferlegte, die den Menschen in den Vollzug jenes Prozesses einführende Lebensordnung und Heilsanstalt der römischen Kirche, um auf diesem Umweg wieder zu entdecken. was das «Gesetz» einst für Paulus bedeutet und nicht bedeutet hatte. Das sind einige exegetische Punkte – ich erwähne nur die in unserem engsten Zusammenhang wichtigen – deren Erhellung man der reformatorischen Theologie, wie eigenmächtig sie sie auch im Einzelnen vollzogen haben mag, nicht wohl absprechen kann.
Man wird aber auch, was ihre Anwendung der paulinischen Erkenntnisse auf ihre Gegenwart betrifft, schon das beachten müssen, daß es insbesondere Luther jedenfalls nicht weniger gekostet hat als damals Paulus, sich zu der Stellung zu dem, was für ihn das «Gesetz» war, durchzuringen, die dann in seiner Lehre sichtbar wurde: zur grundsätzlichen Lösung von der Vorstellung, daß der Mensch seine Rechtfertigung als Sünder durch die Erfüllung der von diesem Gesetz vorgeschriebenen Werke erlangen könne und müsse. «Gesetz» war für ihn zunächst und konkret: die Forderung der für ihn durch sein Gelöbnis verbindlich gewordenen Mönchsregeln. Er hat seine Rechtfertigung von der Innehaltung dieser Regeln nicht weniger ernstlich erwartet als einst Paulus die seinige von der Beobachtung des mosaischen Gesetzes. Und unter «Gesetz» verstand er dann in weiterem Umkreis das ganze Gefüge der Verpflichtungen, mit denen die Kirche den Weg zu den Sakramenten und deren Empfang und damit den Zugang zu Gottes Gnade, das Gott wohlgefällige Leben im Rahmen des corpus christianum umgeben hatte. Es war auch bei ihm keine Abneigung gegen dieses Gesetz als solches und kein gegen dieses sich auflehnendes Freiheitsbedürfnis, das ihn zu seiner Lehre vom allein rechtfertigenden Glauben führte. Er war wohl von Natur eher noch konservativer als Paulus. Und die Lage war für ihn insofern noch verwickelter als für Paulus, als das, was für ihn «Gesetz» bedeutete, ja als das Gesetz der Kirche Christi, gerade als Gebot des Glaubens also, maßgebend war: die Mönchsgelübde z. B. als Auslegungen von Worten des Evangeliums, so auch die Ablaßordnung, an der es dann zum öffentlichen Bruch kam, als eine Auslegung des evangelischen Bußrufes und so die das Ganze garantierende kirchliche, insbesondere päpstliche, Autorität als die Autorität des Herrn und seiner Apostel selber, der sich zu
-- 697 --
entziehen niemals seine Meinung war. Es ist bekannt, wie zögernd er sich zu der Erkenntnis durchkämpfte, daß das Alles gerade das Gesetz Christi und des Evangeliums, das «heilige, gerechte und gute Gesetz» Gottes, wie Paulus es im Gesetz Israels erkannte, nicht sei, wie zurückhaltend er am Anfang, sofern es sich nicht um die Abstellung greifbarer Mißbräuche handelte, gegen dieses angeblich göttliche Gesetz vorging und wie ängstlich und für manche ihm nahe oder auch ferner Stehende fast ärgerlich scheu er auch später immer wieder seine Uninteressiertheit, ja seinen Widerwillen gegenüber aller Bekämpfung dieses Gesetzes als solchen bekannt hat. Er hat ihm und den von ihm geforderten Werken wirklich nicht die Freiheit, sondern (gerade in seiner Proklamation der libertas christiana) den Glauben entgegengestellt. Auch er konnte als Liberaler nur mit Unrecht getadelt und nur unter groteskem Mißverständnis gelobt werden. Und eben darin standen doch auch Zwingli und Calvin grundsätzlich durchaus an seiner Seite. Waren sie, nicht vom Kloster, sondern von einem frommen Humanismus herkommend und von Natur viel weniger konservativ gestimmt, dem römischen System, der ganzen Idee des corpus christianum nie so verbunden gewesen wie Luther, so waren doch auch sie in ihrer Haltung, Lehre und Aktion alles Andere als so etwas wie eigenmächtige Neuerer. Aus kühn ergriffener Eingebung, in rascher Einsicht und gewissermaßen aus dem Handgelenk hat keiner der Reformatoren – relativ am leichtesten scheint es dem Melanchthon gefallen zu sein – den Schritt von der Auslegung des Paulus zu seiner Anwendung in der Gegenwart getan und also dessen Kampfposition sich angeeignet, seine Lehre zum Hebel seines eigenen reformatorischen Unternehmens gemacht.
Und nun wird man, was diese Seite der Sache betrifft, vor allem feststellen müssen: die Reaktion der römischen Kirche und Theologie auf die von den Reformatoren im Anschluß an Paulus vorgetragene Rechtfertigungslehre hat jenen insofern Recht gegeben, als jedenfalls ein Verständnis des Paulus des Galater- und Römerbriefes, der dort entfalteten Antithese und Exklusive zwischen Glaube und Werken in der Frage der Rechtfertigung in dem, was sie den Reformatoren entgegenzustellen hatte, nicht sichtbar wurde.
Es gibt unter den namhaften römischen Theologen des 16. Jahrhunderts einige Wenige, von denen man sagen kann, daß sie die These der Reformatoren wenigstens gehört und verstanden haben, ihr ernstlich Rechenschaft tragen wollten. Ich nenne als Einen von ihnen Kardinal Caspar Contarini, der in der Zeit der Regensburger Verhandlungen um 1541 einen Traktat «De iustificatione» geschrieben hat, in welchem er es versucht hat, die Sache gewissermaßen auf zwei Ebenen zu betrachten und darzustellen: einer ersten, auf der er sie zum großen Anstoß seiner Parteigenossen in Sätzen beschrieben hat, die denen Luthers fast aufs Wort gleich kamen, dann allerdings auch auf einer zweiten, im Blick auf die sich seine Darlegungen in den gewohnten Geleisen der sonstigen römischen Theologie bewegten. Es sollte die Gerechtigkeit des gerechtfertigten Menschen nach ihm gleichzeitig eine ihm imputierte, die allein im Glauben zu ergreifende Gerechtigkeit Christi und eine ihm inhärierende, in den Werken der Liebe zu vollstreckende sein. Er wollte jenen ersten Aspekt dem zweiten sogar ausdrücklich übergeordnet wissen. Daß er sich von beiden Seiten der Halbheit bezichtigen lassen mußte, ist nicht zu verwundern. Sein Name sollte hier immerhin nicht verschwiegen werden. Aber Schule hat er nicht gemacht, er ist vielmehr vielleicht nur durch seinen frühen Tod der kirchlichen Verurteilung entgangen. Die Kirche wollte in dieser Sache nichts lernen, sondern beharren, und hat es getan.
Das Rechtfertigungsdekret des Trienter Konzils (Sess. VI 1547), in welchem die römische Kirche der reformatorischen Lehre gegenüber offiziell Stellung bezogen und sich, wie man leider annehmen muß, für alle Zeiten festgelegt hat, ist ein theologisch kluges und in manchen Zügen nicht unsympathisches Dokument, das denn auch oberflächliche protestantische Leser gelegentlich zu der Frage veranlaßt hat, ob darüber nicht zu reden sein möchte. Bei genauerem Studium wird man sich doch nicht verbergen können, daß seinen Vertretern weder das, was die Reformatoren, noch auch das, was den
-- 698 --
Paulus in dem Fragekreis «Glaube und Werke» bewegt hatte, auch nur von ferne Eindruck gemacht zu haben scheint. Und schlimmer als das ist der Grund dieses Unverständnisses: daß ihnen das, was wirklich nicht erst den Reformatoren, sondern schon dem Apostel als die Hoheit der Rechtfertigung in ihrem Charakter als eines göttlichen Werkes für den Menschen vor Augen stand, eine unbekannte Größe war. Wie hätten sie sonst den Tod Christi als die bloße causa meritoria der Rechtfertigung bezeichnen (c. 7), diese selbst aber in den Raum der die sakramentale Gnade verwaltenden Kirche einerseits, des von den kirchlichen Gnadenmitteln angemessenen Gebrauch machenden Gläubigen andererseits verlegen können? Wie hätten sie sie sonst als einen in dem die Segnungen der kirchlichen Heilsordnung genießenden und ihre Forderungen erfüllenden Menschen sich abspielenden Prozeß beschreiben können? War das etwas wesentlich Anderes, als die von Paulus so heftig bestrittene Vorstellung von einer im Rahmen des Instituts des Gesetzes durch Leistung der in ihm vorgesehenen Werke zu erlangenden Gerechtigkeit? Genügt es zur Unterscheidung des im Tridentinum visierten Geschehens von dem, dem Paulus die «Rechtfertigung durch den Glauben» so schroff entgegengesetzt hatte, daß es dort unter das Vorzeichen des meritum Christi, unter den Vorbehalt der sakramental eingegossenen Gnade gestellt wurde? Wo findet man bei Paulus – nicht nur bei dem Paulus des Galaterbriefes, sondern bei Paulus überhaupt – so etwas wie jene gratia praeveniens, vermöge derer der Mensch nun doch schon, bevor er glaubt und getauft ist, in Bewegung gesetzt wird ad convertendum se ad suam iustificationem, d. h. dazu, sich für die Gnade kraft seines nur geschwächten liberum arbitrium (c. 1), indem er ihr zustimme und mit ihr zusammenwirke (assentiendo et cooperando) zu «disponieren» (c. 5 u. can. 4-5)? Kennt Paulus auch einen natürlichen Menschen, der durch solche gratia praeveniens in der Lage ist, Gottes Offenbarungen und Verheißungen für wahr zu halten, sich von der bloßen Furcht vor Gott seiner Barmherzigkeit zuzuwenden, seiner ihm propter Christum zugewendeten Güte Vertrauen zu schenken, anzufangen, ihn zu lieben, seine Sünde zu hassen und zu verachten und also Buße zu tun, schließlich nach der Taufe und einem neuen Leben und. Gehorsam zu verlangen (c. 6)? Und hätte Paulus als causa instrumentalis dessen, was er δικαιοσύνη nannte, wirklich die Taufe nennen können, wie es im Tridentinum (c. 7) geschieht? Gibt es bei ihm so etwas wie eine dem Menschen sakramental eingegossene und also ihm inhärierende Gerechtigkeit (c. 16)? Hätte er weiter den eigentlichen christlichen Glauben als ein bloßes initium salutis (c. 8) und also im Verhältnis zu des Menschen Rechtfertigung als ergänzungsbedürftig bezeichnen können? Hätte er es, wie es im Tridentinum (c. 9) expressis verbis geschieht, den Christen als eine vana et omni pietati remota fiducia geradezu verboten, sich im Glauben daran zu halten und dessen zu trösten, daß ihnen ihre Sünden vergeben seien? Hätte auch er es als eine «häretische und schismatische» Meinung bezeichnet (c. 9), daß der christliche Glaube gerade dessen nicht bedingt, sondern unbedingt gewiß sei, und daß er, sofern er dessen nicht unbedingt gewiß sei, der den Menschen rechtfertigende christliche Glaube nicht sei? Wo hat er gesagt und wie hätte er sagen können, daß (c. 9) der Christ zwar an der Barmherzigkeit Gottes, am Verdienst Christi, an der Kraft der Sakramente nicht zweifeln dürfe, im Blick auf seine eigene infirmitas und indispositio aber de sua gratia, in der Frage, ob es Gnade auch für ihn gebe, auch im Glauben keiner schlechthinigen Gewißheit sich hingeben dürfe? Und vor allem: wo hat er des Christen Heiligung und seine Rechtfertigung in die Beziehung gebracht, die die Substanz der positiven Lehre des Tridentinums bildet: daß nämlich die Rechtfertigung erst in der Heiligung, d. h. im Geschehen der durch die Rechtfertigungsgnade angeregten, ermöglichten und verwirklichten guten, verdienstlichen Werke vollendet werde (c. 16) – einer Rechtfertigungsgnade, die mit der Sündenvergebung nur erst anhebe (c. 7)? Wo hat er gesagt und wie hätte er sagen können, daß der Glaube den Menschen insofern rechtfertige, als er in der Liebe tätig ist? Wie hätte er von einem incrementum oder augmentum der Rechtfertigungsgnade durch die Übung der Liebe, durch die Leistung irgendwelcher Werke reden können, welche dann auch noch einen Zuwachs der im ewigen Leben zu erwartenden
-- 699 --
Herrlichkeit in sich schließen sollte (c. 10 u. can. 24 u. 32)? Und schließlich von einer Wiederholung der Rechtfertigung – von einem rursus iustificari ist ausdrücklich die Rede – angesichts der praktisch im Leben jedes Christen je und je eintretenden Situation des Herausfallens aus dem Stand der Gnade: von einer Wiederholung, die sich im Sakrament der Buße durch die priesterliche Absolution mit den an diese sich anschließenden Satisfaktionen des in den Stand der Gnade Zurückversetzten zu vollziehen habe (c. 14)? Ist das Alles nun nicht doch eine in der Sache sehr genaue Parallele zu jenem ganzen Heilsinstitut und Heilsunternehmen, dem Paulus, wenn es um des Menschen Rechtfertigung ging, den Glauben in jener Einsamkeit und Exklusivität gegenübergestellt hat? Soll es nun nicht doch – Gal. 2, 16 zum Trotz – «Fleisch» geben, das durch «Werke des Gesetzes» gerechtfertigt wird? Der entscheidende polemische Satz des Tridentinums lautet: Anathema sit, wer behauptet, fidem iustificantem nihil aliud esse quam fiduciam divinae misericordiae peccata remittentis propter Christum, vel eam fidem solam esse, qua iustificamur (can. 12). Nun, Paulus hat nicht nur vom Glauben, sondern auch von der Liebe und von der Hoffnung geredet, und wer paulinisch denken will, wird ihm darin folgen müssen. Er hat aber, wenn es um des Menschen Rechtfertigung ging, nur vom Glauben geredet. Und wenn für ihn zweifellos auch der Glaube noch andere Dimensionen hat als die, in der er, bezogen auf des Menschen Rechtfertigung, fiducia divinae misericordiae peccata remittentis propter Christum ist, so kann doch angesichts der Zusammenhänge, in denen er δικαιοσύνη und πίστις miteinander nennt, wiederum kein Zweifel daran sein, daß der Glaube bei ihm in dieser Beziehung genau das und nichts sonst ist: des sündigen Menschen Vertrauen auf den in Jesus Christus geschehenen Erweis der unverdienten Treue Gottes, in welchem Erweis er seine Sünden vergeben findet. Gibt es eine Treue des sündigen Menschen dem treuen Gott gegenüber, dann besteht sie ganz allein in diesem Vertrauen. Indem er Gott dieses Vertrauen entgegenbringt, findet er sich von ihm gerechtfertigt, nicht sonst! Das war der Satz der Reformatoren.
Sie hatten Paulus nicht in allen ihren Sätzen eindeutig hinter sich. In diesem aber hatten sie ihn zweifellos hinter sich. Wäre die römische Kirche damals umsichtig, aber auch aufgeschlossen gewesen, dann hätte sie auf gewisse nicht zu leugnende Lücken des reformatorischen Verständnisses des Paulus und der Bibel überhaupt hingewiesen, gerade durch diesen Satz der reformatorischen Theologie aber sich ihrerseits belehren lassen, um dann in der Richtung einer umfassenden Reformation der ganzen Kirche (und so zu ihrer neuen besseren Einigung) die Initiative zu ergreifen. Indem sie gerade diesen Satz unter Anathem gestellt hat, hat sie sich selbst unter jenes ἀνάθεμα ἔστω gestellt, mit dem sich Paulus Gal. 1, 8 f. sogar gegen einen Engel vom Himmel verwahrt haben wollte, dem es beikommen möchte, ein «anderes Evangelium» zu verkündigen als das, das er in jenem Brief gegen die galatischen Irrlehrer verteidigt hat. Es ist schwer, in der Rechtfertigungslehre des Tridentinums etwas Besseres als ein im Sinne des Paulus «anderes Evangelium» zu erkennen. Ihr fehlt alles Oberlicht. Als Prüfstein in der Frage, wo ein Jeder in dieser Sache steht, ist sie allerdings hochgeeignet. Es gibt auch protestantische Rechtfertigungslehren – auf die wir hier nicht eintreten – die diesem Maßstab nicht standhalten, weil sie selber nur allzu tridentinisch sind. Jenes Konzil sollte ein Reformkonzil sein und ist es in manchen seiner praktischen Entscheidungen tatsächlich gewesen. Mit seiner Rechtfertigungslehre aber hat sich die römische Kirche der Reformation verweigert, hat sie sich auch der Möglichkeit, in Sachen der Einigung der getrennten Kirche die Initiative zu ergreifen, selber beraubt. Es war nicht möglich, daß sich die evangelischen Kirchen durch diese Behandlung der entscheidenden Streitfrage in die Gemeinschaft mit Rom zurückrufen ließen: so gewiß sie die Wahrheit der Einigkeit nun eben nicht opfern konnten. Diese Reaktion der römischen Kirche war der überzeugende Beweis dafür, daß auch die reformatorische Anwendung der paulinischen (und doch nicht nur der paulinischen) Texte auf die Situation in der damaligen Kirche gerade im Mittelpunkt des traurigen Zerwürfnisses sinngemäß und notwendig war, und – da die römische Kirche auf jenes Dekret nicht wohl zurückkommen kann – auch bleiben wird. Eine ihre
-- 700 --
amtlichen Entscheidungen als unfehlbar ausgebende Kirche kann unverbesserliche Irrtümer begehen. Sie hat es mehr als einmal getan.
Der rechtfertigende, d. h. der des Menschen Rechtfertigung erkennende und ergreifende Glaube ist der Gehorsam der Demut, haben wir gesagt – und dann: er impliziert im Verhältnis zu des Menschen Rechtfertigung den Ausschluß aller Werke: er verneint, wenn es um die Erkenntnis und um das Ergreifen der Rechtfertigung geht, die Zuständigkeit, die Hinlänglichkeit, die Kraft und den Wert alles menschlichen Tuns. Diese beiden Sätze bedingen und bestimmen sich gegenseitig. Man kann und muß den einen durch den anderen interpretieren.
Weil der Glaube gehorsame Demut, Entsagung ist, will und muß er alle Mitwirkung menschlichen Tuns in der Frage nach des Menschen Rechtfertigung ausschließen, will und. muß er in dieser Sache allein, gerade nur Glaube sein. Er würde ja, wenn er das scheuen, wenn er sich in der Erkenntnis und im Ergreifen der Rechtfertigung auf irgend ein vor oder im Glauben oder in dessen Konsequenz sich ereignendes menschliches Tun begründen wollte, aus dem Gehorsam – nämlich aus der Demut des Gehorsams – herausfallen. Er wollte dann mehr, etwas Besseres, sein als des Menschen «getroste Verzweiflung»: getrost, weil als Gehorsamsentscheidung zugleich frei und notwendig. Mit des Menschen Resignation, Verleider und Nein seinem Hochmut und so sich selbst gegenüber wäre es dann gerade insofern nichts, als er sich neben dem, daß er glaubt, doch noch auf sich selbst stützen und verlassen wollte. Gerade zur Erkenntnis und zum Ergreifen seiner Rechtfertigung könnte und würde es dann – wenn in dieser Sache nicht alle seine Werke ausgeschlossen sein und bleiben sollten – in seinem Glauben nicht kommen.
Wiederum kann aber diese trotzige Einsamkeit des Glaubens, das sola fide und also der Ausschluß aller mit dem Glauben konkurrierenden Werke nur darin Sinn und Wahrheit haben, daß er in der Demut des Gehorsams begründet ist. Um einen eigenmächtigen Trotz kann es da nicht gehen: nicht um ein titanisches Sichselbstbehaupten des Menschen nun eben in dieser Form! Und darum auch bestimmt nicht um eine Verachtung, Verwerfung oder auch nur Vergleichgültigung der menschlichen Werke als solcher. Sie sind ja die als solche nicht nur unvermeidliche, sondern an sich gute Betätigung der an sich guten geschöpflichen Natur des Menschen. Sie sollen und müssen geschehen. Und auch der Glaube selbst wäre wirklich nicht Glaube, wenn er nicht in der Liebe kräftig, wenn er nicht nach Luthers Wort «ein lebendig, tätig, geschäftig Ding» wäre. Die Resignation, der Verleider, das Nein, die Verzweiflung der Demut bezieht sich nicht auf des Menschen Tun als solches, sondern auf den in allem seinem Tun wirksamen Hochmut. Wir erinnern uns: mit Pessimismus, Skepsis, Defaitismus und dergleichen kann die Demut des Glaubens nichts zu tun haben, und so auch der in dieser Demut begründete
-- 701 --
Ausschluß aller Werkgerechtigkeit nichts mit Indifferentismus, nichts mit Quietismus und nichts mit Libertinismus. Man sehe zu, daß man sich durch keine Verdächtigungen und Vorwürfe in dieser Richtung irre machen und dann zu irgend einer Werkerei verführen lasse. Sie sind, wie Röm. 6 zeigt, schon gegen die Glaubens- und Rechtfertigungspredigt bei Paulus erhoben worden. Man sehe freilich auch zu, daß man nicht auf Wegen denke, rede und lebe, auf denen man diesen Verdächtigungen und Vorwürfen recht geben würde! Wo Rechtfertigung ist, da ist auch Heiligung. Wo Glaube ist, da ist auch Liebe, da sind auch Werke. Hat Einer, durch den Glauben gerechtfertigt, Frieden mit Gott, dann auch mit dem Nächsten und mit sich selbst. Daß er als Gerechter seines Glaubens unter Ausschluß aller Werke lebt, das wird er – hier dürfte die eigentümliche Rechtfertigungslehre des Jakobusbriefs eingreifen – gerade in seinen Werken bewähren und bezeugen. Ist ihm, wenn es um seine Rechtfertigung geht, kein menschliches Werk wichtig, jedes gleichgültig, so wird ihm, wenn es um diese Bewährung geht, jedes wichtig, keines gleichgültig sein. Es kann nicht anders sein, wenn es wirklich die Demut des Gehorsams (und nicht eine Sache seiner Willkür) ist, in der er seines Glaubens und im Glauben seiner Rechtfertigung gewiß und froh ist.
Aber nun müssen wir tiefer graben. Wir haben den Glauben als jene Demut beschrieben, die ihre Konsequenz in jenem Ausschluß aller Werke hat. Es ist klar, daß wir ihn damit erst in seiner negativen Gestalt beschrieben haben. Die Frage nach seiner positiven Gestalt drängt sich auf. Aber gerade sie läßt sich nicht beantworten, solange uns etwa nicht deutlich ist, daß und warum er zunächst und vor allem jene negative Gestalt haben muß.
Warum konnte und mußte er von Manchen als eine leer ausgestreckte Hand beschrieben werden? Warum von Calvin als ein leeres Gefäß, als des Menschen exinanitio Gott gegenüber (Instit. III, 11, 7), als eine res mere passiva, nihil afferens nostrum (ib. 13, 5). Warum hier so scharfe Sätze wie der: Dieu besogne en telle sorte qu'il n‚y a rien de nostre costé (CR 23, 706)? Oder: der misericordia Gottes, an die sich der Mensch im Glauben zu halten habe, stehe auf seiner Seite nichts als seine miseria gegenüber, anders als prorsus nudus et vacuus könne er ihm nicht begegnen (Instit. III, 11, 16)? Und so konnte auch Luther reden: «Ich muß mich nackent aus ziehen von allen freunden, wercken, verdienst» (Pred. üb. Ex. 19, 14 f. WA 16, 420, 12). Eines Verses von Zinzendorf darf hier auch gedacht werden, den er als Prolegomenon zu dem bekannten Lied «Fahre fort . . .» gedichtet hat. Er lautet:

«Hebe an, hebe an, Zion, heb am Elend an,
An der Armut, an dem Staube, so ist deine Sach getan.
Habe gar nichts, aber glaube,
Daß der Herr, der treue Seelenmann, helfen kann.»
War es nun eigentlich so neu, befremdlich und schrecklich, wenn ich in meiner Römerbrieferklärung von 1921 den Glauben als einen «Hohlraum» bezeichnet habe? Muß man ihn nicht auf alle Fälle auch so beschreiben? – Aber eben: warum notwendig auch so – so negativ?

-- 702 --
Das ist sicher: als abstraktes Eingeständnis menschlicher Ohnmacht und Nichtigkeit würden solche Sätze als Selbstbekenntnis des Glaubens, der doch nach 1. Joh. 5, 4 der Sieg sein soll, der die Welt überwindet, keinen Sinn haben. Daß wir nichts taugen, ist wahr, aber so interessant nun auch wieder nicht, daß das Bekenntnis zu dieser Wahrheit eine selbständige Bedeutung haben könnte. Und auch als jenes wunderliche Lob der Ehre Gottes darf die negative Gestalt des Glaubens, der Glaube als «Hohlraum» nicht geltend gemacht werden: als ob jene umso größer sei, je geringer ihr gegenüber der Mensch, und also ganz groß, wenn der Mensch vor ihm geradezu nichts sei. Muß es doch schon für des Glaubens negative Gestalt bedeutsam sein, daß er Glaube an den Gott ist, vor dem der Mensch gar nicht nichts, sondern gar sehr etwas, Jemand, ist, dem es ganz ferne liegt, an des Menschen Nichtigkeit als solcher sein Wohlgefallen zu haben! Und vor allem ist hier nicht etwa an eine Anweisung zu jener mystischen Entleerung zu denken: jenes Eingehens in die Nacht des Lassens, des Schweigens, eines künstlich antizipierten Todes: auch dann nicht (und gerade dann nicht!), wenn sich solche Experimente mehr oder weniger ausdrücklich auf den Vorgang des Leidens und Sterbens Christi berufen, als des mystischen Künstlers Nachbildung dieses Geschehens sich darstellen sollten. Eine Nachbildung dieses Geschehens findet im Glauben allerdings statt. Es bedeutet aber einen Rückfall in die Vorstellung von einem den Menschen per se rechtfertigenden Glauben, wenn man die in ihm allerdings stattfindende Nachbildung des Werkes Christi als ein vom Menschen zum Vollzug seiner Rechtfertigung zu leistendes Werk, als eine ihm in diesem Sinn gestellte Aufgabe beschreiben und also den Grund der Demut des Glaubens und seiner Exklusivität allen Werken des Menschen gegenüber in der Notwendigkeit solcher Entleerung, in einer sich so verstehenden Theologie der imitatio Christi suchen wollte. Nichts, gar nichts berechtigt uns zu der Vermutung, daß Gott den Menschen zur Kunst solcher Entleerung geschaffen habe oder daß nun gerade sie als der Weg zu seiner Versöhnung mit Gott zu erkennen und zu beschreiten sei. Wo anders befindet sich der Mensch auch im Wagnis dieses Experimentes als noch immer im geschlossenen Kreise seines hochmütigen Seins und Tuns? Ist der Glaube in seiner negativen Gestalt in der Tat eine Entleerung, dann bestimmt auch die Entleerung aller Ergebnisse solcher Entleerungskünste. Er fängt dort an, wo es mit allen Werken des Menschen, auch mit dem seines Lassens, Schweigens und antizipierenden Sterbens zu Ende ist. Der christliche Glaube ist der Tag, mit dessen Anbruch auch die mystische Nacht vergangen ist.
Der christliche Glaube hat aber jene negative, entsagende Gestalt darum, weil er positiv die sachgemäße Antwort auf das ist, was wir am Anfang dieses Abschnittes den Selbstbeweis des von Gott gerechtfertigten Menschen genannt haben. Es ist dieser Selbstbeweis seiner Rechtfertigung,
-- 703 --
den der Mensch im Glauben als solchen anerkennt, gelten, wahr und gewiß sein läßt, an den er sich im Glauben so hält, wie man sich an ihn halten muß: so wie man sich an ihn ganz allein halten kann. Die sachgemäße Antwort auf diesen Selbstbeweis seiner Gerechtigkeit kann nur sein: die Demut, die ihn für genügend, und zwar für vollständig und also für exklusiv genügend hält, in der dem Menschen also alle Waffen, Instrumente und Schlüssel, mit Hilfe derer er sich seine Rechtfertigung seinerseits beweisen möchte, von selbst aus der Hand fallen, in welcher alle Apparate und Motoren, die er sich zu diesem Zweck ausgedacht und konstruiert haben mag, von selbst stillstehen, in welcher er auch auf die Erfindung und Konstruktion weiterer Kunstwerke dieser Art im voraus von selbst verzichtet, in welcher er diesen Selbstbeweis seiner Gerechtigkeit gerade nur für sich selbst sprechen und also gerade nur sein Hörer, ihm gerade nur gehorsam sein will. Weil und indem es dieser Selbstbeweis seiner Gerechtigkeit dem Menschen gegenüber gewinnt, kommt dieser zum Glauben. Und eben weil es sich um den Sieg dieses Selbstbeweises ihm gegenüber handelt, muß der Glaube auch jene negative Gestalt haben und also demütiger Gehorsam unter Ausschluß aller seiner eigenen Werke sein.
Der Selbstbeweis des gerechtfertigten Menschen, an den sich der Glaube hält, ist aber der gekreuzigte und auferstandene, als Vollbringer, als Empfänger, als Offenbarer der Rechtfertigung aller Menschen lebende Jesus Christus. In ihm ist das Gericht Gottes über den Menschen vollzogen, in ihm des Menschen Freispruch ergangen. Wir haben im zweiten und dritten Abschnitt dieses Paragraphen und also in unserer ganzen Umschreibung des Begriffes «Rechtfertigung» von ihm und so vom gerechtfertigten Menschen geredet: von seiner Geschichte und so von unserer eigenen, von seinem Übergang aus der Vergangenheit in die Zukunft, aus der Sünde in das Recht, aus dem Tode in das Leben und so von der unsrigen – von seiner Gegenwart also und so von unserer Gegenwart. Geschah es doch, daß er in demütigem Gehorsam des Sohnes an unsere Stelle trat, unsere Sünde und unseren Tod auf sich nahm, um ihnen in seinem eigenen Sterben ein Ende zu machen, und daß er eben damit das Rechte getan hat, der neue gerechte Mensch gewesen ist. Es geschah aber auch, daß er in seiner Auferweckung von den Toten als der, der das – und das für uns, für alle Menschen – getan hat und gewesen ist, von Gott dem Vater bestätigt, anerkannt und offenbart wurde. Als der, der das – in welchem Gott selbst das getan und der als Täter dieser Tat lebt, ist er unser Mann, sind wir in ihm, ist unsere Gegenwart die seinige, ist die Menschheitsgeschichte seine Geschichte, ist er das konkrete Ereignis der Existenz und Realität des gerechtfertigten Menschen, in welchem jeder Mensch sich selber und jeden seiner Mitmenschen wiederfinden – als in Wahrheit gerechtfertigt wiederfinden darf. Keiner, für dessen Sünde und Tod er
-- 704 --
nicht gestorben, dessen Sünde und Tod er an seinem Kreuz nicht erledigt und ausgelöscht, für den er dort nicht auch positiv das Rechte getan, dessen Recht er dort nicht aufgerichtet hätte! Keiner, dem das in seiner Auferweckung von den Toten nicht zugesprochen wäre als seine Rechtfertigung! Keiner, dessen Mann er also nicht, Keiner, der in ihm nicht gerechtfertigt wäre! Keiner, der es anders als in ihm wäre – weil in ihm und nur in ihm, mit des Menschen Sünde und Tod Schluß, Feierabend gemacht ist, weil des Menschen Sünde und sein Tod in ihm und nur in ihm das Alte sind, das vergangen ist, und weil wieder in ihm und nur in ihm das Rechte getan ist, das von ihm gefordert ist, das Recht aufgerichtet ist als das Neue, dem der Mensch entgegengehen darf! Aber wieder Keiner, der in ihm nicht genügend, völlig, endgültig gerechtfertigt wäre! Keiner, dessen Sünde in ihm nicht vergebene Sünde, dessen Tod nicht in ihm getöteter Tod wäre! Keiner, dessen Recht in ihm nicht aufgerichtet, gültig und für immer begründetwäre! Keiner also, dersich dieses Recht erst selbst erwerben und aneignen müßte! Keiner, der den Weg von dort nach hier, vom Gestern ins Morgen, aus der Finsternis ins Licht in eigener Tugend und Macht erst gehen oder noch einmal gehen, seine Rechtfertigung erst oder noch einmal vollziehen, sie wiederholen müßte, nachdem sie in ihm geschehen ist! Keiner, für dessen Vergangenheit und Zukunft und also für dessen Gegenwart er nicht einträte, er nicht gut stünde, er nicht die volle Verantwortung und Garantie längst übernommen hätte, in jeder Stunde trüge und in alle Ewigkeit tragen würde! Keiner, dessen Frieden mit Gott in ihm nicht geschlossen wäre und Bestand hätte: Keiner, von dem verlangt wäre, diesen Frieden erst selbst zu schließen und zu hüten, oder dem es erlaubt wäre, so zu tun, als ob er selbst sein Stifter wäre, ihn erst schließen und in eigener Macht hüten müsse! Keiner, für den er nicht in seinem Tode Alles getan und in seiner Erweckung von den Toten Alles empfangen hätte!
Keiner! Das glaubt der Glaube. Und indem er das glaubt, ist er rechtfertigender, d. h. des Menschen Rechtfertigung als Gottes Entscheidung, Tat und Wort erkennender, ergreifender, realisierender Glaube. Er ist Glaube an Jesus Christus, den für uns Gekreuzigten und Auferstandenen: an ihn als den, in welchem unser Gericht geschehen, unser Freispruch ausgesprochen ist. Der Glaube wird da Ereignis, wo Jesus Christus es über den Menschen gewinnt und in ihm der Selbstbeweis des gerechtfertigten Menschen. Der Glaube erkennt und ergreift ihn. Er läßt es sich gesagt sein, gelten und wahr sein, er vertraut darauf, daß Jesus Christus des Menschen Rechtfertigung ist. Er bejaht und nimmt an, daß er für uns ist, daß unsere Heilsgeschichte – die Heilsgeschichte der ganzen Menschheit und jedes Menschen – in ihm Ereignis ist. Es schaut der glaubende Mensch ihn an und in ihm sich selber, in ihm auch seinen Mitmenschen aller Zeiten und Zonen, die Nahen und die Fernen, um in ihm seine und ihre Gerechtigkeit vor Gott zu finden: sein und ihr Gestern und Morgen,
-- 705 --
sein und ihr Ende, seinen und ihren Anfang, seinen und ihren Freispruch, seinen und ihren Frieden mit Gott, die ganze Realität, von der im 23. Psalm die Rede ist – und so des Menschen Rechtfertigung.
Und eben das, dieses Positive, macht jene negative Gestalt des Glaubens notwendig. Darum, weil er Glaube an Jesus Christus ist, kann er nur als die Demut des Gehorsams wirklicher, lebendiger Glaube, muß er leere Hand, leeres Gefäß, «Hohlraum» sein. Vom glaubenden Menschen gilt zu jeder Zeit und unter allen Umständen: «Was hast du, das du nicht empfangen hast?» ( 1. Kor. 4, 7) und: «Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin» ( 1. Kor. 15, 10). Was sollte er im Verhältnis zu Jesus Christus, zu seiner eigenen Rechtfertigung, die in ihm Ereignis ist, Anderes sein als ihr von Gottes Gnade lebender Empfänger? Er glaubt, daß Jesus Christus und in ihm Gott für ihn ist. Ist aber Jesus Christus und in ihm Gott für ihn, was können dann alle seine eigenen Gedanken, Worte, Verhaltungsweisen, Unternehmungen und Vollbringungen bedeuten, in denen er selbst für sich sein möchte? Er wird von ihnen, von seinen Werken also, zur Beschaffung seiner Rechtfertigung tatsächlich nichts, gar nichts erwarten können. Schaut er auf Jesus Christus, auf das Ereignis seiner eigenen, in ihm geschehenen Heilsgeschichte, wie kann er dann daneben auch noch auf sich selbst und seine Werke schauen? welches Interesse an ihnen nehmen? wie kann er dann erwarten und den Anspruch erheben, es möchte sich in ihnen und also in ihm selbst so etwas wie eine kleine Heilsgeschichte ereignen: in Ergänzung und Fortsetzung, wohl gar erst als die eigentliche Vollendung der großen, die in Jesus Christus Ereignis ist? Glaubt er an ihn, dann erkennt und ergreift er doch gerade seine eigene Gerechtigkeit als eine fremde: als die Gerechtigkeit dieses Anderen, der an seiner Stelle, der für ihn der gerechtfertigte Mensch ist. Gerade seine eigene Gerechtigkeit würde er also verfehlen, gerade aus ihr würde er herausfallen, wenn er sie in sich selbst, in seinen eigenen Taten und Leistungen vorfinden oder in seinem Glauben oder in dessen Konsequenz erkennen, ergreifen, realisieren zu können und zu sollen meinte. Er würde die Vergebung seiner Sünden, sein Leben als Kind Gottes, seine Hoffnung auf das ewige Leben in jedem Augenblick aufs Spiel setzen, ja schon verloren haben, in welchem er das Alles anderswo suchen zu sollen und finden zu können meinte als dort, wo es als Gottes Tat und Werk gerade als Vergebung seiner Sünde, gerade als seine Gotteskindschaft, gerade als seine Hoffnung real ist: anderswo als in dem einen Jesus Christus. Er würde in dem Maß, als er sich auch noch auf sich selbst und überhaupt auf den Menschen, sein Wollen und Vollbringen verlassen wollte, gerade an sich selbst und am Menschen verzweifeln müssen. Denn er selbst, der Mensch, auf den er sich verlassen kann, ist doch nicht hier, sondern dort: in Jenem, lebt ja in seiner Geschichte, will also dort, in Ihm, gesucht und gefunden sein. Glaube würde in jedem Augenblick aufhören, Glaube zu
-- 706 --
sein, vielmehr: umschlagen in sein Gegenteil, in Unglauben, Haß und Verachtung Gottes, in die Verwerfung, in die neue Kreuzigung dessen, in welchem er sich selbst für uns dahingegeben – wenn er außer auf diesen auch noch anderswohin, wenn er als glaubender Mensch auf sich selbst blicken, auf sein Tun und Verrichten sich verlassen und vertrauen wollte. Wir haben die falschen Begründungen des sola fide, der Exklusivität des Glaubens bereits eliminiert und kommen nicht darauf zurück. Das ist aber ihre wahre Begründung: die Exklusivität dessen, woran – dessen, an den der Glaube glaubt. Was ist das sola fide Anderes als das schwache aber notwendige Echo des solus Christus? Er allein ist der, in welchem der Mensch gerechtfertigt und als gerechtfertigt offenbar ist. Er allein hat die Buße getan, in der die Umkehr des Menschen zu Gott hin wirklich und definitiv vollzogen wurde. Er allein hat in Gethsemane gebetet: Dein Wille geschehe! Er allein hat die Welt damit gerichtet, daß er sich selbst von ihr und für sie richten ließ. Er allein hat sich eben darin als der erwiesen, der an unserer Stelle das Alte beseitigt, das Neue ins Feld geführt hat. Er allein war ja auch der, der dazu mächtig, dazu in die Welt gesandt, dazu als Sohn des Vaters von Ewigkeit her bestimmt war. Er allein ist als solcher von den Toten erweckt worden, lebt und regiert als dieser für alle Anderen existierende, in seiner Person sie alle rechtfertigende Mensch, in jeder Stunde der Zeit und wieder in Ewigkeit. Er ganz allein – keine Kreatur des Himmels und der Erde neben ihm: kein Mensch, der in und aus sich selber, der anders als in ihm gerechtfertigt wäre, keiner, in welchem der gerechtfertigte Mensch jenen Selbstbeweis seiner Existenz und Realität führen würde. Er führt ihn, aber er ganz allein. Und weil der Glaube Glaube an ihn ist, darum ist er nur in jener Einsamkeit rechtfertigender Glaube. Darum verschmäht und verwirft er alle Konkurrenz und Kooperation mit irgendwelchen Versuchen der Menschen, seine Umkehr zu Gott hin selbst zu vollziehen, die Beseitigung des Alten, der Sünde und des Todes, und die Heraufführung des Neuen, des Rechtes und des Lebens, den Abend der Vergangenheit und den Morgen der Zukunft selbst ins Werk setzen zu wollen. Des Glaubens Gegenstand verbietet und verwehrt ihm das: gerade das, worauf er blickt, woran er sich hält, wovon er lebt, woran er sich freut, von dem her er sich fort und fort erneuert, in welchem er als Glaube seinen Bestand hat. Gerade Jesus Christus, weil er zuerst der große Einsame ist, verweist auch den Glauben an ihn in jene Einsamkeit, verleiht ihm jenen Trotz, in welchem er als Annahme des göttlichen Freispruchs, als Gewißheit der Sündenvergebung, der Gotteskindschaft und der Hoffnung des ewigen Lebens allein bleiben, nichts als eben das reine Vertrauen auf Gottes wirksame und offenbare Barmherzigkeit und Gnadentat und so das Vertrauen auf des Menschen gutes Recht sein will. Unerfindlich, wie das solus Christus, die sola iustitia Christi ein anderes Korrelat haben könnte als eben die fides Christi als
-- 707 --
die sola fides, die alle anderen Nothelfer und Nothilfen schlechterdings ausschließt: der Glaube, der sich gerade in diesem Ausschließen je und je erneuern – der Glaube, der immer wieder den Charakter des demütigen Gehorsams annehmen, der gerade in diesem demütigen Gehorsam aller Konkurrenzierung trotzen wird. Wer auch nur von ferne weiß, um was es im Glauben gerade positiv geht, der kann das doch nicht anders wissen und sagen wollen, der wird doch in dem Verhältnis von Glauben und Werken in diesem Zusammenhang nur in strengster Alternative denken können!
Was wird uns von hier aus über des rechtfertigenden Glaubens positive Gestalt zu sagen übrig bleiben? Er hat schon auch eine positive Gestalt. Vielmehr: gerade seine Gestalt als demütiger Gehorsam, in welchem er nur eben Entsagung, nur eben Offenheit für seinen Gegenstand und also Glaube an Jesus Christus ist, ist doch wohl letztlich nur scheinbar negativ: Als Offenheit für diesen Gegenstand, als Erkennen und Ergreifen der fremden Gerechtigkeit Jesu Christi mag er als menschliche Daseinsform, Tat und Erfahrung gerade nur die Bewährung jenes demütigen Gehorsams, gerade nur «getroste Verzweiflung» sein. Aber was heißt hier «nur», da der glaubende Mensch es mit diesem Gegenstand zu tun hat, da ihm dieser Gegenstand und er diesem Gegenstand begegnet: Jesus Christus und in ihm seiner eigenen Rechtfertigung? Da er sich von daher in jene «getroste Verzweiflung» gestürzt findet? Alle Selbstherrlichkeit ist dem Menschen in dieser Begegnung allerdings abgesprochen. Aber welche ganz andere Herrlichkeit gerade damit zugesprochen! Eben in und mit dieser Begegnung ist es offenbar vorbei mit aller Verlassenheit des Menschen, allem Angewiesensein auf sich selbst, aller Sorge um sich selbst, aller Mühe und Qual eines eigenen Vollziehensollens und Vollziehenwollens der Entscheidung, in der es zu seiner Umkehrung zu Gott hin kommen möchte, aller Verantwortlichkeit für diese Umkehrung. Glauben heißt: daß der Mensch von des Glaubens Gegenstand und also von Jesus Christus her sein darf, weil er ja in Wirklichkeit in ihm, weil seine wahre Geschichte in ihm geschehen ist. Glauben heißt: daß der Mensch zu jeder Zeit und in jeder Situation darauf rechnen darf, daß Gott selbst in Jesus Christus für ihn eintritt, d. h. für ihn tut, was er in Jesus Christus getan hat: seine Sünde hinter sich wirft, sein Recht aufrichtet. Glauben heißt: daß der Mensch darauf vertrauen darf, daß die in Jesus Christus geschehene Bewegung zwischen Gott und Mensch in höchster Realität auch für ihn geschehen und also seine eigene Bewegung ist. Glauben heißt: daß der Mensch eben im Blick auf diese fremde, dort, in Jesus Christus, nach beiden Seiten, nach gestern und morgen hin erfüllte Gerechtigkeit die Zuversicht haben darf: gerade sie ist seine, wieder nach beiden Seiten erfüllte Gerechtigkeit, gerade das Jetzt Jesu Christi ist sein eigenes Jetzt. Alles hängt also daran, daß der Glaube insofern nicht leer ist, als er nicht
-- 708 --
ins Leere blickt, auf das gestaltlose Geheimnis irgend eines Überweltlichen gerichtet, sondern diesen konkreten Gegenstand hat, daß er Sein in der Begegnung mit dem lebendigen Jesus Christus ist, ein Sein von diesem Gegenstand her und auf ihn hin. Aber eben das ist ja der christliche Glaube. Eben das ist ja der Sinn der Daseinsform, Tat und Erfahrung, in welcher der Mensch in Beantwortung der christlichen Botschaft glauben darf. Er erfährt, betätigt und versteht sich im christlichen Glauben nicht in der Abstraktion seines Fürsichseins – der Mensch ist nun einmal nicht für sich, sondern Jesus Christus ist für ihn – sondern von dem her und auf das hin, was er in Jesus Christus ist. Er ist das, was er ist, indem Dieser für ihn ist. Er erfährt, betätigt, versteht sich selbst im Licht und in der Kraft der ihm damit gegebenen Verheißung. Er hält diese Verheißung für wahr und das in der Weise, daß er sie auf sich, aber eben darum auch auf alle seine Mitmenschen bezieht. Er sieht an allem Anderen vorbei, über alles Andere hinweg auf diese Verheißung. Er beugt sich dem laut dieser Verheißung vollzogenen Gericht. Er akzeptiert den in ihr über ihn und alle Menschen ausgesprochenen Freispruch. Er wagt es als der zu leben, über den jenes Gericht ergangen ist, den dieser Freispruch angeht, und er wagt es, auch seine Mitmenschen ganz allein darauf anzusehen, daß jenes Gericht auch über sie ergangen ist, daß dieser Freispruch auch sie angeht. Er macht den legitimen Gebrauch von ihm, der, indem er ihn und alle Menschen angeht, indem er ihn mit allen Anderen zusammen hören darf, offenbar in seinem Sinne liegt. Er weiß sich also realiter frei: frei von dem Alten, das vergangen, frei für das Neue, das im Kommen ist. Der Glaube ist die dem Menschen in jener Begegnung mit Jesus Christus, in welchem Gott für ihn ist, widerfahrende Befreiung. Wer glaubt, der weiß: er ist nicht zu Gott, aber Gott ist zu ihm gekommen; er hat für Gott nichts, Gott aber hat für ihn nicht nur das Nötige, sondern Überschwängliches getan, ist als sein Bruder an seine Seite, ja an seine Stelle getreten, hat ihn eben damit zurecht gebracht, unwiderruflich zu sich gezogen. Der Glaube ist das Leben in der dem Menschen damit gegebenen Freiheit, auf dem Boden der damit geschaffenen und gesicherten Rechtsordnung. Wie sollte das Leben des Glaubens nicht immer wieder ein Wagnis sein? Wie sollte es je anders als in einem Trotzdem! – nämlich trotz all dem, als was der Mensch sich selber und seinen Mitmenschen immer wieder vorfindet, und trotz Allem, was er und der Mitmensch von sich aus immer wieder versuchen möchten – gelebt werden? Es wird aber gelebt in dem Trotzdem!, das in dem göttlichen Darum! seines Gegenstandes, in der Existenz und Realität des gerechtfertigten Menschen in dem einen Jesus Christus seinen Grund hat. Es ist also schon nur das Wagnis des Gehorsams und also der tiefsten Demut, die diesem Selbstbeweis des gerechtfertigten Menschen gegenüber allein möglich ist. Es ist aber, indem es in diesem Gegenüber und also in dieser Demut gewagt wird, dasjenige
-- 709 --
Sein des sündigen Menschen, in welchem er wahrhaftig und wirklich sich selbst gerechtfertigt findet: Vergebung seiner Sünden, sich selbst als Gottes Kind, sich selbst als Erben der Hoffnung ewigen Lebens, in welchem sich ihm aber auch der Ausblick auf seinen Mitmenschen eröffnet, für den, wie es auch mit seinem Glauben stehe, in Jesus Christus das Alles auch wirklich und wahr ist.
Und nun mag und muß als letztes Wort auf der christologischen Linie, auf die wir in Erklärung der «Rechtfertigung allein durch den Glauben» zuletzt einzubiegen hatten, auch das ausdrücklich gesagt sein: daß wir es im Glauben gerade in seinem Charakter als rechtfertigender Glaube allerdings auch mit einer imitatio Christi zu tun haben. Daß er als menschliches Verhalten, wie aus dem doppelten Gebrauch des Wortes πίστις hervorgeht, eine Nachbildung Gottes, eine Analogie zu seinem Tun und Verhalten darstellt, haben wir schon mehrfach berührt: er ist des Menschen Vertrauen, das auf die in seinem Gericht und Urteil wirksame und offenbare Treue Gottes die entsprechende, die angemessene Antwort gibt. Er ist aber im Besonderen und konkret auch eine Nachbildung Jesu Christi, eine Analogie zu seinem Tun und Verhalten.
«Nachahmer Gottes» zu sein, werden die Christen Eph. 5, 1 ausdrücklich aufgefordert. Was KD I, 1 S. 250 f. über die «Gottförmigkeit» des Glaubens gesagt wurde, wäre hier nachzulesen. Und was die «Nachahmung Christi» im Besonderen betrifft, so greift hier natürlich der wichtige Begriff der «Nachfolge» ein, auf den an dieser Stelle, ohne ihn zu entfalten, nur hingewiesen sei. Gerade mit πίστις ist der Begriff der ἀναλογία Röm. 12, 6 in direkte Verbindung gebracht: es sei die ἀναλογία τῆς πίστεως die Norm, nach der sich die wahre Prophetie zu richten habe, an der sie von der falschen zu unterscheiden sei. Wem der Glaube, wem also auch die wahre Prophetie «analog» – nicht gleich, aber entsprechend, in aller Unähnlichkeit ähnlich – ist, kann bei Paulus keine Frage sein. Die μορφή, die sich in den Christen – und das muß im Galaterbrief bestimmt heißen: im rechtfertigenden Glauben der Christen im Gegensatz zu aller Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes – darstellen soll, ist die μορφὴ Χριστοῦ ( Gal. 4, 19). Es geht nach Phil. 2, 5 um ein ganz bestimmtes φρονεῖν , das primär, ursprünglich, eigentlich «in Christus Jesus» stattfindet, sein eigenes φρονεῖν ist, eben darum sich aber in denen, die «in Christus Jesus» sind, die sich als in ihm seiend erkennen und begreifen, wiederholen muß. Und es ist dieses christusgemäße φρονεῖν der Christen nach Phil. 2, 3 f. die ταπεινοφροσύνη , in der Einer den Anderen höher achtet als sich selbst. Indem Jesus Christus sie geübt und bewährt hat, kann es nicht anders sein, als daß sie sich ceteris imparibus in den Seinigen – und das sind die, die an ihn glauben – widerspiegelt.
Wir kommen damit ein letztes Mal zurück auf die Gestalt des Glaubens als Gehorsam der Demut. Wir haben ihn zunächst die negative Gestalt des Glaubens genannt und also verstanden in seinem Charakter als reine Rezeptivität seinem Gegenstand gegenüber. Wir haben uns dann – im Blick darauf, daß der Glaube Rezeptivität diesem Gegenstand gegenüber ist – verbessern müssen: er kann doch nur scheinbar, er kann nur in seinem menschlichen Außenaspekt negativ sein – ist es doch eben des
-- 710 --
Glaubens Fülle, sein Gegenstand nämlich, der ihm diesen Charakter gibt. Und nun müssen wir noch einen Schritt weitergehen und feststellen, daß in Wahrheit gerade das das Positivste ist, was man vom Glauben als einer menschlichen Daseinsform, Tat und Erfahrung sagen kann, wenn wir ihn Demut: den Gehorsam der Demut nennen. Eben darin bildet er nämlich Jesus Christus nach, an den er glaubt, entspricht er ihm, hat er Ähnlichkeit mit ihm selber, «der um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet» ( 2. Kor. 8, 9). Ähnlichkeit mit ihm in dem hohen Geheimnis der Kondeszendenz also, in der er als der Herr ein Knecht wurde, in der er als ein Kindlein in der Krippe im Stall zu Bethlehem lag, in der er am Jordan den Weg der Buße antrat, in der er hungerte und dürstete und nichts hatte, da er sein Haupt hinlegte, in der er seinen Jüngern die Füße wusch, in der er in Gethsemane ganz allein betete, in der er von Israel verworfen und von den Heiden gerichtet und verurteilt wurde, in der er auf Golgatha in Schimpf und Schanden am Galgen hing. Ein schwaches, fernes, aber immerhin bestimmtes Echo oder Spiegelbild von dem Allem ist der Glaube. Es kann nicht anders sein: indem gerade das das Geheimnis der wahren Gottheit Jesu Christi ist, daß er fähig und willig war, das zu tun, was er nach Phil. 2, 7-8 im Gehorsam getan hat: er «entäußerte», er «erniedrigte» sich selbst – indem der Mensch an diesen Armen glaubt, sich in ihm gerechtfertigt findet, wird auch sein Glaube zu einer Armut, zu einem menschlichen Nachvollzug dieser göttlichen Bewegung nach unten – zu einer menschlichen Nachbildung der Existenz dessen, der nach Jes. 53, 2 war «wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich», der «weder Gestalt noch Schönheit hatte, daß wir nach ihm geschaut, kein Ansehen, daß er uns gefallen hätte» – zu einer menschlichen Nachahmung dessen, was Gott in diesem Einen für den Menschen getan hat. Nicht daß er damit seinerseits etwas für ihn wollte und täte! Nicht daß der Glaube den Menschen etwa deshalb rechtfertigte, weil es in ihm zu diesem Nachvollzug, dieser Nachbildung, dieser Nachahmung kommt, weil er so arm ist, weil er in der Gestalt jener Demut, in seiner Gestalt als leere Hand, leeres Gefäß und also als «getroste Verzweiflung» eine Analogie Jesu Christi ist! Er wird ja als menschliche Daseinsform, Tat und Erfahrung immer nur seine tief unvollkommene Entsprechung, er wird ihm immer gerade nur in größter Unähnlichkeit ähnlich sein und dem Menschen schon deshalb keinen Ruhm und kein Verdienst eintragen. Und wie wäre er Glaube, wenn er nicht gerade der Verzicht auf allen und so auch auf diesen Ruhm und Verdienst wäre, auch auf einen allfälligen Glanz seiner Armut, wenn er auch nur einen Augenblick auf sich selbst als dieses Abbild, statt auf sein Urbild selber schauen, irgend ein Vertrauen auf dieses, statt alles Vertrauen auf jenes setzen würde? Denn wäre er auch als demütiger Gehorsam aufs Höchste vollkommene Analogie, so hätte er, da er mehr als Analogie doch nicht sein kann, doch so wenig eigene
-- 711 --
Subsistenz und Kraft, wie ein Schatten an der Wand im Verhältnis zu der Figur, die er abschattet. Nur das kann nicht geleugnet werden: daß der rechtfertigende Glaube faktisch eine konkrete Entsprechung zu dem ist, an den er glaubt, und daß er, wenn er das nicht wäre, der rechtfertigende Glaube nicht wäre. Ist es keine bloße Redensart, daß der Mensch im Glauben in der Geschichte Jesu Christi seine eigene, seine Sünde in ihm gerichtet, sein Recht in ihm aufgerichtet, seinen Tod in ihm getötet und sein Leben in ihm geboren findet, in seiner Gerechtigkeit sich selbst für gerechtfertigt halten darf, weil sie seine eigene Gerechtigkeit ist, ist sein Glaube sein reales Ergreifen seines realen Seins in Christus – dann ist eine Entsprechung dieses seines Seins in Christus im Bereich seines eigenen, von jenem noch zu unterscheidenden Seins, seines Seins im Fleische und also seines Wandelns im Glauben einfach unvermeidlich. Die große Demut des Sohnes Gottes muß und wird sich in der kleinen Demut des an ihn glaubenden Menschen ausprägen, sein Glaube wird durch sie gezeichnet sein. Glaubt er an ihn, vertraut und verläßt er sich auf ihn als auf den, der an seine Stelle getreten ist und für ihn lebt, dann heißt das doch, daß Jener es über ihn gewonnen hat, daß er Jenem gehorsam geworden ist. Glauben und also realisieren, daß er für uns lebt, heißt (in aller Anspruchslosigkeit, aber unweigerlich) mit ihm leben. Wären wir ihm nicht gehorsam geworden, wie könnten und würden wir dann auf ihn vertrauen, uns auf ihn verlassen, wie würden wir dann glauben? Sind wir ihm aber gehorsam geworden, was kann dann Anderes geschehen, als daß uns eben die göttliche Demut, in der Jesus Christus der gerechte Mensch ist, Vorbild ist, nach dem wir uns, indem wir an ihn glauben, zu richten haben?
Hier wird jedenfalls eine Sparte der unter dem besonderen Gesichtspunkt der Versöhnung darzustellenden theologischen Ethik ihren Ausgangspunkt nehmen müssen. Von hier aus blicken wir aber auch bereits hinüber auf das zweite Feld der Versöhnungslehre selber, auf welchem der Lehre von der Rechtfertigung die Lehre von der Heiligung gegenüberzustellen sein wird. Wir halten darum an dieser Stelle inne. Es mußte aber, gerade indem wir in der Christologie die Krone der Rechtfertigungslehre berührten, schon hier auch das gesagt sein, daß gerade der rechtfertigende Glaube, und dieser gerade in seiner Leerheit und Passivität, auch diesen Charakter höchster Fülle und Aktivität trägt, und ohne ihn der rechtfertigende Glaube nicht wäre: den Charakter, der ihm darum eignet, weil Jesus Christus, der sein Gegenstand ist, nach Heb. 12, 2 auch sein Anfänger und Vollender und also doch wohl auch sein Gestalter ist.
Man kann die Christologie, d. h. den Verweis auf Jesus Christus als den Gegenstand und Inhalt – und nun also auch als die gestaltende Norm – des rechtfertigenden Glaubens wohl die Krone der Rechtfertigungslehre nennen. Es könnten darum die Begriffe «Rechtfertigung» und «Glaube» in ihrer Zusammengehörigkeit und Korrespondenz als die beiden Endpunkte der Basis einer gotischen Konstruktion bezeichnet werden, von der aus die Strebepfeiler oder Strebebogen erst parallel, dann konvergierend in die Höhe schießen,
-- 712 --
um sich endlich an einem Scheitelpunkt und Schlußstein zu treffen, in ihm zur Ruhe zu kommen, ihren Halt zu finden und damit ihrerseits Sinn als Träger des Gewölbes zu bekommen, das doch in einem vollkommenen Bauwerk dieser Art viel mehr über diesen Trägern zu schweben, als von ihnen getragen zu werden scheint. Für die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, die ja wie alle Lehren notwendig etwas von der Art einer Konstruktion haben muß, mag der Vergleich angemessen sein. Und es wird dann insbesondere jenes Schweben des Gewölbes (d. h. der intendierten Wahrheit Gottes) über den Strebepfeilern und dem Schlußstein, als tertium comparationis nicht genug betont werden können. Auf die in solcher Konstruktion dargestellte Sache selbst gesehen, wird man sich aber darüber klar sein müssen, daß Jesus Christus in dieser Angelegenheit nicht das letzte, sondern das erste Wort, nicht die Krone, sondern der Grund (nach 1. Kor. 3, 11 das θεμέλιον) des Ganzen ist. In ihm fängt Alles an, von ihm kommt Alles her, was als Wirklichkeit und Wahrheit der Rechtfertigung und des Glaubens und ihres Verhältnisses untereinander zu bedenken ist. In ihm selbst geschieht der Beweis des gerechtfertigten Menschen auf der einen Seite, und auf der anderen ist es wiederum er selbst, der es im Glauben als dem Erkennen und Ergreifen der Rechtfertigung über den Menschen gewinnt. Er ist hier zugleich ontisches und noetisches Prinzip: die Wirklichkeit und die Wahrheit der Rechtfertigung und des Glaubens.
So bezeugt sich der Sachverhalt in dem biblischen Dokument, das hier als Quelle und als Kriterium einzigartige Bedeutung hat: im Galaterbrief, dessen didaktische und polemische Wucht, dessen Geheimnis eben in der Strenge besteht, in der Paulus über die Rechtfertigung und über den Glauben nicht nur im Blick auf Jesus Christus hin, sondern von Jesus Christus her gedacht und geredet hat. Wir beschließen unsere Darstellung der Relation dieser Begriffe und damit unsere ganze Darstellung der Rechtfertigungslehre mit einigen Hinweisen auf diese sachliche Mitte des Galaterbriefes: in der Meinung, daß alle Lehre von der unerschöpflichen Wahrheit und Wirklichkeit der Rechtfertigung – soll sie kein «anderes», sondern das eine Evangelium darstellen – nicht nur im Hinweis auf diese Mitte schließen, sondern immer wieder von dieser Mitte her sich erneuern müssen wird.
Zunächst einige Antworten auf die Frage: Wer ist Paulus selbst, der sich in diesem Brief so bestimmt als der Verkündiger des einen Evangeliums, neben dem es kein anderes gibt, hinzustellen wagt und offenbar hinstellen muß? Wir stoßen sofort am Eingang (1, 1) auf die schroffe Kontrastierung: er ist Apostel, menschlicher Täter dieses menschlichen Werkes, menschlicher Verkündiger dieses menschlichen Wortes, indem er «nicht von Menschen, nicht durch einen Menschen» – offenbar auch nicht durch sich selbst – dazu gemacht ist, sondern «durch Jesus Christus und Gott den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat». Als von Menschen oder durch einen Menschen berufen, beauftragt, legitimiert könnte und müßte er wohl eine andere Rechtfertigung verkündigen. Weil Jesus Christus lebt, weil er sein Gesandter ist, darum muß er die allein in ihm geschehene Rechtfertigung und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben an ihn verkündigen. Denn wer ist Jesus Christus? Er ist (1, 4) der, «der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben hat, um uns der gegenwärtigen bösen Welt zu entreißen nach dem Willen Gottes unseres Vaters». Ihm, diesem für aller Menschen Sünden, zu ihrer Hinwegnahme und so zu ihrer aller Errettung Dahingegebenen ist Paulus verpflichtet; durch seine Offenbarung und durch sie allein ist er unterrichtet (1, 12). Denn das ist das Ereignis seiner Berufung, in welcher er seine ewige Erwählung erkennt, der er sich also ebenso wenig entziehen kann, wie er aufhören könnte, er selbst zu sein: es gefiel Gott (1, 15 f.), diesen, seinen Sohn in ihm zu offenbaren, ihn zum Zeugen jenes Lebendigen zu machen, in dessen Dahingabe die Menschen von ihren Sünden befreit und so errettet sind – so ihn selbst zum Glauben, nämlich zum Glauben an diesen Lebendigen, zur πίστις Χριστοῦ Ἰησοῦ und damit zur Erkenntnis der wahren und wirklichen Rechtfertigung des Menschen zu erwecken: damit sofort auch zur Erkenntnis der Unmöglichkeit einer Rechtfertigung ἐξ ἔργων νόμου
-- 713 --
(2, 16). Durch sein, dieses Lebendigen Gesetz ist er dem «Gesetz» – dem Irrtum einer Rechtfertigung des Menschen durch die Erfüllung eines anderen als eben dieses Gesetzes – gestorben, um nun für Gott leben zu dürfen. In seiner Kreuzigung ist er, der Mensch, der sich auf jenem unmöglichen Weg selbst rechtfertigen wollte, gekreuzigt und also beseitigt und abgetan worden, ist es ihm unmöglich gemacht worden, jenen unmöglichen Weg fernerhin begehen zu wollen (2, 19). Das heißt aber: daß das Leben Jesu Christi sein wahres und wirkliches Leben geworden ist, sein menschliches Leben an sich und als solches aber, sein ζῆν ἐν σαρκί, gerade nur noch sein Raum und seine Gelegenheit zum Glauben sein, gerade nur noch als sein Leben im Glauben an ihn gelebt werden kann: «an den Sohn Gottes, der mich geliebt, der sich selbst für mich dahingegeben hat» (2, 20). Die Brücke hinter ihm ist abgebrochen. Die Schiffe, auf denen er einen «Weg zurück» antreten könnte, sind verbrannt. Zu einem anderen Leben hat er keinen Boden, keine Luft, kein Licht mehr: würde ein solches, würde ein ferneres Suchen nach einer «Rechtfertigung durch das Gesetz» doch bedeuten, daß er die Gnade Gottes von sich stieße, daß er damit rechnete, Christus könnte umsonst gestorben sein, daß er also gerade das wahre und wirkliche Gesetz, unter dem er steht, übertreten würde. Das kann er nicht tun. Daran verhindert ihn jener Lebendige, seine Offenbarung, die Identität seiner Gegenwart mit seiner eigenen. Er kann sich seinem Gesetz nicht entziehen. Eben darum bleibt ihm gerade nur das Eine übrig: im Glauben an ihn zu leben. Eben darum kennt er (6, 14) keinen anderen Ruhm als den, den er im «Kreuz unseres Herrn Jesus Christus» hat, «in welchem mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt». Will sagen: in und mit der Kreuzigung Christi ist ihm eine auf ihre Selbstrechtfertigung angewiesene und eine solche Selbstrechtfertigung unternehmende Menschheit und ist er selbst für diese Menschheit nicht-existent geworden. Was er damit preisgegeben, was ihn dieses Dahintenlassen dieser ganzen Welt gekostet hat – daß es schon einer Kreuzigung, und zwar der Kreuzigung Jesu Christi, bedurfte, um ihn diesen Preis bezahlen zu lassen, vielmehr: für ihn zu bezahlen – das ermißt man aus der Stelle 1, 13-14, in der er seine Vergangenheit in ihrer ganzen Stattlichkeit in Erinnerung ruft: seinen Wandel im Judentum, sein Verfolgen und Zerstören der Gemeinde Gottes, die Auszeichnung, die er sich gerade dadurch vor vielen seiner Alters- und Volksgenossen erworben hatte, seine Existenz als ganz besonderer Eiferer (ζηλωτής) für die Überlieferungen der Väter. Er war schon zuhause in jener Welt; sie war schon die seinige. Ein Anderer als Jesus Christus – eben der, den er damals verfolgte – hätte ihn dort nicht entwurzeln können. Aber eben durch ihn ist ihm das widerfahren, was er 1, 15 f. beschrieben hat. Und auch das Moment der imitatio Christi bleibt nicht verborgen: «Ich trage die Malzeichen (στίγματα ) Jesu an meinem Leibe» (6, 17). Er ist sein Gezeichneter. Er kann sich keinem Menschen gefällig machen: täte er es, so würde er Christi Knecht nicht sein (1, 10). Das ist Paulus nach dieser seiner Selbstdarstellung: das die Notwendigkeit, in der er als Apostel gerade das sagen muß, was er im Galaterbrief sagt. Er sagt es nicht, weil es ihm so paßt oder weil die Konsequenz seiner Theologie es so fordert, sondern weil er sich in der Gewalt Jesu Christi befindet.
Ihm gegenüber die Gemeinden in Galatien. Der Ernst der Situation kündigt sich darin an, daß Paulus es 1, 2 unterlassen hat, sie ausdrücklich als Gemeinden Gottes oder Christi anzureden. Die Fortsetzung des Briefes zeigt doch unzweideutig, daß er nicht daran gedacht hat, ihnen diesen Charakter abzusprechen. «Durch die Gnade Jesu Christi» (1, 6) hat Gott sie ebenso berufen wie ihn selber. Jesus Christus der Gekreuzigte ist ihnen vor Augen gemalt worden (3, 1), sodaß Alles, was Paulus von dessen Gewalt über ihn selber sagt, von ihnen als seine Gewalt auch über sie anerkannt werden müßte. «Ihr alle seid Kinder Gottes durch den Glauben an Christus Jesus», wird ihnen (3, 26) vorbehaltlos zugesagt. Sie wurden auf ihn getauft, sie haben ihn «angezogen» (3, 27); sie gehören ihm (3, 29; 5, 24). Paulus ist des Alles Zeuge: sie haben ihn ja einst aufgenommen nicht nur wie einen Engel Gottes – Paulus ist im Galaterbrief, wie aus 1, 8 und 3, 19 hervorgeht, auf die Engel nicht besonders gut zu sprechen – sondern wie Jesus Christus selber (4, 14): eine Wendung, die in seiner Sprache schwerlich nur einen Höchstgrad von menschlicher
-- 714 --
Herzlichkeit und Ehrerbietung bezeichnet, sondern darüber hinaus den Ernst, in welchem sie ihn seiner Sendung entsprechend aufnahmen: entsprechend jenem «Ich lebe, aber nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir» (2, 20). «Ihr liefet gut», kann er ihnen auch sonst bezeugen (5, 7). Er hat das Alles nicht für ungeschehen gehalten, nicht ausgewischt. Er behandelt die Galater nicht als Renegaten. Sondern wenn er angesichts der in Galatien entstandenen Situation allerdings so etwas wie eine Regeneration dieser Gemeinden für unumgänglich hält, sich also (4, 19) mit einer Frau vergleicht, die um ihr schon geborenes Kind noch einmal Geburtsschmerzen erleiden muß, so geht es doch nur darum, daß Christus wieder unter und in ihnen «Gestalt» (μορφή ) gewinne: ihr Glaube wieder die Form, in der er der Glaube an Jesus Christus und also der rechtfertigende Glaube allein sein kann. Die Gefahr, in der er sie sieht, ist schrecklich: er sieht sie, von denen von Christus her alles jenes Positive zu sagen ist, einem Zauber verfallen (3, 1), durch den nicht nur Einiges, sondern Alles in Frage gestellt ist. Er fürchtet, er möchte vergeblich an ihnen gearbeitet haben (4, 11). Es gibt aber keine Stelle im Brief, aus der hervorginge, daß er sie fallen gelassen, daß er aufgehört hätte, sie von Christus her zu sehen und anzureden, in der also sein Glaube an Gottes den Menschen rechtfertigende Tat nicht auch ihnen gegenüber zum Tragen käme. Eben in diesem Glauben hält er sie vielmehr fest. «Ich habe im Herrn das Vertrauen zu euch, daß ihr nicht auf etwas Anderes sinnen werdet» (5, 10). Man wird auch darin eine Folge seiner nicht von Menschen, sondern von Jesus Christus selbst vollzogenen Einsetzung zum Apostel, seines festen Standes in seiner Erwählung und Berufung sehen müssen. Wäre sein Amt eine Sache seiner eigenen Vollmacht, dächte und redete er als Parteigänger oder Parteihaupt, dann könnte er die galatischen Gemeinden jetzt fallen lassen, anathematisieren. Er kann das nicht tun, weil sie eben nicht «seine» Gemeinden sind, an denen er sich freuen oder auch irre werden, die er als solche anerkennen oder auch verwerfen könnte, sondern trotz allem Gemeinden Jesu Christi. Nicht sie, sondern ihre Verführer hat er darum 1, 8-9 unter jenes Anathema gestellt. Er hat sie «unverständige» Galater genannt, er hat aber (3, 15; 4, 12. 31 ; 5, 13; 6, 1) nicht aufgehört, sie ἀδελφοί zu nennen. Man könnte wohl fragen, ob diese der Treue Gottes Gefolgschaft leistende Treue des Apostels nicht mindestens ebenso deutlich für das spricht, was er in dem Brief vertritt, als Alles, was er ausdrücklich dazu gesagt hat!
Nun ist aber der Glaube, in welchem er sie und auf welchen er auch sie selbst anredetin dem einen Vers (2, 16) wird das nicht weniger als dreimal gesagt –, die πίστις Χριστοῦ und als solche – im selben Vers wird wieder dreimal auch diese Verbindung vollzogen – der Glaube, in welchem der Mensch seine Rechtfertigung erkennt und ergreift: seine Rechtfertigung, die nur in diesem Glauben und – auch das wird 2, 16 dreimal festgestellt – nicht im Tun der Werke des Gesetzes erkannt, ergriffen, realisiert werden kann. Warum eigentlich nicht? Nicht etwa darum, weil der Glaube als solcher besser wäre als diese Werke. Es gibt im ganzen Galaterbrief kein Wort des Lobes des Glaubens als solchen und auch keines, in welchem die Werke als solche abgewertet würden. Das Begründende und Beherrschende von den drei Faktoren: Glaube – Rechtfertigung – Christus ist offenkundig der letzte. Vom ζητοῦν δικαιωθῆναι ἐν Χριστῷ ist darum gleich darauf (2, 17) die Rede. In Jesus Christus ist der Segen Abrahams auf die Heiden gekommen (3, 14). Als ihm Angehörige sind sie sogar direkter Samen Abrahams und Erben laut der (ihm gegebenen) Verheißung (3, 29). Ihn, seinen Sohn, hat Gott in der Fülle der Zeit gesandt, vom Weibe geboren, dem Gesetz unterworfen, damit er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit sie die υἱοθεσία empfangen sollten (4, 4 f.). Er hat das getan: uns «losgekauft vom Fluch des Gesetzes, in dem er selbst ein Verfluchter wurde, wie geschrieben steht: Verflucht ist Jeder, der am Holz hängt» (3, 13). Indem er das getan hat, hat er aber uns «zur Freiheit befreit» (5, 1), sind also wir zur Freiheit berufen (5, 13), haben wir schon Freiheit (2, 4). Weil er sie für uns geschaffen, weil er uns zu ihr berufen, weil sie in ihm unsere Freiheit ist, darum gilt der allgemeine Satz 2, 16: «Aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtfertigt werden» – nicht wegen der Schwachheit des Fleisches, das diese Werke nicht zu erfüllen vermag, sondern wegen der Vollkommenheit, in der
-- 715 --
Christus sie erfüllt hat. Und wieder darum gilt der große Imperativ des Galaterbriefes: «Stehet fest und lasset euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen!», (5, 1) – nicht weil Freiheit an sich und als solche eine schöne und gute Sache. ist (an sich und als solche könnte sie ja nach 5, 13 auch die Freiheit des Fleisches sein), sondern weil sie die uns von ihm erworbene Freiheit ist. Und in was kann sie sachlich bestehen als in der Freiheit zum Glauben an ihn unter Unterlassung aller auf eine Selbstrechtfertigung des Menschen abzielende Unternehmungen in der einen einzigen Entscheidung des Vertrauens auf ihn und so im Empfang des Segens Abrahams, so im Leben in der Kindschaft Gottes, so im Eintritt in den Stand des Erben und so in der Teilnahme an der göttlichen Rechtfertigung. Sie ist die Freiheit derer, in deren Herzen der Geist des Sohnes wohnt, die eben darum selber nicht mehr Sklaven, sondern Söhne sind, Gott als Vater anrufen dürfen (4, 6 f.). Aus dem Verschluß aller Menschen unter die Sünde gibt es einen Ausweg, aber gerade nur diesen einen: die Verheißung der πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ (3, 22). Als Einer, der diese Verheißung empfangen und also einfach glaubt, redet Paulus die Galater an als solche, die sie auch empfangen haben, die also auch einfach glauben dürfen. «Die nach dieser Regel (τῷ κάνόνι τούτῳ) wandeln, über die komme Friede und Barmherzigkeit – ja, über sie als über den Israel Gottes!» (6, 16).
Eben von dieser Regel abzuweichen, eben diese von Christus gewonnene und in ihm zu findende Freiheit, und also den rechtfertigenden Glauben an ihn preiszugeben, ist die Versuchung, in die die galatischen Gemeinden durch die unter ihnen aufgetretene und erfolgreich gewordene Irrlehre geführt worden sind. Es geht nach dem, was im Brief sichtbar wird, und nach dem, was Paulus ausdrücklich sagt, nur um «ein wenig Sauerteig» (5, 9): nur um eine gewisse Modifikation der christlichen Haltung und Lehre, die sich formal als bloße Äußerlichkeit darstellen konnte, die aber faktisch – wie «ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert» – das Ganze auf einen anderen Boden stellen, der ganzen Existenz dieser Gemeinden, dem ganzen Glauben der galatischen Christen einen anderen Sinn, eine andere Richtung geben mußte. Ganz konkret erfahren wir nur zwei Dinge: Es sollte die Beschneidung (5, 3. 6. 11; 6, 13. 15) und es sollte die Beobachtung der jüdischen Feiertage (4, 10) diesen Heidenchristen zur Pflicht gemacht werden. Mit anderen Worten: sie sollten sich dazu anhalten lassen, ihrem christlichen Glauben und Leben die Gestalt einer Variante der jüdischen Gesetzesreligion zu geben. Sie sollten sich durch die Erfüllung dieser Werke auf den Boden des Gottesbundes und so in den Bereich der göttlichen Rechtfertigung des Menschen begeben. Es sollte ihr Glaube an Jesus zu einer Besonderheit im Rahmen eines durch das alttestamentliche Gesetz bestimmten Heilssystems werden, nur innerhalb dieses Systems, unter Voraussetzung der Erfüllung seiner Forderungen, sich entfalten dürfen. Nicht um seine und des Evangeliums Beseitigung sollte es gehen, wohl aber gewissermaßen um seine Domestizierung: um seine Einordnung in das bekannte, natürliche Denken des Menschen über sein Verhältnis zu Gott als eine Sache, in der er sich selbst helfen könne und müsse – über Gottes Gnade, die er sich in bestimmten Observanzen zu verschaffen und zu sichern habe. Es ging um so etwas wie den Anschluß der christlichen Gemeinde an die große Kontinuität der Religionsgeschichte, in der das Judentum nicht ohne Anpassungsfähigkeit gegenüber allerhand lokalen und geschichtlichen Besonderheiten anderen Ursprungs unter Berufung auf Gottes ihm anvertraute Offenbarung das letzte Wort zu sprechen sich bewußt war. Und es ging, vom Glauben an das Evangelium her gesehen, wohl nur um dessen notwendige und – eben als Sache einer äußeren Form – nicht tragisch zu nehmende Ergänzung, Konsolidierung und Einrahmung durch eine conditio sine qua non, innerhalb derer dann immer noch gemächlich, eifrig und tiefsinnig über Gottes Gnade geredet werden konnte. Dieser Vorschlag hatte den galatischen Gemeinden eingeleuchtet. Sie hatten – und das war es, was Paulus 3, 1 f. ihren «Unverstand» nannte – den prinzipiellen Gegensatz zwischen der Reformation, auf die sie sich da einließen, und ihrer Begründung als christliche Gemeinden, der von ihnen aufgenommenen Verkündigung des Apostels nicht bemerkt. Sie hatten diese Umstellung für notwendig und auch für möglich gehalten. Sie
-- 716 --
dachten vermutlich (wie einst die Israeliten, als ihnen Aaron das Kalb machte!), sich gerade damit auf der Bahn eines gesunden kirchlichen Fortschrittes zu befinden: im natürlichen Übergang von der himmlischen Offenbarung zu deren irdischer Pflege und Gestaltung, vom Ereignis zur Institution, vom Geist zu dessen in dieser Welt haltbaren und brauchbaren Form.
Die denkwürdige Überraschung, die Paulus ihnen in seinem Brief bereitete, war die Aufdeckung des prinzipiellen Widerspruchs, in den sie sich damit hatten verwickeln lassen: zu ihm, dem Apostel nicht nur, sondern zu sich selbst: zu ihrer Begründung und Existenz als christliche Gemeinden, mehr noch und vor allem: zu Jesus Christus, den sie ja in dem Allem nicht verleugnen, sondern in ihrer Weise bekennen wollten, faktisch aber nicht bekannten, sondern verleugneten. Sie haben sich verwirren lassen (5, 10), haben sich auf halten lassen, der Wahrheit nicht zu gehorchen, ruft er ihnen (5, 7) zu. Sie sind im Begriff, was sie im Geist begonnen haben, im Fleisch zu vollenden (3, 3). Nicht also, wie sie wohl träumten, in einer notwendigen und heilsamen Formgebung des Geistes zu vollenden, sondern in der Entfremdung von ihm, in einem Zurückfallen in geistlose Menschlichkeit! Nicht in einer angemessenen und gebotenen Pflege und Gestaltung des Himmlischen, sondern in dessen Verwandlung in ein Irdisches: nicht (als ob es dessen bedürfte!) in einer Einfügung des Evangeliums in den Zusammenhang mit Gottes mit Abraham geschlossenem Bund, sondern – das war das Härteste, was Paulus ihnen 4, 3 f. tatsächlich gesagt hat – in einem Abfall gerade vom Abrahamsbund, in einem Rückfall ins Heidentum, in die Sklaverei der Naturmächte, der στοιχεῖα τοῦ κόσμου, deren Dienst sie durch die Verkündigung des Evangeliums und indem sie ihm Glauben schenkten, entrissen waren, in einem Verrat an der dem Abraham verheißenen und ihnen als seinen Kindern zugesagten, für sie schon angebrochenen καινὴ κτίσις, von der her die Frage Beschneidung oder Nichtbeschneidung und die sämtlichen sie bewegenden Ordnungsfragen überhaupt nicht entstehen können (6, 15). Zum Israel Gottes wollen sie sich auf den von ihnen eingeschlagenen Weg machen, und gerade als Israel Gottes verleugnen sie sich auf diesem Wege. Das ist euer kirchlicher Fortschritt! müssen sie sich von Paulus sagen lassen.
Wogegen und wofür streitet er mit seiner Anklage, mit seinem so dringenden Appell, mit seiner so unbedingt vorgetragenen Forderung sofortiger und gänzlicher Umkehr und also radikaler Absage an jenen ganzen Weg? Gegen eine schlechtere für eine bessere Heilsordnung, Lebensordnung, Religiosität, Theologie, Kirchlichkeit? Das ist der Außenaspekt der Sache, den man natürlich auch sehen und würdigen muß. In der Sache aber geht es schlicht darum, daß er der vermeintlichen Reformation, die sich in Galatien abspielt – indem er zugleich für und gegen die galatischen Gemeinden redet – Jesus Christus selbst entgegenhält: Jesus Christus, der ihn, der aber auch sie berufen, Jesus Christus als seine und ihre wirkliche, aber auch alleinige Gerechtigkeit, der man gerade nur im Glauben an ihn und auf gar keinen Fall und in keinem Sinn in einer vom Menschen als Gehorsam gegen Gottes Gesetz entdeckten, stilisierten und systematisierten Form des Glaubens gerecht und teilhaftig werden kann. Die «neue Schöpfung» allein zählt. Die neue Schöpfung ist aber in Christus real und nicht anderswo. Und also kann das, was allein zählt, vom Menschen nur im Glauben an ihn erkannt, ergriffen und realisiert werden, nicht anderswie. Noch einmal: nicht weil der Glaube als solcher besser ist als die Beschneidung und die sonstigen Werke des Gesetzes. Aber darum, weil Jesus Christus und also des Menschen wirkliche Rechtfertigung nur im Glauben erkannt, ergriffen und realisiert werden kann. Und so ist des Paulus entscheidendes Argument gegen die galatische Kirchenreformation dies: daß die Überredung (die πεισμονὴ ), der die Galater zum Opfer gefallen sind, nicht von dem kommt, der sie berufen hat (5, 8). Indem sie seiner Stimme gehorchten, konnten sie nicht auf jene Sache eingetreten sein. «In Christus Jesus» vermag (ἰσχύει ) weder die Beschneidung noch die Vorhaut, weder das Judentum noch das Heidentum – kein -tum und kein -ismus! – etwas, sondern nur der Glaube, der dann in der Liebe wirksam sein wird (5, 6). Im Glauben stark und also an Christus
-- 717 --
glaubend, konnten sie auf die Diskussion jener Verbesserung des Evangeliums und des Glaubens gar nicht eintreten, können sie sie nur abbrechen, alle in jener Richtung getanen Schritte sofort rückgängig machen. Sie konnten und können sie aus der von Jesus Christus für sie gewonnenen Freiheit nur herausführen und hinein in die Knechtschaft, ihr Leben in der Gerechtigkeit nur zunichte machen. Hätten sie recht, dann wäre Jesus Christus umsonst gestorben (2, 21); mehr noch: sie müßten ihn, der ihnen in seinem Tod jene Freiheit erworben, folgerichtig als einen «Diener der Sünde» anklagen und verwerfen (2, 17), sich also auf die Seite derer stellen, die ihn gekreuzigt haben. Sicher würde er ihnen, wenn sie auf jenem Weg verharren wollten, gar nichts nützen (5, 2), sicher könnten sie ihn nur losgelöst von ihm, nur in Aufhebung ihres Seins in ihm und seines Seins in ihnen, weiter begehen (5, 4). Man bemerke, daß das Moment der imitatio sich auch nach dieser Seite bemerkbar macht: das Ärgernis des Kreuzes, die Bedrohung mit Verfolgung, unter der die, die an den Gekreuzigten glauben, immer stehen werden, würde denen, die jenen Weg gehen, erspart bleiben (5, 11; 6, 12): eben weil dieser Weg im Grunde (und dann gewiß auch praktisch bemerkbar) nichts Anderes bedeuten könnte als eine neue Anpassung an die Welt: die arge Welt, aus der wir durch Jesus Christus herausgerissen sind (1, 4). Ein in das System menschlicher Selbstrechtfertigung eingebautes, ein zur «Religion» gewordenes, ein domestiziertes Christentum hat noch nie Verfolgung auf sich gezogen! Paulus weiß und rechnet damit, daß die galatischen Gemeinden das Alles nicht wollen. Aber eben darum hält er ihnen vor, daß es um nichts weniger als darum geht: nicht um Evangelium oder Gesetz, nicht um Glauben oder Werke, nicht um ihn selbst und die Irrlehrer, sondern um Christus oder Nicht-ChristusLuther hat hier kühnlich und sicher nicht mit Unrecht kontrastiert: um Christus oder Belial! – und damit ums Ganze, damit allerdings um das Evangelium und um den Glauben, darum um die Gerechtigkeit. Sie kann, weil sie des Menschen in Christus verborgene Gerechtigkeit ist – nur im Glauben des Christen Hoffnung und als solche erwartet werden (5, 5).
Die Stärke der reformatorischen Auslegung der «Rechtfertigung» allein durch den Glauben bestand, mit einem Wort gesagt, darin, daß sie den lebendigen Jesus Christus – seine Gerechtigkeit als des Menschen Gerechtigkeit – als den roten Faden des Galaterbriefes und von da aus dann auch der ganzen Heiligen Schrift gesehen und ans Licht gebracht hat. Das ist es, was man von so vielen älteren und neueren Auslegungen dieser Sache nicht sagen kann. Darum haben wir uns hier in der Substanz unseres Verständnisses dieser Sache entschlossen auf ihren Boden stellen müssen.
Wir schließen darum mit dem kommentarlosen Zitat eines Stückes aus dem Heidelberger Katechismus, von dem man wohl sagen darf, daß es einen für die Erkenntnis und das Bekenntnis aller Reformationskirchen des 16. Jahrhunderts repräsentativen Charakter hat:
60. Frag.
Wie bistu gerecht für Gott?
Antwort.
Allein durch waren glauben in Jesum Christum Also: daß ob mich schon mein Gewissen anklagt daß ich wider alle gebott Gottes schwerlich gesündiget und derselben keines nie gehalten hab auch noch jmmerdar zu allem bösen geneigt bin: doch Gott on alle meine verdienst auß lauter gnaden mir die vollkommene gnugthuung, gerechtigkeyt unnd heiligkeyt Christi schencket und zurechnet als hette ich nie keine sünd begangen noch gehabt und selbst allen den gehorsam volbracht den Christus für mich hat geleistet wenn ich allein solche wohltat aus glaubigem hertzen anneme.

-- 718 --
61. Frag.
Warumb sagstu daß du allein durch den glauben gerecht seyest?
Antwort.
Nicht daß ich von wegen der wirdigkeyt meines glaubens Gott gefalle: sondern darumb daß allein die gnugthuung gerechtigkeyt unnd heiligkeyt Christi meine gerechtigkeyt für Gott ist unnd ich dieselbe nit anderst denn allein durch den glauben annemen und mir zueignen kann.
64. Frag.
Macht aber diese lehr nicht sorglose und verruchte leuth?
Antwort.
Nein: denn es unmöglich ist daß die so Christo durch waren glauben sind eingepflantzt nicht frucht der danckbarkeyt sollen bringen.